# taz.de -- Buch über Eugenik in Deutschland: „Unser Blut komme über euch!�… | |
> Die US-amerikanische Historikerin Dagmar Herzog hat eine | |
> Geistesgeschichte der Eugenik der letzten 150 Jahre in Deutschland | |
> vorgelegt. | |
Bild: Einübung in Eugenik: Eröffnung der Ausstellung „Erbgesund – erbkran… | |
Die Lektüre von Dagmar Herzogs „Eugenische Phantasmen. Eine deutsche | |
Geschichte“ ist stellenweise nahezu unerträglich. Das hat nichts mit der | |
Qualität des Buches zu tun – es handelt sich im Gegenteil um eine | |
brillante Studie –, sondern vielmehr mit dessen Themenstellung. | |
[1][Die New Yorker Historikerin] geht darin dem nationalsozialistischen | |
Genozid an Menschen mit Behinderung nach und kartiert dessen Vorgeschichte | |
ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert sowie Kontinuitäten bis in unsere | |
Gegenwart hinein. | |
Unerträglich ist die Lektüre zuweilen, weil Herzog anhand umfangreichen, | |
auch bildlichen Materials mit dokumentarischer Schärfe herausarbeitet, | |
welches unvorstellbare Grauen sich ereignet, wenn einer Gruppe Menschen ihr | |
Menschsein abgesprochen wird und die Ideologie einer „Nützlichkeit“ und | |
„Brauchbarkeit“ von Menschen dieser Dehumanisierung noch einen | |
pseudolegitimen Anstrich verleiht, der bis heute nicht gänzlich gebrochen | |
ist. | |
Alleinstellungsmerkmal von Herzogs Buch ist zum einen, dass sie den | |
„Euthanasie“-Genozid nicht isoliert und begrenzt auf die Jahre 1939 bis | |
1945 darstellt, sondern das dahinterliegende „eugenische“ Gedankengut in | |
gesellschaftliche Entwicklungen und Vorstellungsbestände einbettet, die in | |
beide zeitliche Richtungen weit darüber hinausreichen. | |
## Vorgeschichte zum NS-Massenmord | |
Die Abwertung und Entmenschlichung von Menschen mit Behinderung erweist | |
sich als tief in die kollektive DNA der modernen deutschen Gesellschaft | |
verstrickt und nicht bloß auf die Naziideologie beschränkt. | |
Zum anderen ist bemerkenswert, dass Herzog einen interdisziplinären Zugang | |
wählt, um sich den spiegelbildlichen Phänomenen von „Euthanasie“ (guter | |
Tod) und „Eugenik“ (gute Geburt) anzunähern. Sie greift Deutungs- und | |
Theoriebestände aus Philosophie, Soziologie und Psychologie auf, um das | |
Phänomen der Behindertenfeindlichkeit und seine obsessive Besetzung zu | |
rekonstruieren. | |
Die Vorgeschichte zum Massenmord der Nazis, die Herzog im ersten Kapitel | |
ausleuchtet, macht vor allem die Verwobenheit von eugenischem und | |
rassistischem Gedankengut deutlich. Der Topos der Nützlichkeit von Menschen | |
beherrscht die einschlägigen Diskurse des ausgehenden 19. Jahrhunderts und | |
schlägt sich nieder in Debatten über die Abgrenzung von brauchbarem und | |
unbrauchbarem Leben und dem Bestreben, letzteres zu vermeiden. | |
Obwohl Behinderungen in dieser Zeit vermehrt in sozioökonomisch schwachen | |
Milieus auftauchten und durch Infektionskrankheiten, schlechte | |
hygienische Zustände und Ernährungsmangel mitbedingt waren, lag der Fokus | |
nicht auf einer Verbesserung dieser Bedingungen, sondern Ärzte, Ökonomen | |
und Theologen interessierten sich mehr für die angebliche Bedrohung, die | |
von dieser biologischen „Minderwertigkeit“ für die Gesellschaft ausging. | |
## Rassismus und Antisemitismus | |
Diese Biologisierung bildet dabei eine direkte Parallele zu rassistischen | |
und antisemitischen Vorstellungen, die eine homogene deutsche „Rasse“ durch | |
abweichende oder „minderwertige“ Elemente gefährdet sahen. Gleichzeitig | |
waren diesen Deutungen patriarchalen Sittlichkeitsvorstellungen | |
eingeschrieben, indem Behinderung als Ergebnis eines ausschweifenden und | |
außerehelichen Sexuallebens von Frauen angesehen wurde. | |
Von enormer Wirkkraft für das Kippen von solchen rassehygienischen | |
Überlegungen zu konkreten Mordfantasien (und deren späterer Verwirklichung) | |
erwies sich ein 1920 publiziertes [2][Buch des Juristen Karl Binding und | |
des Psychiaters Alfred Hoche mit dem Titel „Die Freigabe der Vernichtung | |
