| # taz.de -- NDR-Doku über deutsche Kolonialzeit: Schuldfrage ohne Zwischentöne | |
| > Der Film „Deutsche Schuld“ befasst sich mit der Kolonialzeit im heutigen | |
| > Namibia. Insbesondere die Rolle der Missionare wird dabei stark | |
| > vereinfacht. | |
| Bild: Es gibt Proteste gegen diese Doku: Aminata Belli in einer Szene von „De… | |
| Als Aminata Belli die Landfrage stellt, gerät Markus Lägel in | |
| Erklärungsnot. Das wertvolle Farmland ist in Namibia mehrheitlich in der | |
| Hand weißer Farmer, und das ist eines der großen Politika des Landes. Nur | |
| etwa 5 Prozent der namibischen Bevölkerung sind weiß. | |
| Lägel, der erst seit einem Jahr in Namibia lebt und als Jugenddiakon der | |
| Evangelisch-Lutherischen Kirche arbeitet, verweist auf die Verantwortung | |
| des namibischen Staates. Er halte es für vermessen, sich zum Dauerkonflikt | |
| zu positionieren. Anders Moderatorin Belli. Während sich Lägel weiter | |
| erklärt, übertönt ihn Belli aus dem Off, wirft ihm Ausweichmanöver vor, wo | |
| die Ungerechtigkeit doch auf der Hand liege. | |
| Die Art, mit der Aminata Belli [1][in der NDR-Dokumentation „Deutsche | |
| Schuld – Namibia und der Völkermord“] ihrem Gesprächspartner über den Mu… | |
| fährt, sagt viel über den Film in Regie von Silvia Palmigiano. Die Rollen | |
| sind klar verteilt. Für Zwischentöne ist kaum Platz. Dabei geht es um | |
| nichts Geringeres als die Frage der Verantwortung der christlichen Mission | |
| an der Kolonisierung auf dem Gebiet des heutigen Namibias und [2][dem | |
| Völkermord an Ovaherero und Nama.] | |
| Die Zuschauer:innen müssen sich auf die persönliche Annäherung an die | |
| Vergangenheit durch [3][die Influencerin und Moderatorin Aminata Belli] | |
| verlassen. Dabei ist belegt, dass Missionare mit der Verwaltung der Kolonie | |
| Deutsch-Südwestafrika kooperierten, indem sie im Kolonialkrieg ab 1904 das | |
| über Jahrzehnte genährte Vertrauensverhältnis zu ihren Gemeinden nutzten | |
| und Ovaherero überredeten, die Waffen niederzulegen. | |
| Die Missionare legten Sammellager an, um jenen Ovaherero, die sich ergaben, | |
| Zuflucht zu gewähren. Von dort aus überführte sie jedoch das deutsche | |
| Militär, unter Protest der Mission, in [4][koloniale Konzentrationslager,] | |
| wo die Internierten Zwangsarbeit leisteten und zuhauf starben. Dort | |
| unterstützten die Missionare die Gefangenen seelsorgerisch und materiell, | |
| linderten so einiges Leid, mussten dem Sterben sonst aber weitgehend | |
| tatenlos zusehen. | |
| ## Partei für die Ovaherero | |
| Trotzdem waren es auch die Berichte der Missionare, die die deutsche | |
| Öffentlichkeit von den Gräueltaten gegen Ovaherero und Nama unterrichteten | |
| und so allmählich die Stimmung im Reich kippen ließen. Solche Einzelheiten | |
| spart die Doku aus. | |
| Dabei trifft Moderatorin Belli auf die Künstlerin Imke Rust, eine | |
| Nachfahrin des Missionars August Kuhlmann. Es hätte gelohnt, sich seiner | |
| Biografie eingehender zu widmen, weil sie für die Ambivalenz der damals für | |
| die Kirche Tätigen steht. Als sich die Ovaherero im Januar 1904 gegen die | |
| Deutschen erheben, notiert Kuhlmann in sein Tagebuch: „Wie soll ich mich | |
| als Hirte zu meiner Gemeinde verhalten?“ Später wird der Missionar offen | |
| Partei für die Ovaherero ergreifen und bei der deutschen Heeresführung um | |
| Amnestie für sie bitten. | |
| Statt solchen Geschichten nachzugehen, kratzt die Doku an der Oberfläche. | |
| Und das ruft nun in Namibia Protest hervor. So erhielt die Intendanz des | |
| NDR einen offenen Brief, welcher dem Film „ideologische Scheuklappen“ und | |
| eine „völlig unreflektierte“ Darstellung vorwirft. Unterzeichnet haben ihn | |
| rund 160 Personen aus Namibia und Deutschland; sie fordern eine | |
| Überarbeitung der Doku. Unter den Unterzeichnern finden sich der ehemalige | |
| deutsche Botschafter in Namibia, Christian M. Schlaga, ehemalige Mitglieder | |
| der Nationalversammlung Namibias, verdiente | |
| Kolonialhistoriker:innen wie Ulrich van der Heyden und Wolfram | |
| Hartmann sowie zahlreiche Vertreter:innen der Evangelisch-Lutherischen | |
| Kirche in Namibia. | |
| Der Großteil von ihnen gehört zu den rund 20.000 deutschsprachigen | |
| Namibier:innen. Dass Vertreter:innen dieser Minderheit in der NDR-Doku | |
| pauschal als „Deutsche“ bezeichnet werden, obgleich sie mehrheitlich in | |
| Namibia geboren und aufgewachsen sind, ignoriert ebenjene lange Geschichte | |
