# taz.de -- Erfolgreiche Doku über NS-Ärzte: Eugenik als Youtube-Hit | |
> Der Saarländische Rundfunk hat eine Doku über Verbrechen von NS-Ärzten | |
> herausgebracht. Sie wird ein unerwarteter Erfolg auf Youtube. | |
Bild: Klare Worte zur Jugend im NS-Deutschland: die Protagonistin Fatima Adam m… | |
Es ist ein Foto kindlicher Unschuld, das die junge Fatima Adam zeigt. Das | |
Mädchen, dessen lockiges Haar eine große Schleife ziert, hält ihren zwei | |
Jahre jüngeren Bruder im Arm. Ein knappes Jahrhundert später ist aus dem | |
Mädchen eine hochbetagte Frau geworden. Die Zeichen des Alters täuschen | |
jedoch nicht über die Klarheit der Worte, wenn Fatima Adam über ihre Jugend | |
im nationalsozialistischen Deutschland spricht. Nun endlich ist die | |
Gelegenheit, dazu. | |
„Auf Sie habe ich gewartet“, sagt Fatima Adam, als Mirko Tomic sie das | |
erste Mal anruft. Der Dokumentarfilmautor ist auf der Suche nach | |
überlebenden Zeitzeug:innen der NS-Eugenik und insbesondere der | |
Zwangssterilisationen in Nazideutschland. In der Recherche für seinen | |
Dokumentarfilm zur historischen Verantwortung der Ärzte im Saarland hatte | |
er sich an die letzten lebenden Empfänger:innen der Beihilfe für die | |
Opfer von Zwangssterilisation gewandt. | |
Nach dem Interview mit Fatima Adam entscheidet sich Tomic, das Material zu | |
dem 15-minütigen Kurzfilm „,Mischling 1. Grades' – Eine Zeitzeugin | |
berichtet“ aufzuarbeiten. Darin erzählt Adam ihre Geschichte. 1923 in | |
Wiesbaden geboren, ist sie das erste Kind ihrer deutschen Mutter und ihres | |
französischen Vaters, eines schwarzen Soldaten. Sie spricht von der großen | |
Liebe ihrer Eltern, die getrennt wird, als ihr Vater aus Deutschland | |
abgezogen wird. | |
Als Fatima Adam mit ihrem Bruder im August 1937 die Großeltern im | |
hessischen Weilburg an der Lahn besucht, klopft die Geheime Staatspolizei | |
an die Tür. Zwei Männer in schwarzer Uniform verfrachten das 14-jährige | |
Mädchen und ihren 12-jährigen Bruder in das städtische Krankenhaus in | |
Frankfurt-Sachsenhausen. | |
Adam erinnert sich an jedes Detail. Daran, wie man ihr aus Fuß, Finger und | |
Arm Blut entnimmt, um ihre „Rasse“ zu bestimmen. Isoliert von ihrem Bruder, | |
ihren Großeltern und der Mutter und klassifiziert als „Mischling 1. Grades“ | |
verbringt das Mädchen die folgenden Tage unter haftähnlichen Bedingungen. | |
## Weitergabe ihres Erbguts verboten | |
Dann werden die Geschwister mit einem Eingriff unfruchtbar gemacht, damit | |
in der menschenfeindlichen Logik des Nazi-Regimes die Weitergabe ihres | |
Erbguts ausgeschlossen sei. Nach der Operation leidet Adam an großen | |
Schmerzen. Ein Gutachten der medizinischen Johannes-Gutenberg-Universität | |
in Mainz wird später festhalten, dass den Krankenschwestern untersagt | |
worden war, den Kindern Schmerzmittel zu verabreichen. | |
Der Kurzfilm erzählt auch, wie Fatima Adam nach dem Krieg Erzieherin wird | |
und sich der Pflege von behinderten Kindern verschreibt. Wie sie ihnen | |
beibringen wird, sich zu verteidigen, wenn es darauf ankommt. | |
Schlüsselszenen der Erzählung bebildert der Film mit Comiczeichnungen von | |
Manon Scharstein in gedeckten Farben. | |
Die detaillierte Erzählung Adams, die Zeichnungen und der Verzicht auf | |
musikalische Untermalung schaffen eine Eindringlichkeit, die schwer | |
auszuhalten ist. Vier Monate nach dem Interview stirbt Fatima Adam. So ist | |
es ein Glück, dass ihre Geschichte im Film dokumentiert werden konnte. | |
## Eingebettet in den historischen Kontext | |
Das Porträt von Fatima Adam ist Teil einer größeren Recherche, deren | |
Ergebnisse Mirko Tomic in der halbstündigen Dokumentation [1][„NS-Ärzte: | |
Ihre Verbrechen, ihre Karrieren – Saarländische Mediziner und ihre | |
Unterstützer nach 1945“] zusammengefasst hat. Der für den Saarländischen | |
Rundfunk (SR) produzierte Film bettet das Einzelschicksal in den | |
historischen Kontext ein. Er zeigt, wie die Bewohner:innen von Heil- | |
und Pflegeanstalten zum Spielball einer entgleisten Medizin wurden und | |
