| # taz.de -- Debatte um Holocaust und Kolonialismus: Lob des Zweifels | |
| > Die Debatte um das Verhältnis von Holocaust- und Kolonialismus-Erinnerung | |
| > ist von Opferkonkurrenz geprägt – und wird zu unversöhnlich geführt. | |
| Bild: Das Holocaust-Mahnmal in Berlin | |
| Michael Rothbergs nun in deutscher Sprache erschienenes Buch | |
| „Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der | |
| Dekolonisierung“ hat, so scheint es, [1][die sogenannte „Mbembe-Debatte“ | |
| noch einmal angefacht]. Oder besser gesagt: Sie hat die Debatte, die zu | |
| großen Teilen eine Aneinanderreihung sich unversöhnlich gebender | |
| Positionen war, weiter in die Richtung der Unversöhnlichkeit gelenkt. | |
| Nachdem Achille Mbembe im vergangenen Jahr [2][ins Zentrum einer | |
| polemischen Debatte] um seinen – angeblichen oder tatsächlichen – | |
| Antisemitismus gerückt worden war, verlaufen die Frontlinien nun entlang | |
| von Rothbergs Thesen zur Notwendigkeit einer aufeinander bezogenen | |
| Erinnerungskultur von Holocaust und Kolonialismus im postkolonialen | |
| Zeitalter. | |
| Im Zentrum der Diskussion steht erneut die Frage, inwiefern der Vergleich | |
| (nicht: Gleichsetzung) von Antisemitismus und Holocaust mit Formen des | |
| Rassismus und Kolonialismus die Singularität von Ersterem relativiere. | |
| Rothbergs wohlgesinnte, aber keineswegs unkritische Analyse antikolonialer, | |
| sich antirassistisch verstehender Intellektueller wie etwa Frantz Fanon, | |
| Aimé Césaire oder W. E. B. Du Bois und ihrer Positionierung zur Vernichtung | |
| der europäischen Jüdinnen und Juden erscheint manchen als Banalisierung der | |
| Shoah, insbesondere im deutschen Erinnerungsdiskurs. | |
| Lassen wir mal beiseite, ob man ausgerechnet Michael Rothberg, dem | |
| jüdisch-US-amerikanischen Professor für Holocaust-Studien Verharmlosung des | |
| Antisemitismus vorwerfen kann. Bemerkenswert ist, dass sich in diesen | |
| erbitterten Kämpfen um die Deutungshoheit der deutschen, europäischen und | |
| globalen Geschichte erstaunlich wenige Historiker:innen zu Wort | |
| gemeldet haben. [3][Andreas Eckert, Professor für die Geschichte Afrikas in | |
| Berlin, war eine Ausnahme.] | |
| ## Ein „zweiter Historikerstreit“ | |
| Woran liegt das? Die Sphären der Erinnerungskultur und der | |
| Geschichtswissenschaft bewegen sich, trotz ihrer gemeinsamen Bezugnahme auf | |
| das Vergangene, in zwei unterschiedlichen Diskursräumen. Dafür ist Rothberg | |
| ein gutes Beispiel. Obwohl er sich zur Unterfütterung seiner These von der | |
| Notwendigkeit der dialogischen Erinnerung historischer Beispiele bedient, | |
| betont er regelmäßig, dass er kein Historiker sei, sondern ein „historisch | |
| informierter Literaturwissenschaftler“. | |
| Man könnte daher einwenden, dass es sich bei dieser Debatte mitnichten um | |
| einen „zweiten Historikerstreit“ handelt – es sind, wie auch Eckert richt… | |
| beobachtete, nämlich öffentlich kaum Historiker*innen unter den | |
| mittlerweile vielfältigen Stimmen zu vernehmen. | |
| Dabei gehört die Erforschung der Unterschiede und Verschränkungen von | |
| Kolonialismus und Nationalsozialismus und der ihnen zugrunde liegenden | |
| Ideologien schon seit geraumer Zeit zur geschichtswissenschaftlichen | |
| Praxis. Ein gutes, da nüchternes Beispiel hierfür ist etwa [4][die Studie] | |
| zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der kolonialrassistischen | |
| beziehungsweise antisemitischen Aufladung zentraler Topoi wie etwa „Arbeit“ | |
| von Felix Axster. | |
| ## Jenseits der Opferkonkurrenz | |
