# taz.de -- Journalistikprofessor über Reportagen: „Erzähltes muss natürli… | |
> Seit dem Fall Relotius wird die Reportage grundsätzlich infragegestellt. | |
> Ein Gespräch mit Journalistikprofessor Michael Haller. | |
Bild: Jedes Reportagefoto ist eine Verdichtung. Wann also beginnt die Fiktion? | |
taz: Herr Haller, müssen alle Elemente einer Reportage stimmen? | |
Michael Haller: „Stimmen“ ist ein weites Feld. Natürlich müssen die Fakten | |
zutreffen. Aber abgesehen davon hat der Reporter viele Möglichkeiten, wie | |
er das, was er erleben will, gestalten kann. Allein die Entscheidung, wann | |
er vor Ort sein will, steuert, welche Situation er antrifft. Die Frau an | |
der Kasse des Supermarkts ist am Morgen anders drauf als in der Rushhour | |
zum Feierabend. Ich meine damit: Die Organisation des Augenscheins, die | |
Wahl der Protagonisten und Gesprächsthemen gehören zum Gestaltungsraum des | |
Reporters. Schon das macht das Subjektive der Reportage aus. Ob das wahr | |
ist, was ich erzähle, hängt also nicht nur von den Fakten ab, sondern auch | |
davon, ob meine Erzählung für das steht, um was es in der Sache geht. In | |
diesem Sinne stimmt so manche Reportage trotz Faktenrichtigkeit nicht. | |
Wenn der Reporter vor Ort ist, müssen seine Beobachtungen doch stimmen? | |
Grundsätzlich ja. Und dies ist für den, der gut beobachtet, meistens kein | |
Problem. Wer mit dem Parteikandidaten, dem Popstar, dem Lokführer oder der | |
Extremsportlerin unterwegs ist, schreibt nur das, was er wirklich gesehen, | |
gehört und gerochen hat. Schwieriger wird es, wenn er ein Stimmungsbild | |
einfangen will und mit vielen Menschen zu tun hat. Angenommen, ich will die | |
Verhältnisse im Ausländeramt genauer kennenlernen, dann sollte der | |
Gesamteindruck nicht von Zufällen am Tag meines Besuches abhängen. | |
Vielleicht hatte der Mitarbeiter schlechte Laune und den Asylbewerber | |
deswegen angeschnauzt, vielleicht kannte er den Asylbewerber als | |
Nervensäge. So was kann man mit nur einem Besuch nicht einschätzen, also | |
muss man mehrmals hin. Würde man dann alle Augenscheine nacherzählen, | |
bräuchte man vielleicht 12.000 Zeichen, hat aber für die ganze Reportage | |
nur 10.000. Und kaum jemand wollte solch einen Erguss lesen. Deswegen muss | |
man verdichten. Und da kann es angemessen sein, dass ein korrekt | |
wiedergegebenes Zitat in einem verdichteten Kontext steht. Und der enthält | |
vielleicht eine Szene, die von einem anderen Augenschein stammt. | |
Ist das nicht schon eine Täuschung der Leser? | |
Ich verstehe [1][den Grund Ihrer Frage]. Auch ich bin entsetzt über die | |
Fälschungen, für die der Name Relotius steht. Aber wir sollten nicht das | |
Kind mit dem Bade ausschütten. Für das Reportageschreiben gibt es keine | |
Schreibregelverordnung. Hier geht es um eine anspruchsvolle journalistische | |
Kunstform. Und die sollten wir unter dem Relotius-Schock nicht kaputt | |
reglementieren. | |
Also wo beginnt die Täuschung? | |
Die Täuschung beginnt für mich dort, wo ich den Lesern ein X für ein U | |
vormache. Der gute Reporter, wie ich ihn verstehe, beherrscht nicht nur | |
sein Handwerk, er hat auch den Blick für Tiefenschärfe. Vielleicht lässt er | |
beim obigen Beispiel die Zeitangabe weg, wenn sie unerheblich ist. Man | |
sollte nicht lügen, aber auch keine Detailversessenheit vorspielen und ein | |
falsches Datum angeben. | |
Sie beschreiben [2][in Ihrem Lehrbuchklassiker „Die Reportage“] eine | |
Montagetechnik, bei der der Reporter mehrere Gesprächspartner im Text zu | |
einer Person zusammenfassen darf. Wieso soll das zulässig sein? | |
Sie spielen auf einen Übungstext an, bei dem der Autor einen Zocker während | |
des Pferderennens begleitete, um das Wettspiel kennenzulernen. Ganz am Ende | |
seiner Erzählung trifft der Reporter denselben Zocker wieder. In der | |
Realität hat er aber andere Zocker getroffen, diesen ersten nicht mehr. Ich | |
kam damals in der Diskussion zum Ergebnis, dass es für das Thema – wie | |
funktioniert und erlebe ich die Zockerei – unerheblich ist, ob am Schluss | |
diese oder eine andere Type, die der Autor angesprochen hat, auftaucht. | |
Wesentlich ist, dass es Zocker in der Art des „Eddy“ sind. Wenn er nun den | |
Ereignissen getreu erzählt hätte, wäre im Schlussabsatz eine neue Figur | |
aufgetreten. Ich verstehe gut, wenn man hier heute strenger denkt, seitdem | |
