Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Politologin über gefälschte Menasse-Zitate: „Ich habe die Quell…
> Robert Menasse erhält am Freitag die Zuckmayer-Medaille des Landes
> Rheinland-Pfalz. Auch Ulrike Guérot hat mit falschen Zitaten der
> EU-Gründer gearbeitet.
Bild: Fan einer europäischen Republik: Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot
taz: Frau Guérot, Sie waren über Silvester im Urlaub. Wie haben Sie die
Debatte über [1][Robert Menasse und seine falschen Walter-Hallstein-Zitate]
erlebt?
Ulrike Guérot: Ich habe in Indien nicht viel davon mitbekommen. Auf dem
Zwischenstopp in Dubai hat mich aber Ansgar Graw von der Welt auf dem Handy
angerufen, dem ich ein kurzes Interview gegeben habe.
[2][Graw hatte herausgefunden], dass Menasse und Sie ein falsches Zitat des
EU-Gründers Walter Hallstein verwendet haben: „Die Abschaffung der Nation
ist die europäische Idee!“ Sie haben Graw gesagt, dass in dem FAZ-Text von
2013, in dem das Zitat auftaucht, Menasse und Sie jeweils einen Textteil
zugeliefert haben, Sie aber Menasses Teil mit dem Zitat nicht überprüft
haben.
Mein zweiter Satz war, dass ich mich mit Robert bezüglich seiner
Interpretation solidarisiere, was Hallstein mit seinen Reden wollte – wie
auch immer er sie fälschlich zusammengefasst hat. Und als drittes habe ich
mich gewundert, warum ein Artikel von 2013 sechs Jahre später auf einmal
Gegenstand solcher Debatten wird.
Der Historiker Heinrich August Winkler hat dazu schon 2017 im Spiegel
geschrieben und Menasse, Jakob Augstein und Ihnen gleich mehrere falsche
Hallstein-Zitate vorgeworfen. Den kennen Sie?
Natürlich, ich lese ja die Presse des Landes. Ich fühlte mich zunächst
nicht dazu berufen, zu antworten, weil der Artikel hauptsächlich gegen
Robert ging. Dann rief aber Jakob Augstein an und wollte von uns eine
Replik. Die habe ich geschrieben, und Robert ist drübergegangen. Aber sie
ist nur im Freitag statt im Spiegel erschienen, wo sie kaum jemand gelesen
hat. Weswegen Herr Augstein mir noch ein Abendessen schuldet.
Sie haben aber nichts zu den Zitaten geantwortet?
Ich habe mich dagegen gewehrt, in so eine „An die Wand, wo sind die
Quellen?“-Situation zu kommen. Weil Winkler gegen unser „Europa der
Regionen“ argumentiert hat, wollte ich das ausdifferenzieren. Dass es uns
natürlich nicht darum geht, Regionalnationalismus zu proklamieren. Das
Entscheidende an der Römischen Rede von Hallstein von 1964 war, dass
Hallstein offensichtlich vermeiden wollte, dass wir wieder in eine
Situation kommen, wo große Nationalstaaten die kleinen Nationalstaaten
dominieren und diese in wirtschaftliche Konkurrenz zueinander treten.
Nichts passt besser auf die heutige Situation Europas als diese
Befürchtung von Hallstein.
Dann ist die Zitatfrage aber noch immer ungeklärt. Sie haben ein falsches
Hallstein-Zitat auch in eigenen Texten verwendet: „Ziel Europas ist und
bleibt die Überwindung der Nationen und die Organisation eines
nachnationalen Europas.“
Ja, aber nicht mehr in jüngerer Zeit.
Sie haben es herausgenommen, als Sie gemerkt haben, die Quellen stimmen
nicht?
Nein, ich habe die Quellen nie überprüft. Ich habe es auch gar nicht
bewusst herausgenommen.
