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# taz.de -- Spielfilm „Stella. Ein Leben“: Ein schuldiges Opfer
> Stella Goldschlag war Jüdin und verriet in der NS-Zeit andere Jüd*innen
> und Juden an die Gestapo. Der Hamburger Kilian Riedhof hat ihr Leben
> verfilmt.
Bild: Stella startet als lebensfrohe Frau mit dem Traum, in New York aufzutreten
„Was hättest du getan?“ Dieser Satz auf den Plakaten für „Stella. Ein
Leben“ hat tatsächlich Gewicht. Es ist die Kernfrage, die Filmemacher
Kilian Riedhof in seinem historischen Spielfilm stellt. Er erzählt darin
von Stella Goldschlag, einer deutschen Jüdin, die tatsächlich gelebt und im
Dritten Reich für die Gestapo als eine sogenannte Greiferin [1][über
hundert Jüdinnen und Juden verraten hat.]
Eine schlimmere Schuld, ein niederträchtigeres Handeln ist kaum
vorstellbar. Aber können wir uns in die Situation dieser jüdischen Frau
hineinversetzen, die im Jahr 1943 weiß, dass in Auschwitz systematisch
Jüdinnen und Juden umgebracht werden und der sich eine Gelegenheit bietet,
ihr und ihrer Familie die Deportierung dorthin zu ersparen?
Kilian Reidhof gelingt es, mit verschiedenen stilistischen Mitteln, uns
diese junge, lebenshungrige Frau nahezubringen. Konsequent erzählt er aus
ihrer Perspektive, wir sehen alles mit ihren Augen. Dabei historisiert
Reidhof nicht, indem er etwa durch die Kameraarbeit oder eine möglichst
authentische Ausstattung den Eindruck erweckt, hier etwas aus alten Zeiten
zu zeigen und so Distanz zu schaffen.
Das irritiert zuerst, denn solch künstlich erzeugte Patina gehört zu den
Konventionen des historischen Spielfilms. Da wirkt es zuerst wie Unvermögen
und nicht gewollt, wenn Stella Goldschlag zusammen mit einer Gruppe junger,
jüdischer Musiker*innen im Deutschland des Jahres 1940 ausgelassen
US-amerikanische Swingmusik spielt: alles blitzblank und so inszeniert wie
für ein Filmmusical.
Stella singt im ersten Akt des Films gleich mehrere Klassiker wie Benny
Goodmans „Sing Sing Sing“. So soll jüdisches Leben im Deutschland des
Jahres 1940 ausgesehen haben? Andererseits gelingt es Riedhof, ein
Lebensgefühl vom „Tanz auf dem Vulkan“ zu vermitteln. Und darum geht es
ihm: Wir sollen uns intensiv in Stella einfühlen können, in eine ehrgeizige
Frau mit viel Temperament und einer Vorliebe für einen hedonistischen
Lebensstil.
Wenn sie sich damit in einer Zeit, in der Jüdinnen und Juden in der
Öffentlichkeit den gelben „Judenstern“ tragen müssen, durchmogeln kann,
sind wir ganz auf ihrer Seite. In Berlin lebt sie mit ihren Eltern
versteckt im Untergrund. Ihr Geliebter ist ein Kleinkrimineller, gemeinsam
mit ihm verkauft sie Jüdinnen und Juden für viel Geld gefälschte Papiere.
Dabei entwickelt sie eine rücksichtslose Gier – und das Bild, das der Film
von ihr zeichnet, wird zum ersten Mal ambivalent.
Bald wird sie von der Gestapo verhaftet und Riedhof zeigt, wie brutal sie
gefoltert wird und wie verzweifelt sie ist, wenn ihr und ihren Eltern mit
der Deportation nach Auschwitz gedroht wird. „Was hättest du getan?“ – da
ist diese Frage schon nicht mehr so einfach zu beantworten. Dabei zeigt
Riedhof, wie Stella sich allmählich und sehr glaubwürdig [2][vom Opfer
nicht nur in eine Täterin, sondern in ein Monster verwandelt.]
Die anfängliche Identifizierung mit der Protagonistin und das Entsetzen
angesichts ihrer Verwandlung sind auch darum verstörend, weil Paula Beer
sie glaubwürdig, intensiv und komplex spielt. Da stimmt jeder Ton und jede
Geste, sie verkörpert die Stella so lebendig und unmittelbar, dass man sie
nie beim Schauspielern erwischen kann. Alle Widersprüche in Stellas Leben,
das Furchtbare ihrer Taten spiegeln sich immer in ihrem Gesicht. Bis zum
Ende des Films bleibt man ihr so beängstigend nah.
Diese Geschichte zu erzählen, ist ein ästhetischer Drahtseilakt, und der
deutsche Schriftsteller Takis Würger ist dabei mit seinem 2019 erschienenen
Roman „Stella“ auch schon [3][abgestürzt]. Ihm wurde vorgeworfen, einen
Unterhaltungsroman „im Kinderbuchstil“ (Die Zeit) geschrieben zu haben. Das
Buch sei „ein Ärgernis“ (Süddeutsche) – [4][„hilflos … und unfreiwi…
komisch“ (taz)].
## So nah wie möglich an den Tatsachen
Riedhof hat sich bei seiner „Stella“ dagegen so weit wie möglich an die
Tatsachen gehalten. Der in Hamburg lebende Filmemacher ist durch seine
filmischen Rekonstruktionen historischer Ereignisse bekannt geworden. Für
die ARD inszenierte er den [5][Politthriller „Der Fall Barschel“] sowie das
[6][Filmdrama „Gladbeck“] und für das Kino die französisch-deutsche
Koproduktion „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ über die Anschlagserie vom 13.
November 2015 in Paris.
Das Drehbuch für „Stella“, das er zusammen mit Marc Blöbaum und Jan Braren
verfasst hat, basiert auf Recherchen, für die er unter anderem die Akten
der beiden Gerichtsprozesse gegen Goldschlag in den Jahren 1946 und 1957
studierte. So verzichtete er bewusst auf „spekulative oder bewusst
fiktionalisierende“ Erzählmittel (so seine eigenen Worte).
Durch diese Strenge in der Dramaturgie wird er der Geschichte und dem
Menschen Stella Goldschlag gerecht. Denn er urteilt nicht, sondern zeigt
stattdessen so wahrhaftig wie möglich, was geschah. Und dadurch wird die
Antwort auf die Frage „Was hätte ich getan?“ nicht einfacher.
25 Jan 2024
## LINKS
[1] /Buch-ueber-juedische-Greiferin-neuaufgelegt/!5577390
[2] /Jurist-ueber-Roman-von-Takis-Wuerger/!5569705
[3] /Relotius-Menasse-und-der-Roman-Stella/!5564017
[4] /Takis-Wuergers-Stella/!5563177
[5] /ARD-Film-ueber-den-Fall-Barschel/!5271951
[6] /ARD-Zweiteiler-Gladbeck/!5486419
## AUTOREN
Wilfried Hippen
## TAGS
Film
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Holocaust
Judenverfolgung
Biographie
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Takis Würger
NS-Verbrechen
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