Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Relotius, Menasse und der Roman „Stella“: Wunsch nach Lektürep…
> Betrogen hat Takis Würger mit seinem Roman „Stella“ natürlich nicht.
> Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten mit den Fällen von Relotius und Menasse.
Bild: Instagramable: Lesen mit Kaffee
Die Unterschiede bei den Diskussionen um den Ex-Spiegel-Redakteur Claas
Relotius und [1][die Schriftsteller Robert Menasse] und [2][Takis Würger]
liegen auf der Hand. Mit krimineller Energie gefälschte Reportagen, falsche
und historischen Persönlichkeiten untergeschobene Prunkzitate und jetzt ein
Roman wie „Stella“, der vor der Kulisse des Holocausts spielt, im
Buchmarketing verkauft wird wie das neue große Ding und dabei tatsächlich
[3][ästhetisch und ethisch viel zu kurz springt], das sind verschiedene
Paar Schuhe. Betrogen hat Takis Würger nicht.
In einem treffen sich diese unterschiedlichen Fälle aber eben doch, sie
haben gewissermaßen einen gemeinsamen Boden: den Wunsch nach in sich
kongruenten, übersichtlichen, ins Große tendierenden und dabei doch hübsch
plausibel klingenden und eingängigen Geschichten. In Zeiten von Fake News
und einem teilweise brutalen Populismus – wir sind alle längst ziemlich
nervös geworden – werden dabei anhand dieser drei Fälle vielleicht auch
gerade der Stellenwert, die Grenzen und die Kosten solcher Geschichten
verhandelt.
Zunächst aber lässt sich jetzt gut vergegenwärtigen, wie massiv der Wunsch
nach solchen Geschichten vorhanden ist. Er steckt in den Institutionen, in
den Autoren und auch bei den Lesern. Bei Claas Relotius ist schon häufiger
beschrieben worden, dass er mit seinen Fälschungen nur deshalb so große
Erfolge feiern konnte, weil seine gelieferten Texte passgenau in bestehende
Vorurteile über tumbe US-Amerikaner und traurige Kinderschicksale im Nahen
Osten einfluchteten. Die Freude darüber, die eigene Weltsicht so dermaßen
bigger than life zurückgespiegelt zu bekommen, war bei Relotius’
Vorgesetzten wie den Preisjurys wohl übermächtig.
Robert Menasse hat seine Sehnsucht nach einer postnationalen europäischen
Basiserzählung dazu gebracht, dass er seinen eigenen Wunsch mit der
Wirklichkeit verwechselt hat.
Auch „Stella“ von Takis Würger erzählt eben eine solche Geschichte, die zu
perfekt ist, um wahr zu sein – auch zu perfekt, um literarisch wahr zu
sein. Anstatt sich ihr auszusetzen und auch das eigene Interesse an ihr zu
hinterfragen, richtet er sie so zu, dass er sie bequem und hurtig
aufschreiben kann. Und, seltsam, so ambivalent, so traurig und furchtbar
die tatsächliche Geschichte der Stella Goldschlag ist, so geschützt und
behaglich fühlt man sich bei Takis Würger. Weil man sich die ganze Zeit –
das muss bei diesem Thema als Autor erst mal hinkriegen! – auf vertrautem
Terrain bewegt. Die „Jatz“-Keller in Berlin, die Bombennächte, die
zwielichtigen SS-Figuren, die armen Juden, die munteren Folterer, das alles
hat man im Zweifel schon im Fernsehen gesehen. Es ist ein einziges
Wiedererkennen.
## Stylische Marketingkampagnen
Dass der Wunsch nach in sich stimmigen Geschichten zur Falle werden kann,
haben die Fälle von Relotius und Menasse gezeigt. Bei Würger ist das
teilweise noch umstritten, teilweise auch ein literarisches Werturteil –
doch zumindest eines lässt sich auch bei ihm klar sehen: dass es bei
solchen Geschichten um Bestätigungen vorgefertigter und bequemer
Weltsichten geht, dass sie eine Entlastungsfunktion haben.