| Kann also der historisierende Blick der aktuellen Unversöhnlichkeit im | |
| Hinblick auf die Reizwörter „Singularität“, „Opferkonkurrenz“, | |
| „Relativierung“ und „Gleichsetzung“ etwas entgegensetzen? Das hängt ga… | |
| von der Bereitschaft des nichtwissenschaftlichen, jedoch historisch | |
| interessierten Publikums ab, sich mit den Ambivalenzen von Geschichte, | |
| ihrer Verflechtungen und verwirrenden Widersprüchlichkeiten | |
| auseinanderzusetzen, ohne in die letztlich unfruchtbare Debatte um | |
| historische und gegenwärtige Opferkonkurrenzen in Geschichte und Erinnerung | |
| zu verfallen. | |
| Auch in Bezug auf den Widerstand gegen (Kolonial-)Rassismus und | |
| Antisemitismus können wir historisch auf zahlreiche Beispiele für | |
| Verschränkungen verweisen. Berühmt ist die Solidarisierung jüdischer | |
| US-Amerikaner:innen mit der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King in | |
| den 1960er Jahren. [5][In vorderster Front war der 1939 aus Berlin | |
| geflohene Rabbiner Abraham Joshua Heschel dabei.] | |
| [6][Ein weiteres, wenig bekanntes Beispiel aus meiner eigenen Forschung:] | |
| In den 1930er Jahren bezogen sich in London ansässige Schwarze | |
| Aktivist*innen und Intellektuelle aus den damaligen britischen | |
| Kolonien, etwa Jomo Kenyatta, der spätere erste Präsident Kenias, vielfach | |
| auf die Verfolgung der Jüdinnen und Juden im Nazi-Deutschland. Einerseits | |
| wollten sie auf die Bedingungen in den britischen Kolonien aufmerksam | |
| machen, andererseits Solidarität mit den entrechteten Jüdinnen und Juden | |
| bekunden. | |
| ## Mehr Ambivalenz, bitte | |
| Diese Solidarität wurde übrigens von der Londoner jüdischen Bevölkerung auf | |
| Demonstrationen Schwarzer, antikolonialer Organisationen gegen die | |
| britische Kolonialpolitik in den 1930er Jahren erwidert. | |
| Angesichts der momentanen Unversöhnlichkeit erinnerungspolitischer Debatten | |
| mögen diese Beispiele auf den ersten Blick überraschen. Doch wieso | |
| eigentlich? Gebietet die ambivalente historische Realität es nicht, dass | |
| wir uns auch im erinnerungspolitischen Kontext über Kontinuitäten und | |
| Brüche von Holocaust, Antisemitismus, Kolonialismus und Rassismus | |
| wenigstens Gedanken machen, uns die (mal besseren, mal schlechteren) | |
| Argumente für eine stärkere Verschränkung anhören, ohne gleich auf der | |
| Absolutheit der eigenen Position zu beharren? | |
| Die gegenwärtigen Erinnerungsdebatten könnten jedenfalls auf allen Seiten | |
| ein wenig mehr Zweifel, ein wenig mehr Reflexion über ihre eigene Genese | |
| und ihre Grundannahmen gut gebrauchen, ohne direkt eine bestimmte | |
| Opfergruppe in ihrer spezifischen historischen Erfahrung abzuwerten. | |
| Michael Rothberg hat das – banal, aber dennoch treffend für die | |
| gegenwärtige Debatte – auf den Punkt gebracht: „Es ist möglich, sich an | |
| mehr als eine Sache zu erinnern.“ Angesichts der vielfältigen Gesellschaft, | |
| in der wir leben, ist dies nötig. | |
| 30 Mar 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.zeit.de/kultur/2021-03/michael-rothberg-multidirektionale-erinn… | |
| [2] https://www.deutschlandfunk.de/debatte-darum-geht-es-beim-streit-um-achille… | |
| [3] https://www.bpb.de/apuz/146975/rechtfertigung-und-legitimation-von-kolonial… | |
| [4] https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27123 | |
| [5] https://de.wikipedia.org/wiki/Abraham_Joshua_Heschel | |
| [6] https://geschichtedergegenwart.ch/kolonialismus-und-nationalsozialismus-zur… | |
| ## AUTOREN | |
| Gil Shohat | |
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