# taz.de -- Debatte um Erinnerungskultur: Lob der Verunsicherung | |
> Die Bezeichnung „zweiter Historikerstreit“ für die Debatte über Shoah u… | |
> Kolonialverbrechen ist irreführend. „Singularität“ taugt nicht als Waff… | |
Bild: Das KZ Buchenwald | |
Ich bin alt genug, um den Historikerstreit von 1986 erlebt zu haben. Die | |
Zeit, da es als Nestbeschmutzung galt, aus der NS-Geschichte moralische | |
Forderungen abzuleiten, war eben erst vorbei; im Bundestag saß noch die | |
Stahlhelmfraktion, Gestalten wie Alfred Dregger, der auf die Wehrmacht, in | |
der er selbst Kommandeur war, nichts kommen ließ. | |
So war die Atmosphäre, als Revisionisten um [1][Ernst Nolte] den Judenmord | |
kleinzureden suchten; sie wollten Verantwortung von Deutschland | |
wegschieben, zum Wohle eines unbeschwerten Nationalbewusstseins. Und sie | |
reklamierten als Historiker ein Monopol auf Geschichtsdeutung. Die Anliegen | |
in der jüngsten Debatte über [2][Shoah und Kolonialverbrechen] sind völlig | |
andere, sind eher gegenteilig, weshalb die Bezeichnung „zweiter | |
Historikerstreit“ irreführend ist. | |
Es geht nicht um weniger, sondern um mehr Verantwortung für vergangene | |
Untaten, nicht um die Beruhigung des nationales Selbstbilds, sondern um | |
zusätzliche Verunsicherung. Und die Geschichtsdeutung soll partizipativer | |
werden, den (weißen) Historikern entwunden. Warum ist dennoch der Vergleich | |
mit dem Streit von damals so beliebt? Weil er die süffige Idee nahelegt: | |
Einst relativierte die Rechte, heute die Linke. | |
Wie sich die Shoah zur allgemeineren europäischen Gewaltgeschichte verhält, | |
darüber wird weltweit seit 70 Jahren nachgedacht. Abschließende Antworten | |
dazu kann es nicht geben – und gewiss nicht vonseiten eines Deutschlands, | |
das nun gerade erst verspätet und zögerlich dem Umstand ins Auge blickt, in | |
seiner kurzen Kolonialepoche ein hohes Maß an Vernichtungspotenzial | |
entfaltet zu haben. | |
Erst recht steht niemandem gut zu Gesicht, das Attribut der Singularität | |
des Holocausts als Waffe zu benutzen, als Dogma, vor dem sich verneigen | |
muss, wer nicht als anti-jüdisch oder kaltherzig gelten will. Die | |
Besonderheiten der Shoah sind unstrittig definiert: die Totalität des | |
Vernichtungswillens, die Systematik des Mordprogramms, dessen enorme | |
geografische Reichweite und die Einbeziehung der Volksgemeinschaft in die | |
Verbrechen. Dies kann man präzedenzlos nennen, doch ob man es tut oder | |
nicht: | |
Die historische Bedeutung des Holocausts bleibt gleich. Im Milieu der | |
antirassistisch oder postkolonial Bewegten halten manche an der | |
Singularitätsthese fest, andere nicht – und beides ist legitim. Ich zähle | |
mich zur ersten Gruppe, doch ist mir die Problematik des Begriffs heute | |
bewusster als früher. Denn als „Zivilisationsbruch“, als bis dato | |
einzigartigen „Zusammenbruch der Moderne“ kann die Shoah nur betrachten, | |
wer die Gewaltexzesse der Moderne außerhalb Europas ausblendet. | |
Zehn Millionen Tote im Freistaat Kongo, war nicht auch das präzedenzlos? | |
Und dafür wird Leopold II. geehrt auf seinem Reiterstandbild in Brüssel, im | |
Herzen der EU? Der US-Historiker David Stannard bezeichnete die Ausrottung | |
der Indigenen des amerikanischen Kontinents als „amerikanischen Holocaust“ | |
– das war in den 90er Jahren. Gegen diese Analogie wandte [3][Yehuda Bauer] | |
ein: | |
Während den Judenmord gerade seine Nichtnützlichkeit kennzeichnet, sei bei | |
der Ausrottung der Indigenen der beabsichtigte Nutzen durch die Gier nach | |
Gold evident. Aber spielte der christliche Überlegenheitswahn von Cristóbal | |
Colón und seinen Nachfolgern nicht eine ebenso große Rolle? Ein religiöser | |
Rassismus, der sich jenseits ökonomischer Logik in tollwütigem Gemetzel | |
entlud? Sind deren Opfer nur Kollateralschäden eines ansonsten rationalen | |
europäischen Expansionsstrebens? | |
## Denkmal für einen Massenmörder | |
In die Charakterisierung von Täterschaft geht unweigerlich auch das | |
Weltbild des Betrachters ein. Problematisch ist der Begriff Singularität | |
gleichfalls, wenn daraus eine Exklusivität jüdischer Opfer resultiert. Und | |
eine Hierarchisierung zeigt sich, fern von Kolonialvergleichen, bereits | |
durch die Vernachlässigung des Porajmos, dem eine halbe Million Roma und | |
Sinti zum Opfer fielen. Nach einer Formulierung von Goebbels wurden sie wie | |
die Juden „schlechthin vernichtet“, „artfremden Blutes“ auch sie. | |
Kaum auffindbar ihr Gedenkort im Berliner Tiergarten, unweit des | |
[4][monumentalen Mahnmals für die jüdischen Opfer]. Wer heute insistiert, | |
Antisemitismus und Rassismus seien nicht wesensähnlich, mag an dieser | |
Architektur der Differenz Gefallen finden. Auf der Spezifik der Shoah und | |
des Antisemitismus zu bestehen, bedeute keine Abwertung anderer | |
Großverbrechen – das ist ja richtig. Aber wer die Aussage trifft, sollte | |
ehrlicherweise hinzufügen: Bisher ist das eine hohle Phrase. | |
Die Bundestagsmehrheit, SPD inklusive, verweigert gerade erneut eine | |
Entschuldigung für den [5][Genozid in Namibi]a, ebenso die Übernahme von | |
Verantwortung für die Massaker im ostafrikanischen Maji-Maji-Krieg. Wir | |
leben in einer Zeit des weithin folgenlosen decolonize-Geredes. Gerade das | |
macht jene Stimmen so schmerzhaft unseriös, die sich nun hinter | |
Singularität verschanzen. Und warum sollte es die Deutschen entlasten, wenn | |
sie lernen, auf die Shoah etwas weniger deutsch zu blicken? | |
Schuldabwehr existiert heute massenhaft, jeder zweite Deutsche sieht die | |
eigene Familie rückblickend auf der Opferseite. Relativierung ist | |
Breitensport, ganz ohne Postkoloniale. Und natürlich kann es trotz | |
Globalisierung einen spezifisch deutschen Debattenraum geben – nur nicht im | |
Duktus „Wir lassen uns in unsere Shoah nicht hineinreden.“ | |
Dies alles ist also kein „Streit“, den es rasch beizulegen gälte, sondern | |
der notwendige Beginn eines langen, schwierigen und offenen Prozesses: die | |
Suche nach einem Geschichtsverständnis für eine Periode nachlassender | |
weißer Dominanz. Hören wir dabei auf konstruktive und inklusive Stimmen – | |
denn niemand in Deutschland muss sich entscheiden zwischen besonderer | |
Sensibilität für die Shoah und Empathie für die Folgen des Kolonialismus. | |
17 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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