# taz.de -- Dokumentarfilm „Miss Holocaust Survivor“: Darf man das? | |
> In einem Seniorenheim für Überlebende des Holocaust in Haifa wird die | |
> „Miss Holocaust Survivor“ gewählt. Radek Wegrzyn hat einen Film darüber | |
> gedreht. | |
Bild: Irgendwann läuft auch Gloria Gaynors Song „I will survive“: Szene au… | |
Darf man das? Ist es nicht obszön, einen Schönheitswettbewerb mit Frauen zu | |
veranstalten, die den Holocaust überlebt haben? Ist es nicht eine Anmaßung, | |
sie zu bewerten und eine von ihnen als Gewinnerin zu präsentieren? Und darf | |
man dann einen Film darüber machen? | |
Tatsächlich wird solch eine Schönheitskönigin seit 2012 unter den | |
Bewohnerinnen eines Altersheims für Holocaust-Überlebende in Haifa | |
auserkoren. Als der in Hannover lebende und arbeitende Filmemacher | |
[1][Radek Wegrzyn] davon erfuhr, war er erstaunt darüber, dass noch niemand | |
vor ihm über diese bemerkenswerte Veranstaltung einen Film gedreht hatte. | |
Natürlich macht gerade die Provokation diese Geschichte interessant. Aber | |
Wegrzyn war so klug, sich nicht auf das Spektakel zu konzentrieren. Er | |
zeigt zwar über die 89 Minuten des Films verstreut immer wieder Aufnahmen | |
von den Proben, bei denen den Frauen im Alter zwischen 75 und 95 Jahren von | |
einer Veranstalterin in einem recht herrischen Ton beigebracht wird, wie | |
sie sich möglichst elegant auf der Bühne bewegen sollen. Aber viel | |
wichtiger ist es für ihn, zwei der Teilnehmerinnen zu porträtieren und von | |
ihrem Leben erzählen zu lassen. Tova ist 95 Jahre alt und geht jeden Tag | |
ins Fitnessstudio. Rita arbeitet als Malerin. Sie hat ein Buch über ihren | |
Überlebenskampf im [2][Nazideutschland] geschrieben. | |
Beide Frauen strahlen eine beeindruckende Souveränität und Lebensfreude | |
aus. Die Frage, ob sie bei der Misswahl [3][zu Schauobjekten degradiert] | |
werden, stellt sich bei ihnen so gar nicht. Da ergibt dann auch das | |
plakativ klingende Motto einen Sinn, dass es hier nicht „um äußere, sondern | |
um [4][innere Schönheit]“ gehe. Die beiden genießen die Veranstaltung | |
sichtlich und sehen sie vor allem als eine willkommene Abwechslung vom | |
Leben im Altersheim. | |
Dieses Heim wird von einer Gruppe evangelikaler Christen finanziert, auch | |
das ist umstritten: Ist die Misswahl nicht vor allem eine | |
Propagandaveranstaltung für diese religiöse Organisation? Wegrzyn urteilt | |
nicht, aber wenn er zeigt, wie Christ*innen von den Philippinen und aus | |
Mexiko nach Haifa zu diesem Altersheim pilgern, wirken diese Aufnahmen sehr | |
befremdlich. Zugleich macht er eine Gegenrechnung auf, deren Logik schwer | |
zu widerlegen ist: Über ein Viertel der Holocaust-Überlebenden in Israel | |
lebt heute unterhalb der Armutsgrenze, und das Heim bietet einigen von | |
ihnen die Möglichkeit, ohne finanzielle Sorgen ihren Lebensabend zu | |
verbringen. | |
Ähnlich schlüssig ist auch Wegrzyns Antwort darauf, ob diese Misswahl | |
überhaupt veranstaltet werden sollte. Für ihn sind die Frauen selbst „die | |
einzige Instanz“, die darüber entscheiden kann. Und wenn sein Film zeigt, | |
wie wohl sie sich dabei fühlen, in ihrem Alter noch solch ein Abenteuer zu | |
erleben, ist auch dies eine Antwort. | |
Doch Wegrzyn geht noch tiefer, wenn er Tova und Rita dazu bringt zu | |
erzählen, wie sie den [5][Holocaust] überlebt haben. Tova hat in Auschwitz | |
Misshandlungen und Vergewaltigungen ertragen müssen und auch mit 95 Jahren | |
ringt sie mit der Fassung, wenn sie davon erzählt. Rita hingegen hat ein | |
Buch darüber geschrieben, wie sie sich mit ihrer Familie 19 Monate lang in | |
einem engen Erdloch versteckt hat. | |
Wegrzyn selbst liest Auszüge aus diesem Text. Im Lüßwald in der Lüneburger | |
Heide sowie in einem Studio in Hannover hat er einige Spielszenen | |
inszeniert, mit denen er zeigen wollte, wie extrem dieses Leben für die | |
damals achtjährige Rita gewesen sein muss. | |
Diese Spielszenen sind angemessen diskret inszeniert. Es sind | |
Stimmungsbilder, bei denen das Gesicht der Darstellerin nicht gezeigt wird. | |
Und auch die Filmmusik von Franziska Pohlmann ist zurückhaltend und gerade | |
deshalb sehr effektiv. | |
Alles andere als subtil ist dagegen der Disco-Song „I will survive“ von | |
Gloria Gaynor, der bei den Filmsequenzen von der Preisverleihung erklingt. | |
Aber hier dokumentiert Wegrzyn nur die Atmosphäre, die bei der Gala | |
herrschte – und an dem Abend waren alle Damen von dem Song begeistert. | |
Und was denkt Wegrzyn darüber, dass sein Film gerade jetzt in die Kinos | |
kommt? Er glaubt, es sei genau die richtige Zeit dafür, denn für ihn ist es | |
eine der Qualitäten eines Kinofilms, dass er „Empathie“ kann. Und das ist | |
gerade jetzt besonders wichtig. | |
9 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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