# taz.de -- Takis Würgers „Stella“: Ein Fall von literarischer Hochstapelei | |
> Takis Würger erzählt in „Stella“ von einer Jüdin, die zu NS-Zeiten vie… | |
> hundert Menschen verriet. So bestürzend die Geschichte, so hilflos das | |
> Buch. | |
Bild: Reporter müssen schnell sein: Takis Würger schrieb über die „Greifer… | |
Was für eine Geschichte! Die Jüdin Stella Goldschlag überlebte den | |
Naziterror, indem sie andere Juden verriet. Erst ließ sie sich mit der | |
Gestapo ein, weil sie versuchte, die Eltern vor der Deportation nach | |
Auschwitz zu bewahren. Aber auch als sie später erfuhr, dass Mutter und | |
Vater nicht mehr zu retten waren, kollaborierte sie mit dem | |
SS-Hauptscharführer Walter Dobberke und spürte als sogenannte Greiferin | |
viele hundert untergetauchte Juden auf. Zu ihrer perfiden Methode gehörte | |
es, auf Beerdigungen aufzutauchen und Juden, die durch den Tod des | |
„arischen Partners“ vogelfrei waren, den Mördern in Uniform auszuliefern. | |
Diese Geschichte wurde von Peter Wyden, einem ehemaligen Mitschüler | |
Stellas, Anfang der 1990er Jahre in einem Sachbuch ausführlich dargestellt. | |
Es gab eine mehrteilige Spiegel-Geschichte, die ebenfalls von Wyden | |
stammte. Es wurden Dokumentarfilme und Spielfilme über Stella Goldschlag | |
gedreht, auch eine Doku mit Spielszenen, sogar ein Musical mit dem Titel | |
„Stella – Das blonde Gespenst vom Kurfürstendamm“. Zudem hat sich die | |
Wissenschaft mit den jüdischen Kollaborateuren eingehend befasst. Nur einen | |
Roman gab es bislang nicht. | |
Der Schriftsteller und Spiegel-Redakteur Takis Würger, so verrät es eine | |
kleine, aber sehr aufschlussreiche Werbebroschüre, habe von der Geschichte | |
zufällig gehört und sofort wissen wollen, ob die Geschichte schon, so nennt | |
man das wohl, „literarisiert“ worden sei. „Ich habe es sofort | |
nachgeschlagen. Am nächsten Tag habe ich die Arbeit am Roman begonnen.“ | |
Reporter müssen schnell sein. Herausgekommen ist schließlich ein schmales | |
Buch, das im Jahre 1942 spielt und formal betrachtet aus drei Textsorten | |
besteht. | |
Neben historischen Ereignissen und Zitaten, die clever kompiliert sind und | |
einen Überblick über die politischen Geschehnisse geben, aber auch so | |
wichtige Informationen wie die Geburt Wolfgang Schäubles vermerken, tauchen | |
in regelmäßigen Abständen kurze Auszüge aus Gerichtsakten auf, die von den | |
Vergehen der Angeklagten Goldschlag berichten. Nach dem Krieg wurde sie | |
nämlich von den Sowjets zu mehreren Jahren Lagerhaft, 1957 in Westberlin | |
noch einmal zu zehn Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe zum Mord und | |
Freiheitsberaubung verurteilt. So weit, so journalistisch. | |
## Unfreiwillig komisch | |
Um die Geschichte nun als emotionales Drama zu verwerten, erfindet Takis | |
Würger einen 20-jährigen Schweizer namens Friedrich, aus dessen Perspektive | |
der nicht gerade originelle Plot erzählt wird: Aufgewachsen in betuchten | |
Verhältnissen, möchte der junge Mann, der nicht nur naiv, sondern leider | |
auch farbenblind ist, ins nationalsozialistische Berlin zu reisen, um dort | |
Zeichenunterricht zu nehmen und nebenbei herauszufinden, ob was dran sei an | |
den schlimmen Gerüchten über die Nazis. | |