In Ihrem Beitrag zum Buch „Europa jetzt!“ von 2018 steht das falsche
Hallstein-Zitat noch einmal drin, sogar mit einer Quellenangabe „Walter
Hallstein: Die EWG im Jahre 1964“. Das Archiv der Europäischen Union in
Florenz kennt den Titel nicht.
Okay. Dann kann es sein, dass Sie mich in der Falle haben. Ich schreibe
sehr viele Artikel. Und dann schleppt man Versatzstücke mit sich herum,
eine Art Zettelkasten, und dann schleicht sich so etwas ein wie ein
Trojaner im Computer. Ich vermute, dass ich das Zitat aus Texten von Robert
habe und mit einer Quellenangabe zitiert habe, die ich nicht überprüft
habe.
Es gibt noch ein zweites Zitat, auf das Menasse und Sie sich öfter berufen,
von EU-Gründervater Jean Monnet. Demnach soll Monnet gesagt haben, dass
„nationale Interessen nichts anderes sind als die kurzsichtigen
ökonomischen Interessen nationaler Eliten, deren Befriedigung die eigene
Population und die Populationen anderer Nationen in der Buchhaltung dieser
Ökonomie zu Abschreibposten, im konkreten Leben zu Opfern macht“. Menasse
sagt, das sei vermutlich aus Monnets Autobiografie. Dort steht es aber
nicht.
Das ist auch ein Satz aus dem Menasse-Fundus, den ich übernommen habe, weil
er plausibel ist. Ich war 1994 Mitarbeiterin im Büro des
CDU-Bundestagsabgeordneten Karl Lamers. Damals wurde das sogenannte
Lamers-Papier publiziert. Da steht – aus dem Gedächtnis zitiert – der Satz
„Bis die Franzosen verstanden haben, dass die Nationalstaaten nur noch eine
leere Hülse sind“ drin. Das sagt heute weder ein Jens Spahn noch eine
Annegret Kramp-Karrenbauer noch sonst jemand. Daran kann man sehen, wie
sich über 30 Jahre hinweg die Europadebatte verschoben hat. Und es erklärt
die Plausibilität solcher Sätze für mich. Ich bin in einer Bundesrepublik
sozialisiert worden, die ein politisches Europa als Staatsräson verhandelt
hat.
Aber Sie sind Wissenschaftlerin. Die beiden Zitate spielen immer wieder
eine Rolle in Ihrer Argumentation. Warum schauen Sie die Quellen nicht
nach?
Das war Nachlässigkeit von mir, dafür entschuldige ich mich. Das hat mir
schon geschadet und wird mir weiter schaden. Vielleicht habe ich die
Quellen nicht nachgesehen, weil sich die Zitate fest im Gedächtnis
verankert haben. Etwas, das man nicht mehr infrage stellt und auch lange
Zeit von niemandem infrage gestellt wurde. Bis sich die Einstellung zu den
Zitaten ändert, sodass auf einmal jemand anfängt nachzubohren – weil es auf
einmal ein Interesse gibt, eine bestimmte europäische Erzählung infrage zu
stellen.
Heinrich August Winkler vertritt in der Europafrage schon lange eine andere
Position als Menasse und Sie. Ihm fällt Ihr Zitat irgendwann auf, er
schreibt den Spiegel-Artikel. Als Ansgar Graw eines Ihrer Zitate noch
einmal in der Welt verwendet, ruft Winkler auch bei ihm an. Dann beginnt
die Debatte.
Und dann ist Patrick Bahners in der FAZ noch darauf eingestiegen. Ich kann
mich nur wiederholen – die Zitate zu verwenden war unzulässig, und ich
zahle einen Preis dafür.