| deutscher Einwanderung, die der Film zu thematisieren vorgibt. | |
| ## Ungereimtheiten in dem Film | |
| Man mag das als Flapsigkeit abtun, die in einer Reihe steht mit der Frage | |
| nach dem angeblich fehlenden Denkmal für die getöteten Ovaherero und Nama. | |
| Das jedoch befindet sich vor der Alten Feste in Windhoek und dürfte dem | |
| Filmteam kaum entgangen sein. Es sind solche Ungereimtheiten, auf die sich | |
| der Beschwerdebrief stützt. | |
| Man muss nicht jedem Punkt des Briefes zustimmen. So wird das Scheitern der | |
| Verhandlungen zwischen Namibia und Deutschland zum Umgang mit dem | |
| Völkermord allein der namibischen Regierung zugeschrieben. Dies jedoch | |
| ignoriert die berechtigten Forderungen der betroffenen Bevölkerungsgruppen, | |
| an den Verhandlungen beteiligt zu werden, während Deutschland stets betont | |
| hat, nur auf Regierungsebene zu verhandeln. | |
| Zwar erkennen die Verfasser:innen des Briefes die von den Deutschen | |
| begangenen Verbrechen an, konnten sich aber offenbar nicht dazu | |
| durchringen, den Völkermord als solchen zu benennen. Etwa die Hälfte der | |
| Ovaherero und Nama wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts ermordet. | |
| ## Der Bischof wollte sich äußern | |
| Schwer wiegt dennoch der Vorwurf, die Doku würde falsche Behauptungen | |
| aufstellen. Im Film heißt es, von der deutschsprachigen Kirche hätte sich | |
| niemand äußern wollen. Dem widerspricht Burgert Brand, Bischof der | |
| Evangelisch-Lutherischen Kirche in Namibia. Am 27. April habe er mit | |
| Regisseurin Silvia Palmigiano ein zweistündiges Gespräch über die | |
| historische Rolle der Kirche geführt und sich bereit erklärt, dies auch vor | |
| der Kamera zu tun. | |
| „Wir leben in diesem Land, wir verantworten, was in diesem Land passiert, | |
| und haben Rede und Antwort zu stehen“, sagt Brand der taz am Telefon und | |
| spricht von einer „rufschädigenden Behauptung“. Seine Kirche befasse sich | |
| seit 2004 mit dem historischen Verhältnis von Kirche und Kolonisierung. | |
| Auf Nachfrage der taz erklärt der NDR, Palmigiano habe mehrmals erfolglos | |
| versucht, Bischof Brand zu erreichen, und deshalb davon ausgehen müssen, | |
| dass er zu einem weiteren Gespräch nicht bereit sei. Dass die Doku | |
| korrigiert wird, will der Sender nicht ausschließen und betont, dass der | |
| Film dezidiert auf ein jüngeres Publikum abziele. Hieraus ergebe sich die | |
| prominente Rolle Aminata Bellis als Presenter und ebenso die Auswahl der | |
| Gesprächspartner:innen. | |
| ## Das koloniale Missverständnis | |
| So wie Naita Hishoono. Sie ist eine Sympathieträgerin des Films und wird | |
| von Belli mehrfach interviewt. Hishoono leitet das Namibia Institute for | |
| Democracy und ist eine der wenigen, die in der Doku konkret über die Folgen | |
| der Kolonialzeit sprechen. Aber sie wolle sich nicht instrumentalisieren | |
| lassen, sagt Hishoono am Telefon. „Es gab Momente, in denen mir die | |
| Fragen das Gefühl gaben, dass ich wütend und aufgebracht reagieren soll.“ | |
| Sie lege Wert auf eine sachliche Diskussion und verweist auf die Politik | |
| der nationalen Versöhnung, der sich Namibia seit seiner Unabhängigkeit 1990 | |
| verschrieben hat. Dennoch sei sie froh über jeden Beitrag, der die | |
| Kolonialzeit aufgreift, denn noch immer werde darüber in Namibia kaum | |
| gesprochen. | |
| Dass die Doku dazu beiträgt, ein Gespräch zu eröffnen, darf bezweifelt | |
| werden. Meilenweit bleibt sie etwa hinter Jean-Marie Tenos Dokumentation | |
| „Das koloniale Missverständnis“ (2004) zurück. In der hatte der | |
| kamerunische Filmemacher sich bereits vor 20 Jahren des Themas angenommen. | |
| Teno besuchte das Archiv der Rheinischen Mission in Wuppertal, interviewte | |
| Historiker:innen und ließ Raum für die individuelle Positionierung | |
| deutscher Missionare. | |
| Zugegeben, Tenos Film hat nicht den Pep der NDR-Produktion und mag in | |
| seiner Informationsdichte ein junges Publikum ohne Bezug zum Thema eher | |
| abschrecken. Nur wäre es falsch, Zugänglichkeit über Oberflächlichkeit zu | |
| erkaufen. | |
| 1 Nov 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.ardmediathek.de/video/doku-und-reportage/deutsche-schuld-namibi… | |
| [2] /Spielfilm-Der-vermessene-Mensch/!5921347 | |
| [3] /Influencerinnen-ueber-Talkshows/!5718144 | |
| [4] /Archaeologin-ueber-koloniale-KZs/!5960709 | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Lehmann | |
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