wir wissen, wie viel Missbrauch getrieben wird. | |
Aber diese Montage entsprach doch nicht der Realität. | |
Ich finde, die subjektiven Erzähltexte gewinnen ihre Aussagekraft durch ein | |
etwas anderes Realitätsverständnis. Ob ich drei oder fünf Leute anspreche, | |
um ein Kernmerkmal dieses Milieus oder jener Stimmung zu erfassen, liegt in | |
meiner Hand. Ich produziere keine Lügengeschichte, wenn ich | |
Verhaltensmuster durch Verdichtung herausarbeite. Ich würde aber lügen, | |
wenn ich aus zwei oder drei Protagonisten meines Themas ein Subjekt machte, | |
sie quasi aufeinanderlegte. Das wäre Fiktion. Man muss unterscheiden können | |
zwischen Kulisse und Bühne. | |
Ist diese theoretische Grenzziehung für die Reportagepraxis sinnvoll? | |
Dieser Übungstext stammt aus den 80er Jahren. In den zahllosen Workshops | |
und Seminaren der folgenden Jahrzehnte haben wir anhand dieses Beispiels | |
viel über das Kulissenspiel diskutiert und die mit dem Übungstext bezweckte | |
Schärfung der Reporterverantwortung für das, was er erzählt, auch erreicht. | |
Das war früher. Und heute? | |
Heute ist das leider anders. Das hängt wohl auch mit der Digitalisierung | |
zusammen, die den Unterschied zwischen Original und Kopie auflöst. Ich | |
beobachte, dass manche Nachwuchsjournalisten die Grenze zwischen Fakten und | |
Fiktion für fließend halten. Und manchem ist die elegante Schreibe das | |
Wichtigste. Dieser ordnet er die Tatsachen unter. Oder er verbiegt sie. | |
Oder erfindet sie. Das ist der Weg, den Claas Relotius ging. | |
Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus? | |
Wir werden in der Ausbildung den Gestaltungsraum des Reporters enger fassen | |
müssen, um solchen Missverständnissen vorzubeugen. Und ich vermute, manche | |
Redaktion wird jetzt ihren Reportern ganz pingelig vorschreiben: Wenn der | |
Satz nicht in dieser Situation von dieser Person so gesagt wurde, musst du | |
ihn weglassen. | |
In Ihrem Lehrbuch schreiben Sie über das „journalistische | |
Realitätsprinzip“. Was ist damit gemeint? | |
Es besagt für die Reportage zweierlei. Erstens, dass ich die Fakten, also | |
Aussagen über vorgefundene Gegebenheiten, nicht verfälschen darf. Zweitens, | |
dass ich mein Thema gestalten muss. Ich darf auch verdichten, um die Leser | |
zum Wesentlichen hinzuführen. Ich finde, dies macht ja auch die Qualität | |
des Reporters aus: die Realität durch die Oberfläche hindurch in ihrer | |
Tiefe verstehen. | |
Darf man mit diesem „gestalterischen Ausschöpfen“, wie es im Buch heißt, | |
die Leser täuschen? | |
Eine Reportage hat in erster Linie die Funktion, die Leser emotional | |
teilhaben zu lassen. Darum ist die Authentizität des Erzählers besonders | |
wichtig. Und das Faktische muss natürlich zutreffen. Aber vergessen Sie | |
nicht: Die Erzählung sollte das Geschehene so zur Sprache bringen, wie der | |
Reporter es erlebt hat. Er darf im Unterschied zum Berichterstatter auch | |
einseitig sein oder mal das Kleine groß, das Große klein machen. | |
Viele Journalisten sagen, dass ihre Leser und Zuschauer Geschichten | |
[3][erzählt bekommen wollen]. Was denken Sie? | |
Aus der Leserforschung weiß man, dass die meisten Leser eine | |
Darstellungsform erwarten, die der Information, dem Thema oder Sachverhalt | |
angemessen ist. Nachrichtliche Themen brauchen Berichtsformen, Exotisches | |
braucht die Erzählform, Komplexes braucht Analyse – und die Meinung steht | |
im Kommentar. Die Journalisten sollten die Stilformen als funktional | |
definierte Vermittlungsweisen wieder ernst nehmen. Deshalb sollten die | |
Formen klarer getrennt und gegenüber dem Publikum transparent gemacht | |
werden. Und die Reportage sollte wieder zur Ausnahmeform werden, sozusagen | |
das Sahnehäubchen. | |
Sie überarbeiten derzeit Ihr Handbuch zur Reportage für die neue Auflage. | |
Was werden Sie ändern? | |
Ich werde genau die mit Ihnen diskutierten Punkte stärker herausarbeiten | |
und die Grenze zwischen dem, was zulässig ist, und dem, was man sein lassen | |
sollte, schärfer ziehen. | |
11 Feb 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Der-Fall-Claas-Relotius-und-Journalismus/!5557396 | |
[2] https://uebermedien.de/34843/die-reportage-manipulationen-nach-lehrbuch/ | |
[3] /Kolumne-Macht/!5557313 | |
## AUTOREN | |
Markus Kowalski | |
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