Was Menasse und Sie mit den beiden Zitaten betrieben haben, könnte man mit
dem britischen Historiker Eric Hobsbawm „Invention of tradition“ nennen:
Hobsbawm hat das vor allem auf Nationalstaaten bezogen, die eine
Vorgeschichte erfinden, um sich zu legitimieren. Sie machen das
ironischerweise für die post-nationale EU. Um zu begründen, warum die
Nationalstaaten obsolet seien, erfinden Sie Zitate der Gründerväter, die
eben das gedacht hätten. Wir alle müssten nur zu den Wurzeln der EU zurück,
lautet Ihre Argumentation.
Postnational ist kein Begriff von mir. Nachnational ist der Begriff von
Robert Menasse, aber nicht meiner. Das ist mir wichtig. Nachnational klingt
schon nicht gut, so fleischlos.
Jedenfalls geht es um ein Europa, das die Nationalstaaten überwinden soll.
Menasse und Sie sagen, das haben die Gründerväter gewollt. Dann haben wir
es vergessen.
Gut, die Grauzone ist irgendwo dazwischen. Hallstein hat definitiv keine
wirtschaftliche Konkurrenz zwischen Nationalstaaten gewollt, wenn ein
Europa zugunsten der Bürger gemacht werden soll. Und es gibt doch nicht nur
Hallstein und Monnet. Es gab Robert Schuman und Altiero Spinelli. Es gab
das Hertensteiner Programm, das Manifest von Ventotene. Es tut mir leid,
wenn mein Diskursangebot jetzt diskreditiert ist. Aber die Europäische
Republik, die ich vorschlage, bedeutet die Verwirklichung des allgemeinen
politischen Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger als
Voraussetzung für eine europäische Demokratie. Das ist mein Diskursangebot
seit 2012. Dafür finde ich belastbare Quellen im Hertensteiner Programm von
1947 und im Manifest von Ventotene 1944.
Sie haben der Welt gesagt, es ginge Ihnen inzwischen nur noch darum,
„Nation nicht ethnisch einzugrenzen“.
Mein Buch „Warum Europa eine Republik werden muss“ hat eine zentrale
Forderung: Wenn wir auf diesem Kontinent eine europäische Demokratie
begründen wollen, müssen die Bürgerinnen und Bürger gleichberechtigt sein.
Gleich bei Wahlen, gleich bei Steuern, gleich beim sozialen Zugang. Als
gleichberechtigte Bürger könnten sie der eigentliche Souverän des
politischen Systems Europa werden – und nicht mehr der EU-Rat. Das würde
alle heutigen Konflikte vom Brexit bis zur italienischen Krise lösen. 2017
habe ich „Der neue Bürgerkrieg“ geschrieben mit der These: Wir haben keine
Renationalisierung, die Nationen sind stattdessen alle entlang der
europäischen Frage gespalten. Großbritannien durch den Brexit. In
Frankreich: Front National gegen Macron. In Deutschland: Pulse of Europe
gegen Pegida. Das liegt auch daran, dass es eine Verschiebung von einer
zivilen Definition einer Nation zu einer völkisch-ethnisch-identitären
gegeben hat. Erinnern Sie sich, als Heiko Maas bei Günther Jauch war und
Björn Höcke seine Deutschlandfahne ausgepackt hat?
Ja.
Maas rückte angewidert weg, als Höcke sich auf die Fahne setzte. Ich habe
zu Hause gedacht: Mein Gott, er hätte sagen müssen: Herr Höcke, geben Sie
mir ein Stück von der Fahne ab, ich habe auf diese Fahne einen Eid
geschworen, damit diese Fahne Ihnen die Meinungsfreiheit garantiert, die
Sie gerade genießen. Sie sind nicht das Volk, ich bin es auch.
So ähnlich fordert das auch der US-Historiker Mark Lilla.