Man schaue sich einmal auf [4][Instagram unter dem Hashtag #takiswuerger]
um. Der Verlag hatte unter Buchhändlern und Bloggern Vorabexemplare
verschickt, und hier ist das Ergebnis: ein Exemplar von „Stella“ neben
zusammengerollter Katze. „Stella“ vor kuscheliger Bettdecke. „Stella“
beleuchtet von Kerzenschein. „Stella“ neben Kaffeetasse. So viel
inszeniertes Leseglück, so wenig Reflexion. Man muss sich wirklich wundern.
Für besonders stylish hergerichtete Aufnahmen von Nahrungsmitteln gibt es
in den sozialen Medien einen Begriff: Foodporn. Bei den „Stella“-Posts
fällt einem ein Pendant dazu ein: Lektüreporn. Und das bei einer
Geschichte, die vor dem Hintergrund des Holocausts spielt! Man kann den
Instagram-Nutzern nur zugutehalten, dass sie den Roman wohl zunächst noch
mit der Erwartungshaltung von Takis Würgers Debüt „Der Club“, das niemand…
wehtat, angefangen haben zu lesen.
Es wäre nun allerdings vorschnell – und vor allem selbst auch wieder eine
zu schlichte Geschichte –, würde man glauben, man könnte sich einfach über
den Wunsch nach kongruenten Geschichten erheben im Sinne von: Anfällig für
einfache Geschichten sind immer nur die anderen, man selbst durchschaut das
schon. Im Identitätshaushalt eines modernen Menschen sind Wiedererkennen
und Komplexitätsreduktion durchaus wichtig. Im Alltag träumt man sich die
Welt halt immer ein bisschen so zurecht, wie sie einem passt – nur sollte
man das auch wissen.
## Literatur mit Entlastungsfunktion
An den zu perfekten Geschichten à la Relotius und eben auch Würger wirken
dabei keineswegs nur die inhaltlichen Aspekte entlastend. Tröstlich ist
auch schon das kohärente Erzählen selbst. „Die meisten Menschen sind im
Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler“, heißt es in Robert Musils Roman
„Der Mann ohne Eigenschaften“. Und weiter: „Sie lieben das ordentliche
Nacheinander von Tatsachen (…) und fühlen sich durch den Eindruck, dass ihr
Leben einen ,Lauf' habe, irgendwie im Chaos geborgen.“
Tatsächlich kann man den Klassiker Musil angesichts der aktuellen
Diskussionen ruhig mal wieder zur Hand nehmen. Geborgenheit im Chaos –
genau das bedienen Claas Relotius und auch Takis Würger (bei Menasse liegt
der Fall an diesem Punkt anders, weil seine Prosa komplizierter ist). An
den Reportagen à la Relotius ist allein schon Ordnung schaffend, dass man
die Konflikte der Welt in diese berühmten „verdammt guten Geschichten“
packen kann. „Stella“ behauptet die kongruente Erzählbarkeit von Schrecken,
die eigentlich nicht auszuhalten sind. Aber im Hintergrund stehen dann halt
Täuschungen. Und beide Autoren tun das um den Preis, dass man sich als
LeserIn dabei ständig selbst über den Weg läuft.
Damit stehen sie keineswegs alleine da. Befeuert von den Marketingkampagnen
rund ums Lesen – Zeit für dich!, Abstand von der Hektik!, Massage fürs
Gehirn! – haben weite Teile der Literatur längst diese Entlastungsfunktion
(vielleicht hatten sie die aber auch eh schon immer). Und natürlich muss
man auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen erwähnen: Geborgenheit zu
vermitteln ist ihm unglaublich wichtig. Musil hat sich darüber lustig
gemacht. Die „erzählerische Ordnung“ beschreibt er als „das Gesetz dieses
Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt“.