lebensunwerten Lebens“]. | |
Die darin propagierte Idee, aus ökonomischen und emotionalen Gründen gelte | |
es, sich „lebensunwerten“ Lebens zu entledigen, stieß auf breite Zustimmung | |
in der Bevölkerung, an die die Nazis ab 1939 mit der sogenannten Aktion T4 | |
direkt anknüpfen konnten – zeitlich vor dem Einsetzen der Schoah, deren | |
technische „Umsetzung“, der Massenmord mittels des Giftgases Zyklon B, an | |
Menschen mit Behinderung erprobt wurde. | |
Interessanterweise widmet sich Herzog im zweiten Kapitel, das die Phase | |
unter dem Nationalsozialismus abbildet, nur indirekt den Tätern der | |
Ermordung von behinderten Menschen während der Aktion T4 und einer zweiten | |
dezentralen Tötungsphase zwischen 1941 und 1945. Stattdessen lässt sie | |
zunächst die Opfer der „Krankenmorde“ zu Wort kommen, etwa die Anklage | |
eines „Euthanasie“-Opfers, das bei seiner Deportation rief: „Unser Blut | |
komme über euch!“ | |
## Rechtfertigung der Eugenik | |
Herzog räumt hier auch auf mit einem langlebigen Mythos, dem zufolge die | |
Kirchen durch ihren Widerstand zur Beendigung der „Euthanasie“ beigetragen | |
hätten. Sie zeigt stattdessen auf, dass Theologen eifrig an einer | |
Rechtfertigung der Eugenik mitwirkten und sich vor allem Vertreter der | |
protestantischen Kirche und deren karitativer Institutionen komplizenhaft | |
bei Zwangssterilisationen und Tötungen verhielten. | |
Die Tragweite und Menschenverachtung der nationalsozialistischen Verbrechen | |
wird erst im dritten Kapitel thematisiert, das sich dem schwierigen Versuch | |
einer juristischen Verfolgung widmet. Eine wichtige Rolle spielte hier der | |
[3][Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer], dessen Bestrebungen, in | |
Anlehnung an die Auschwitzprozesse einen – noch größer angelegten – | |
Prozess zu den „Krankenmorden“ in Gang zu setzen, scheiterten. | |
Bezeichnenderweise reagierte ein Großteil der deutschen Gesellschaft in den | |
1960er Jahren unwillig auf Bauers Bemühungen, und seine 800-seitige | |
Anklageschrift verschwand zunächst in der Vergessenheit. | |
In den letzten beiden Kapiteln beschreibt Herzog die weiteren Entwicklungen | |
im Umgang mit „behinderten“ Menschen und das langsame Aufbrechen ihrer | |
Separierung vom öffentlichen Leben in Westdeutschland und der DDR. Obwohl | |
der „Antipostfaschismus“ der 1970er und 1980er Jahre dafür sorgte, ein | |
anderes Menschenbild zu etablieren, sind die titelgebenden „eugenischen | |
Phantasmen“ bis in unsere Gegenwart hinein spürbar. | |
## Rechtsextremismus heute | |
Das Nachwort von Herzogs Buch wirkt deswegen in manchen Zügen allzu | |
optimistisch – etwa wenn sie von einer steilen und beeindruckenden | |
Lernkurve seit dem „umwälzenden Perspektivwechsel“ der 1970er spricht oder | |
diagnostiziert, dass behindertenfeindliche Äußerungen von führenden | |
Vertretern der AfD auf „energische Zurückweisung“ stießen. | |
Rechtsextremistisch motivierte Angriffe auf Wohneinrichtungen für Menschen | |
mit Behinderungen wie etwa jüngst in Mönchengladbach und ein medizinisches | |
Vorsorgesystem, das auf eine Detektierung von genetischen Auffälligkeiten | |
und selektive Schwangerschaftsabbrüche angelegt ist, sprechen eine andere | |
Sprache. | |
Zum Verlernen eugenischer Phantasmen und einem Bekenntnis zu radikaler | |
Gleichwertigkeit menschlicher Differenz bietet Dagmar Herzogs Buch und | |
dessen Lektüre aber einen entscheidenden Schlüssel. Denn sie führt uns | |
zutiefst eindrücklich vor, dass entmenschlichende Denkfiguren und | |
Ideologien mörderische Konsequenzen haben und ein anderes Handeln deswegen | |
zuallererst bei einem radikal anderen Denken ansetzen muss. | |
13 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Geschichte-der-Psychoanalyse/!6003121 | |
[2] https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/varia/content/titleinfo/8796938 | |
[3] /Fritz-Bauer-Ausstellung-in-Braunschweig/!5818527 | |
## AUTOREN | |
Regina Schidel | |
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