Lilla ist einer der klügsten liberalen Denker. Er will einen New
Republicanism. Der Republicanism definiert die zivile Komponente von
Nation. Kürzlich gab es in den USA eine linke Demonstration gegen den
Trump’schen Protofaschismus. Jemand brachte die US-Fahne als Fahne der
Freiheit gegen den Trump’schen Populismus mit – und ist von seinen linken
Freunden angegriffen worden. Das ist der Punkt: Which eye is your eye on
the flag? Denken Sie dabei an das Trump’sche „America first“, oder ist die
Fahne noch die Freiheit der Vereinigten Staaten? Das hat Maas in dieser
Situation verbaselt. Er hat die Fahne der Bundesrepublik Deutschland
kampflos Höcke als Deutschlandfahne überlassen. Die Fahne gehört jetzt den
Populisten. Aber wir brauchen die Fahne als republikanische Fahne zurück.
Und deswegen arbeite ich ja auch über eine Europäische Republik.
Wie geht das mit Ihren Vorstellungen von Europa zusammen – wollen Sie den
Nationalstaat noch überwinden?
Die Nationalstaaten in ihrer heutigen Verfasstheit. Für einen europäischen
Nationalstaat, wenn wir so nennen wollen, bräuchten wir eine vollständige
Parlamentarisierung Europas. Das ist nicht utopisch. Auch Manfred Weber,
der jetzt Spitzenkandidat für die EVP-Fraktion ist, hat das vor Kurzem in
seinem Interview im Spiegel gefordert. Außerdem brauchen wir die
„Institutionalisierung von Solidarität“ auf europäischer Ebene. Genau das
ist die Definition einer Nation von Marcel Mauss. Heute sind die
Sozialsysteme in den heutigen Nationalstaaten organisiert. Manchmal wünsche
ich mir Helmut Kohl zurück. Er hat verstanden, dass europäische
Errungenschaften institutionalisiert werden müssen. Jemanden wie ihn
bräuchten wir jetzt für die europäische Arbeitslosenversicherung oder den
europäischen Mindestlohn.
17 Jan 2019
## LINKS
[1] /Autor-Robert-Menasse-erfand-Zitate/!5560165
[2] /Schriftsteller-erfand-Politiker-Zitate/!5560166
## AUTOREN
Martin Reeh
## TAGS
Robert Menasse
EU
Zitate
Fälschung
Lesestück Interview
Verschwörungsmythen und Corona
Claas Relotius
Robert Menasse
Robert Menasse
Robert Menasse
Claas Relotius
## ARTIKEL ZUM THEMA
Plagiate von Politologin Ulrike Guérot: Guérots Kündigung war rechtens
Die Politologin Ulrike Guérot scheitert mit einer Klage gegen ihre
Kündigung durch die Uni Bonn. Sie war mit Kritik an den Coronaregeln
bekannt geworden.
Relotius, Menasse und der Roman „Stella“: Wunsch nach Lektüreporn
Betrogen hat Takis Würger mit seinem Roman „Stella“ natürlich nicht.
Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten mit den Fällen von Relotius und Menasse.
Zuckmayer-Medaille für Robert Menasse: „Was soll ich armes Schwein sagen?“
So heftige Kritik war selten bei einer Preisverleihung. Aber eine
Entschuldigung sollte angenommen werden, sagt die rheinland-pfälzische
Regierungschefin Dreyer.
Skandal um gefälschte Zitate bei Menasse: „Das Buch steht in Brüssel“
Hat Robert Menasse noch weitere Zitate erfunden? Bei der Recherche nach
seinen Quellen ist der Schriftsteller nur bedingt hilfsbereit.
Robert Menasse und die gefälschten Zitate: Eine Medaille gibt es dennoch
Trotz des Fälschungsskandals hält Rheinland-Pfalz an der Verleihung der
Zuckmayer-Medaille an Menasse fest. Er hatte Zitate frei erfunden.
Kolumne Liebeserklärung: Danke, Faktenprüfer
In der „Spiegel“-Affäre kamen Faktenfinder schlecht weg. Der Fall Menasse
zeigt, wie wichtig es ist, dass es sie gibt: Menschen, die nachschlagen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.