## Das Bedürfnis nach komplizierten Geschichten
Vielleicht sollte man an diesem Punkt einfach auch mal darauf hinweisen,
dass es keineswegs nur das Bedürfnis nach in sich stimmigen Geschichten
gibt, sondern auch das Bedürfnis nach anderen, nach komplizierteren
Geschichten – und zwar, selbst wenn viele Kulturfunktionäre es immer nicht
glauben wollen, keineswegs nur bei notorischen Avantgardisten und
kulturellen Nischenbewohnern, sondern beim sogenannten breiten Publikum.
So eine tolle Dokumentation wie „Kulenkampffs Schuhe“ von Regina Schilling
war zuletzt etwa ein großer Erfolg. Ausgehend von familiärem Material und
von Spielshowszenen hat sie eindrücklich gezeigt, wie brüchig die
Normalität der Nachkriegsjahre war. Die eigene Perspektive hat sie dabei
mitgedacht. Und überhaupt: Es ist jetzt immerhin schon zwei Jahrzehnte her,
dass die „Sopranos“ die Fernsehserien mit komplexen Dramaturgien und
Genauigkeit in der Figurenzeichnung aufmischten.
Man fragt sich schon, was eigentlich gegen eine große Spiegel-Reportage
gesprochen hätte, in der ein Reporter mit all seinen Vorurteilen im
Reisegepäck in die US-Provinz aufbricht und ganz allmählich entdeckt, dass
die Realität doch komplizierter und bunter ist, als man es sich vorher
gedacht hatte.
Wäre es nicht wirklich interessant, einmal sich selbst auf die Spur zu
kommen bei der Frage, was einen als heutigen Autor an so einer zutiefst
traurigen Geschichte wie der von Stella Goldschlag fasziniert, was sie so
schillernd macht? Und dann, anstatt sie zu reproduzieren, darüber
nachzudenken, wie vielen Klischees man da begegnet?
20 Jan 2019
## LINKS
[1] /Politologin-ueber-gefaelschte-Menasse-Zitate/!5563624
[2] /Faelschungsaffaere-um-Relotius/!5562276
[3] /Takis-Wuergers-Stella/!5563177
[4] https://www.instagram.com/explore/tags/takiswuerger/
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Claas Relotius
Robert Menasse
Takis Würger
Buch
Süddeutsche Zeitung
Takis Würger
Claas Relotius
Takis Würger
Eurozentrismus
Robert Menasse
NS-Verbrechen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Journalist Dirk Gieselmann: Schönschreiberitis
Ein Journalist pfuscht bei Reportagen, drei große Medienhäuser beenden die
Zusammenarbeit. Der Fall spielt aber nicht in der Liga „Relotius“.
Lesung von Takis Würger in Berlin: Entspannt mit Rückhalt
Der Spiegel-Journalist und Autor, Takis Würger, liest aus seinem
umstrittenen Roman „Stella“ in Berlin. Aus dem Publikum kommen
Durchhalteparolen.
Journalistikprofessor über Reportagen: „Erzähltes muss natürlich stimmen“
Seit dem Fall Relotius wird die Reportage grundsätzlich infragegestellt.
Ein Gespräch mit Journalistikprofessor Michael Haller.
Jurist über Roman von Takis Würger: „Sie war ja Opfer und Monster“
Der Roman „Stella“ sorgt weiter für Ärger. Die Erben von Stella Goldschlag
wollen juristisch gegen die Verbreitung vorgehen. Deren Anwalt Karl Alich
erklärt, warum.
Kolumne Schlagloch: Weiße Dramaturgien
Der Fall Relotius ist der Vorhof des Verbrechens. Wenn sich der europäische
Blick auf andere Kulturen richtet, werden gern Legenden erzählt.
Politologin über gefälschte Menasse-Zitate: „Ich habe die Quellen nie über…
Robert Menasse erhält am Freitag die Zuckmayer-Medaille des Landes
Rheinland-Pfalz. Auch Ulrike Guérot hat mit falschen Zitaten der EU-Gründer
gearbeitet.
Takis Würgers „Stella“: Ein Fall von literarischer Hochstapelei
Takis Würger erzählt in „Stella“ von einer Jüdin, die zu NS-Zeiten viele
hundert Menschen verriet. So bestürzend die Geschichte, so hilflos das
Buch.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.