# taz.de -- Kolumne Schlagloch: Weiße Dramaturgien | |
> Der Fall Relotius ist der Vorhof des Verbrechens. Wenn sich der | |
> europäische Blick auf andere Kulturen richtet, werden gern Legenden | |
> erzählt. | |
Bild: Über Mali wird fast immer nur aus der Perspektive der Bundeswehr bericht… | |
Wie rasch es still geworden ist um die Fälschungsaffäre beim Spiegel. Mir | |
scheint, wichtige Fragen sind noch nicht einmal aufgeworfen. Welche | |
Bedürfnisse erfüllten die gefälschten Storys von [1][Claas Relotius]? Warum | |
werden extrem personalisierte Erzählungen vom Weltgeschehen mit Preisen | |
überhäuft? Wo grenzt die Fälschung an die gewohnheitsmäßigen Legenden, wenn | |
sich der weiße Blick auf andere Kulturen richtet? | |
Was die Bedürfnisse betrifft, gibt der Text „Der Junge, mit dem der | |
Syrienkrieg begann“ einigen Aufschluss. Schon vor Relotius haben etliche | |
Medien das Schicksal der Schulkinder aufgegriffen, die 2011 in der Stadt | |
Daraa Parolen sprühten (und dann gefoltert wurden). Sie zoomen dabei stets | |
auf einen einzelnen Jungen, damit sein Drama süffig erzählt werden kann, | |
der Junge heißt mal so, mal so, und immer ist er schuld. Bei Bild heißt er | |
2013 Bashir, und auf Syrien fallen Granaten, „weil Bashir getan hat, was er | |
getan hat“. Im Spiegel heißt er Mouawiya und kämpft seit sieben Jahren „um | |
Sühne“. Weil ein „dummer Jungenstreich“ eine halbe Million Tote bewirkt | |
hat? In welches Irrenhaus sind wir hier geraten? | |
Was in Daraa 2011 geschah, ist gut dokumentiert. Die Folter an Schulkindern | |
überstieg alles, was dem Assad-Regime bis dahin zugetraut wurde; der Kampf | |
ihrer Eltern entzündete massenhafte Proteste. Dem zivilen Aufstand stand | |
niemand zur Seite, auch nicht aus dem Westen, das markiert die syrische | |
Tragödie. Sie verweist auch auf uns, aber das tut sie nicht mehr, wenn sie | |
als sinnloses Geschehen einem Kind angehängt wird, mit echten oder | |
erfundenen Schuldgefühlen. | |
Passend zum Umstand, dass sich Assad an der Macht gehalten hat, befriedigt | |
eine mit Schicksalhaftem aufgepumpte Kinder-Erzählung die bürgerliche und | |
ziemlich weiße Lust, an der bösen Welt zu leiden, ohne Folgen, ohne | |
Verantwortung. Schlimm alles da draußen! | |
## Antiaufklärerische Dramaturgien | |
Das sind antiaufklärerische Dramaturgien, und gerade sie sind schwer in | |
Mode. Auf den Einzelnen fokussieren, Komplexität abschneiden, Gefühle | |
mobilisieren, wenig Denken verlangen. Das Urmodell dafür: die deutsche | |
Austeritätspolitik mit einem Merkel-Porträt erklären. Distanz ist als | |
Haltung, als Betrachterposition, zunehmend delegitimiert worden, zugunsten | |
einer rhetorischen Unmittelbarkeit – dem vermeintlichen Blick von innen, | |
wie Relotius ihn hochtalentiert herbeifabulieren konnte. Gibt es womöglich | |
eine Verbindung zu den neoliberalen Individualismus-Exzessen, dem | |
alltäglichen Ich-Ich-Ich-Gejapse, wenn personalisierte Erzählstrukturen nun | |
dem hochkomplexen Rest der Welt übergeworfen werden? | |
Und wo beginnt da die Fälschung? | |
Aus Erlebtem, Gesagtem und Gedachtem einen Text zu komponieren, das heißt | |
immer, die Dinge in eine neue, reduzierte Ordnung bringen. Denn | |
„Wirklichkeit“, Myriaden von Gleichzeitigkeiten, ist nicht darstellbar. | |
Deshalb ist es so kindisch zu behaupten, der Slogan „Sagen, was ist“ sei | |