Der Vater, ein polyglotter Samthändler, hält nicht viel von den Plänen des | |
Sohns. Die Mutter, eine daueralkoholisierte Nazisse, ist zumindest froh, | |
dass der Spross in Deutschland weilt. Kaum in der Hauptstadt angekommen, | |
freundet sich Friedrich mit dem blonden und etwas molligen Nacktmodell | |
Kristin an, die er nicht nur beim Aktzeichnen bewundert, sondern auch in | |
geheimen Musikkneipen, wenn sie dort auf der Bühne steht. | |
Er verliebt sich in die frivole Berlinerin, genießt bald auch die | |
Freundschaft eines Deutschen, der zwar SS-Mann ist, sich aber für gutes | |
Essen interessiert. Friedrich ist erst erschüttert, als herauskommt, dass | |
die Angebetete nicht nur anders heißt, sondern grauenhafte Dinge tut, | |
nämlich „Juden jagen“. Kristin ist eben jene Stella Goldschlag. | |
Takis Würger orientiert sich am biografischen Material, nimmt sich ein paar | |
erzählerische Freiheiten und bleibt einem Erzählton verhaftet, der zwischen | |
Reportage und einem etwas übersteuerten Sound changiert, der wohl zeigen | |
soll, dass es sich um Literatur handelt. Dabei fallen nicht wenige Sätze | |
auf, die unfreiwillig komisch sind, weil sie etwas zu pathetisch | |
daherkommen, in einem ansonsten biederen Textumfeld geradezu herausstechen | |
und weil sie auf seltsame Weise Symbolcharakter haben: „Jemand musste die | |
Gerüchte von der Wirklichkeit trennen.“ | |
## Semifiktionale Collage | |
Man muss nicht besonders pingelig sein, um die Frage zu stellen, ob | |
Gerüchte nicht eben auch eine „Wirklichkeit“ besitzen, aber auf sprachliche | |
Genauigkeit kommt es in „Stella“ ohnehin nicht an, und so spielt es | |
vielleicht auch nur eine marginale Rolle, ob nun doch die „Wahrheit“ und | |
nicht die „Wirklichkeit“ gemeint ist. Die Wirkmacht der Lüge wiederum war | |
und ist seit Wochen ein großes Thema nicht nur im Feuilleton, sondern in | |
einer breiteren Öffentlichkeit, die zunehmend gereizt reagiert, wenn wieder | |
ein neuer publizistischer Fake bekannt wird. | |
Auch bei „Stella“ handelt es sich um eine Art Täuschung, nämlich um eine | |
literarische Hochstapelei. Das Buch wird als „Roman“ verkauft, es ist | |
jedoch schwierig zu bestimmen, worum es sich wirklich handelt, um eine | |
semifiktionale Collage vielleicht, ein schlampig gemachtes Stück | |
Histotainment gewiss. Der Text liest sich wie ein ausführliches Treatment | |
für ein Filmdrehbuch. Es ist ein Funktionstext in einer Funktionssprache, | |
mit emotionalen Ausrufezeichen, die vielleicht nötig sind für eine | |
verdichtete Version auf der Leinwand. Was bei einem solchen Arbeitspapier | |
nur eine untergeordnete Rolle spielt, nämlich der Stil der Prosa, sollte | |
allerdings die einzige Maßgabe für einen Roman sein. Würger aber scheitert | |
auf allen ästhetischen und auch ethischen Ebenen. | |
So ungebrochen naiv die Erzählerperspektive, so simpel gestrickt und | |
klischiert die Figuren in ihrer ausgestellten Doppelbödigkeit, so hölzern | |
und mit einfachsten Mitteln wie Dialektwürze und Derbheit versetzt die | |
banalen Dialoge. Immer wieder stolpert man über Formulierungen im nicht | |
andeutungsweise ironisierten Kitschmodus. | |
Der Ich-Erzähler, der Schlimmes über seine Kindheit zu berichten weiß, | |