porträtiert einige der „Verbrecher, die sich Ärzte nannten“. | |
NS-Ärzt:innen hatten im Saarland bis zu 2.400 Menschen unfruchtbar gemacht, | |
im gesamten „Dritten Reich“ waren es schätzungsweise 360.000 Eingriffe | |
dieser Art. Die meisten beruhten auf dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken | |
Nachwuchses“ und betrafen unter anderem Menschen, denen man „angeborenen | |
Schwachsinn“ attestierte. | |
In der Praxis habe man diese Diagnose selbst auf Gelegenheitsdiebe und | |
Mütter unehelicher Kinder ausgedehnt, so der Historiker Christoph Braß | |
gegenüber der taz. Braß ordnet auch in der Doku das Vorgehen der Ärzte ein. | |
Demnach sei die Sterilisation von Kindern französischer Besatzungssoldaten | |
auch nach damaligem Recht illegal gewesen. | |
## Eine Million Aufrufe | |
Nach der Erstausstrahlung der Doku im Oktober 2022 stellte der SR den Film | |
wie üblich auf seinen Youtube-Kanal. Dort erreicht die Produktion trotz | |
ihres regionalen Zuschnitts mittlerweile knapp eine Million Aufrufe. Damit | |
ist sie derzeit das erfolgreichste Angebot des SR auf Youtube. Von dem | |
Zuspruch sei der Sender selbst überrascht gewesen, so Filmemacher Tomic im | |
Gespräch mit der taz. | |
Vieles schien gegen diesen Erfolg zu sprechen: Die Doku ist konventionell | |
für das lineare Fernsehen produziert und widmet sich einem historischen | |
Nischenthema. Sie setzt auf sachliche Sprache, nüchterne | |
Interviewpartner:innen und hohe Informationsdichte und scheint damit | |
wenig in die Welt der sozialen Medien zu passen. Und dennoch schätzen die | |
Zuschauer:innen offenbar auch hier die Kernwerte des | |
öffentlich-rechtlichen Fernsehens. | |
Wie unberechenbar das Onlinepublikum für die Sendeanstalten noch immer ist, | |
zeigte zuletzt auch die [2][NDR-Doku „Deutsche Schuld“], die gezielt auf | |
den Onlineerfolg hin produziert und in sozialen Medien massiv beworben | |
worden war. Mit der Moderatorin Aminata Belli und ihrer persönlichen | |
Annäherung an die deutsche Kolonialzeit in Namibia hoffte man, deren junge | |
Follower:innenschaft zu erreichen. | |
Das gelang. Aber die Oberflächlichkeit der Produktion handelte dem NDR | |
Protestbriefe und Beschwerden an den Rundfunkrat ein, sodass sich der | |
Sender gezwungen sah, den Film offline zu stellen. | |
## Karriere unter dem NS-Regime | |
Dass es „NS-Ärzte: Ihre Verbrechen, ihre Karrieren“ trotz der regionalen | |
Ausrichtung auf das Saarland gelingt, ein breites Publikum zu erreichen, | |
liegt auch daran, dass die Doku auf das Erbe der NS-Eugenik im gesamten | |
Bundesgebiet verweist. „Hunderte von Ärzten und Ärztinnen haben dieses | |
System gestützt“, so Tomic. Aber nur wenige fanden sich nach dem Krieg als | |
Angeklagte in den Nürnberger Prozessen wieder. Die Verfahren beschränkten | |
sich auf 23 Ärzte, darunter eine Ärztin. | |
Stellvertretend für die verantwortlichen Mediziner:innen konzentriert | |
sich Tomic’ Doku auf den Lebenslauf von Ärzten wie Oscar Orth. Wie so viele | |
seiner Kolleg:innen konnte er unter dem NS-Regime Karriere machen und | |
seine Arbeit in der Bundesrepublik ungebrochen fortführten. Der Leiter des | |
saarländischen Landeskrankenhauses, der heutigen Uniklinik in Homburg, | |
hatte bis Kriegsende rund 1.400 Sterilisationen verantwortet, die meisten | |
davon selbst durchgeführt. | |
1947 war Orth zum Ehrenbürger Homburgs ernannt worden, zehn Jahre später | |
verlieh man ihm das Bundesverdienstkreuz. In hohen Ehren wurde er 1958 zu | |
Grabe getragen. Eine Ursache für solche ungebrochenen Biografien findet die | |
Doku im Pragmatismus der französischen Militärregierung im Saarland. Die | |
verzichtete auf Gerichtsurteile, denn „Ärzte waren in den Nachkriegszeit | |
Mangelware. Auch deshalb schaute man nicht genau hin“, so der Historiker | |
Braß. | |
1 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=ZSP8LojviFA | |
[2] /NDR-Doku-ueber-deutsche-Kolonialzeit/!5964176 | |
## AUTOREN | |
Fabian Lehmann | |
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