der Gegenpol zur Fälschung. Das Verbrechen, also die gezielte Fälschung, | |
hat einen weiten Vorhof der legalen kleinen Gaunereien. In diesem Vorhof | |
wird frisiert, geschnippelt, geföhnt, bis der Text einen tauglichen Trend | |
hat, und je ferner und fremder die Kultur, um dies es geht, desto stiller | |
die Skrupel. | |
Die junge Generation von Reporter*innen ist in vielem besser gerüstet, als | |
meine es war: mehrsprachig, weltläufig, reiseerfahren, bewundernswert mutig | |
– aber vielleicht gerade deswegen auch anfällig für Hybris. Und wer selbst | |
nicht anfällig ist, wird hineingedrängt, in diesen Mythos eines geradezu | |
übermenschlichen Vermögens, alles verstehen, alles erzählen zu können, aus | |
jedwedem kulturellen Kontext. Die Hybris anzustacheln ist kostengünstig, | |
ist viel billiger als ein Korrespondenten-Büro oder als dauerhaft | |
einheimisches Personal im Krisengebiet XY zu honorieren, Übersetzer und | |
Fixer, wie sie auf den alljährlichen Totenlisten von Reporter ohne Grenzen | |
stehen, Märtyrer für westliche Medien. | |
Als ich mein Buch „Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben“ sechs Jahre nach | |
seinem Erscheinen für eine Neuausgabe überarbeitet habe, war ich erstaunt, | |
wie wenig sich in der Zwischenzeit verändert hatte. Gewiss, Fake News und | |
ständig neue Formate, aber unverändert blüht im westlichen Journalismus die | |
kulturelle Anmaßung. Bescheidenheit wird selten honoriert, höchstens als | |
inszenierte Bescheidenheit wie bei Relotius, aber nicht indem Brüche, | |
Lücken, Unzulänglichkeiten benannt würden. Stattdessen eine | |
Einfühlungsästhetik, die manchmal koloniale Züge hat. | |
## Was gibt der weiße Journalismus ab? Nichts | |
Können wir wirklich die Welt aus der Sicht einer jemenitischen Hausfrau, | |
einer Hirtin in Bhutan oder eines alten senegalesischen Fischers erzählen? | |
Als säßen wir in deren Hirn und Herzen, als wüssten wir genug, um uns | |
hineinversetzen zu können in jemand so anderen. Die Jemenitin, die Hirtin, | |
der alte Fischer, sie kämen nicht auf diese Idee. Sie respektieren Grenzen. | |
Wir respektieren sie nicht, und das ist typisch für weißes Schreiben. | |
Und dann das Wechselspiel zwischen den medial eingeübten Gewohnheiten, die | |
Bewohner eines Landes auf eine bestimmte Weise zu sehen, und den | |
politischen und militärischen Strategien, die für dieses Land ersonnen | |
werden. Über Mali wird fast ausschließlich aus der Perspektive der | |
Bundeswehr berichtet. Wann geht dieses Framing in Fälschung über? Niemand | |
entschuldigt sich dafür bei den Maliern. So wie der Spiegel sich nie bei | |
hiesigen Muslimen für seine islamophoben Titelbilder entschuldigt hat. Die | |
Islamisierung Deutschlands war titelfähig, Jahre bevor die AfD gegründet | |
wurde. | |
In diesen Tagen ist oft von einer postkolonialen Globalisierung die Rede. | |
Museen und Ethnologen beginnen einzusehen, dass sie Kontrolle abgeben | |
müssen und nicht mehr die Zentralperspektive beanspruchen können. Was gibt | |
der weiße Journalismus ab? Nichts. Auf die Zukunft ist er schlecht | |
vorbereitet. | |
18 Jan 2019 | |
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## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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