räsoniert mit einer gerade noch unterdrückten Träne: „Schweigen wurde meine | |
Art zu weinen.“ Der Berliner SS-Mann Tristan von Appen darf, kaum hat er | |
Friedrich kennengelernt, über das vom Schweizer Ehrenmann angehimmelte | |
Weibsbild mal so richtig vom Leder ziehen: „Die hat Titten, da kannst du | |
Mäuse drauf knacken.“ Und Stella, ganz Berlinerin, sagt auch nicht gerade | |
selten: „Mein lieber Scholli.“ | |
## Erschütternd unterkomplex | |
Damit auch wirklich alle begreifen, worum es in dem Buch geht, muss der | |
etwas einfältige und immer treuherzige Friedrich wirklich alles | |
aussprechen, was gerade verhandelt wird, sodass selbst der nicht wirklich | |
verborgene Glutkern der Geschichte zur Phrase verkommt: „Ich weiß nicht, ob | |
es falsch ist, einen Menschen zu verraten, um einen anderen zu retten.“ Ach | |
wirklich? | |
Man könnte eine lange Liste der überflüssigsten Dialogfragen anfertigen: | |
„Warum tun wir, was wir tun, meine Liebe?“, heißt es an natürlich | |
entscheidender Stelle. In „Stella“ bleibt vom Wahrheitsanspruch schließlich | |
nur eine entmoralisierter und sinnentleerter Klippschuldefätismus: „Das | |
Leben formt uns zu Lügnern“, lautet Friedrichs dürftiges Resümee. Was auch | |
immer er mit dem „Leben“ meint, was auch immer das Verb „formen“ hier | |
ausdrücken soll, aber wenn sich in diesem Satz eine Lüge offenbart, steckt | |
sie im gewissenlosen Geraune des Autors. | |
In solchen Sentenzen, die ganz nebenbei die Frage nach Schuld und | |
Verantwortung in einem Kalenderspruch auflöst, zeigt sich nämlich die | |
moralisierende Amoralität des Textes, der sich nicht nur sprachlich, | |
sondern auch inhaltlich völlig unreflektiert und erschütternd unterkomplex | |
einem äußerst komplexen Thema nähert. | |
Der Hanser-Verlag sollte sich zumindest die Frage gefallen lassen, ob es | |
sinnvoll ist, für diesen Roman ausgerechnet mit einem Satz von Daniel | |
Kehlmann zu werben, der die Latte nicht nur hoch hängt, sondern | |
literaturhistorischen Unsinn verbreitet: „Takis Würger hat sich etwas | |
Aberwitziges vorgenommen: das Unerzählbare zu erzählen.“ | |
## Es handelt sich keineswegs um etwas „Unerzählbares“ | |
„Stella“ erzählt garantiert nicht das „Unerzählbare“, also die | |
Massenvernichtung der Juden. Es geht Takis Würger eher um die Blindheit der | |
Liebe (oder so ähnlich) und den Willen zum Überleben auch auf Kosten der | |
anderen – die Bedingungen und Gründe für den Genozid sind nicht Thema des | |
Buchs. | |
Die Formulierung ist ohnehin Quatsch, weil es zahlreiche Romane, | |
Sachbücher, Gedichte und auch filmische Dokumentationen über die Schoah | |
gibt, die genau das ausführen, was Takis Würger nur am Rande streift. | |
Insofern handelt es sich keineswegs um etwas „Unerzählbares“. Vielleicht | |
sollten sich Würger und Kehlmann noch mal den „Roman eines Schicksallosen“ | |
von Nobelpreisträger Imre Kertész anschauen. Oder die Arbeiten von Claude | |
Lanzmann. Eine verkaufsfördernde Debatte sollte es um „Stella“ nicht geben. | |
Dafür bietet dieses in so vielerlei Hinsicht schwache Buch keine | |
angemessene Grundlage. | |
14 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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