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# taz.de -- Funde menschlicher Überreste in Berlin: Wohin mit den Knochen?
> Auf dem Gelände der Freien Universität wurden 16.000 Knochenfragmente
> gefunden. Nun fragt sich: Soll man sie weiter erforschen – oder
> bestatten?
Bild: Gedenktafel am Otto-Suhr-Institut in Dahlem, wo sich früher das Kaiser-W…
Berlin taz | Irgendwann bringt es [1][Roxana-Lorraine Witt] auf den Punkt.
„Aus meiner Sicht muss Menschlichkeit im Vordergrund stehen.“ Die ehemalige
Leiterin des Referats für Bildung beim Dokumentations- und Kulturzentrum
Deutscher Sinti und Roma plädiert für eine kollektive Bestattung der 16.000
Knochenfragmente, die auf dem Gelände der Freien Universität (FU) in Dahlem
gefunden wurden.
Der Hintergrund: Es ist sicher, dass die Menschen, deren Überreste hier
gefunden wurden, Opfer von Gewaltverbrechen waren. Die Fundstellen befinden
sich neben dem ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie,
menschliche Erblehre und Eugenik, in dem sich zahlreiche medizinische
Sammlungen kolonialgeschichtlicher Provenienz befanden, das aber auch
eifrig an der Legitimation für die nationalsozialistische Rassenpolitik
mitarbeitete.
Sogar der berüchtigte Lagerarzt [2][Josef Mengele], der unter anderem
jüdische und Sinti- und Roma-Zwillingskinder quälte und ermordete, hat
Leichenteile zur Untersuchung ans Kaiser-Wilhelm-Institut schicken lassen.
Heute befindet sich in dem Gebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts das
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FU.
Es ist ein sonniger Dienstagnachmittag, und trotzdem haben sich zur
dreistündigen öffentlichen Diskussion per Videokonferenz auf Initiative von
FU und Max-Planck-Gesellschaft, der Rechtsnachfolgerin des
Kaiser-Wilhelm-Instituts, etwa 250 Menschen aus aller Welt eingefunden.
## Die ersten Funde wurden bestattet
Der Fall ist spektakulär. Denn die 16.000 Fragmente haben eine umstrittene
Vorgeschichte. Bereits im Sommer 2014 wurden bei Bauarbeiten menschliche
Überreste von mindestens 15 Personen gefunden. Bei den Überresten befanden
sich zehn runde Marken mit handschriftlichen Ziffern, außerdem eine Ampulle
mit Resten eines Lokalanästhetikums. Trotzdem wurde ein halbes Jahr später
bekannt, dass die Knochenreste auf Veranlassung des Berliner
Landesinstituts für gerichtliche und soziale Medizin ohne weitere
Untersuchung eingeäschert und bestattet wurden.
Daraufhin brach 2015 ein Shitstorm los. Die Knochen, so der Vorwurf an die
FU, hätten erforscht werden müssen. Die FU fühlte sich getroffen und
veranlasste die archäologische Begleitung weiterer Baumaßnahmen und
Grabungen, über die an diesem Nachmittag die US-amerikanische Archäologin
Susan Pollock spricht, Professorin am Institut für Vorderasiatische
Archäologie der FU. Die Fragmente seien inzwischen gesäubert, gewogen,
untersucht.
Sie stammen, so Pollock, von mindestens 54 bis 107 Kindern, Frauen und
Männern jedes Alters. Nach Pollocks Vortrag entspinnt sich im Grunde
dieselbe Kernfrage, die seit 2014 diskutiert wird, die aber immer mehr
öffentliches Interesse weckt: Was sollen wir mit diesen so grausigen wie
traurigen Funden tun? Sollen wir endlich aufhören, sie zu objektivieren,
sie etwa invasiv zu erforschen, und sie stattdessen würdevoll bestatten?
Nicht nur die Vertreter*innen der FU, sondern auch viele der Anwesenden
in der Videokonferenz sprechen sich anders als die Kritiker*innen 2015
für Letzteres aus. Die individuellen Biografien dieser Menschen lassen sich
ohnehin nicht mehr rekonstruieren, so das Argument. Und wenn lediglich ein
kolonialer oder ein NS-Zusammenhang festgestellt würde, dann hätte man eben
jene rassistischen Raster bedient, die zum Tod dieser Menschen führten.
## Es gibt auch Argumente gegen die Bestattung
Das sehen selbst Vertreter*innen afrodeutscher Communitys wie [3][Tahir
Della] von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland so. Und das,
obwohl sie viel zu lang von Institutionen wie FU und
Max-Planck-Gesellschaft ignoriert wurden. Und auch, obwohl die Entstehung
der Sammlungen des Kaiser-Wilhelm-Instituts in den ehemaligen deutschen
Kolonien hinlänglich bekannt ist. Della schreibt im Chat, er würde eine
kollektive Bestattung „als Möglichkeit sehen“.
Trotzdem gibt es auch an diesem Nachmittag eine Seite, die sich eher gegen
die Bestattung der Funde ausspricht, allen voran der britische
Medizinhistoriker Paul Weindling, der sich als Enkel eines
Holocaust-Überlebenden einführt. Erst kürzlich hat er eine Reihe von
Artikeln über die besagten Zwillinge veröffentlicht, in denen es um
Zeitpunkt und Ausmaß der Verbrechen sowie um den Mangel an Entschädigungen
geht. Er schreibt im Chat, die angestrebte Anonymisierung der Opfer sei ein
Schock für ihn.
Anderntags fasst Weindling gegenüber der taz nach: „Das Opfer sollte immer
zentral sein. Identifikation ist entscheidend.“ Die Quellen zur
Krankengeschichte der Zwillinge und was sie durchgemacht haben, seien
bislang unzureichend untersucht worden. Auch seien die Knochen in Hinblick
auf Krankheiten nicht erforscht worden, was angesichts der experimentellen
Infektionen in Auschwitz viele Rückschlüsse zuließe.
Auch Florian Schmaltz, Projektleiter des Forschungsprogramms „Geschichte
der Max-Planck-Gesellschaft“, gibt zu bedenken: Was, wenn man die DNA
dieser Knochen doch analysieren könnte? Was, wenn wir in einigen Jahren
über immer bessere Technik verfügen, um die Herkunft menschlicher Überreste
genauer zurückzuverfolgen, als wir uns dies derzeit vorstellen können?
So oder so: Der Dialog zwischen den Institutionen und den Opferverbänden
und Selbstorganisationen hat endlich begonnen. Und das ist wahrscheinlich
der zentrale Dialog. Nur er wird die knifflige Frage nach dem Umgang mit
den Knochen beantworten können.
24 Feb 2021
## LINKS
[1] /Archiv-Suche/!5665891&s=roxanna+lorraine&SuchRahmen=Print/
[2] /Roman-ueber-NS-Verbrecher-in-Argentinien/!5078066
[3] /Archiv-Suche/!5388543&s=tahir+della&SuchRahmen=Print/
## AUTOREN
Susanne Messmer
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Provenienzforschung
Postkolonialismus
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Schwerpunkt Völkermord an den Herero und Nama
Deutscher Kolonialismus
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