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# taz.de -- Ausstellung in der Neuen Synagoge Berlin: Es bleibt in der Familie
> 75 Jahre Befreiung von Auschwitz: Die Ausstellung „Family Business“
> zeigt, wie jüdische Künstler:innen auf ihre Familiengeschichte blicken.
Bild: Anna Schapiros Bilder zwischen Malerei und Skulpturen stellen die Frage n…
Ein unglaublich sattes Blau ist die dominierende Farbe auf den Bildern von
Anna Schapiro. Bei der Draufsicht wirken sie wie ein aufgewirbeltes Meer im
Ausstellungsraum des Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge Berlin. Oder
auch ein herunterfallender rissiger Vorhang. Ihre beiden Bilder sehen wild
aus und lassen Verwerfungen ebenso wie Raum für Interpretationen. Umso
mehr, wenn man weiß, dass auch der Zufall und die Schwerkraft die blauen in
Wachs getauchten Papierstreifen mitgeformt haben.
Mit den Identitäten ist das so eine Sache, könnten Schapiros Bilder sagen.
Sie sind immer anders, und je nachdem, wo man sich gerade befindet, wirkt
sich vielleicht auch die Schwerkraft unterschiedlich aus. Aber gibt es dann
überhaupt noch eine gemeinsame, übergreifende Identität?
Anna Schapiros Bilder sind eine von 13 Antworten auf die Frage nach der
eigenen Familiengeschichte. Was bedeutet die Erinnerung für jüdische
Künstler:innen aus allen Teilen der Welt? Welche Bedeutung hat die Shoah
für jüngere jüdische Generationen? All diesen Fragen geht die überaus
lohnenswerte Ausstellung „Family Business – erinnern als künstlerisches
Motiv“ nach. Sie ist noch bis zum 29. März im Centrum Judaicum zu sehen.
Alle 13 Künstler:innen haben sich bereits zuvor mit biografischen Fragen
nach jüdischer Identität und Traumamanifestation beschäftigt. Auch deshalb
haben die Kurator:innen Anke Paula Böttcher, Dorit Rubin Elkanati und
Dorothea Schöne ihre Werke gemeinsam zeigen wollen.
## Familiäre Traumata wirken weiter
Und auch wenn die Antworten auf die Frage nach jüdischer Identität dabei
ebenso unterschiedlich wie individuell ausfallen, bleibt eine wichtige
Erkenntnis am Ende der internationalen Ausstellung: Für die meisten der
Künstler:innen spielen auch in der dritten und vierten Generation nach
Auschwitz kollektive und individuelle Traumata eine große Rolle. Ihre Werke
zeigen, wie familiäre Traumata auch in der zweiten, dritten und der vierten
Generation nach der Shoa Verarbeitung verlangen und Wirkung für das Leben
der Nachkommen von Überlebenden entfalten.
Kurz vor dem [1][75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz] richtet diese
Ausstellung den Blick aber nicht direkt auf die Historie, sondern auf die
Gegenwart: die Erinnerungen heutiger jüdischer Künstler:innen. So entsteht
ein intimes Puzzle, das in der Gesamtschau vor allem eine reichhaltige
Perspektivenvielfalt bietet.
Die junge Künstlerin Jessica Ostrowicz aus Großbritannien sagt bei der
Pressevorbesichtigung, dass 100 ihrer Verwandten im Holocaust gestorben
seien und sie, geboren 1990, das Bedürfnis verspüre, etwas in ihrer Familie
zu reparieren. „Durch traumatische Ereignisse kann sich die DNA verändern“,
sagt Ostrowicz, „jede meiner Arbeiten versucht das zu heilen.“ Schon seit
sie denken kann, sammele sie kleine Steine – wie sie etwa nach jüdischem
Brauchtum auf Gräbern oder Grabsteinen abgelegt werden, um zu zeigen, dass
der Verstorbene nicht vergessen sei.
Diese Steine, aufgelesen an für sie bedeutsamen biografischen Orten, nutzt
sie in dem Exponat „Grandma’s Plates, um das zerbrochene Geschirr ihrer
Großmutter zu reparieren. Nur, dass sich die ursprüngliche Funktion der mit
Blumenornamenten verzierten Familienerbstücke natürlich nicht
wiederherstellen lässt. Wiedergutmachung ist nicht möglich. Dafür ist etwas
Neues entstanden: Ein schmerzvoller, aber auch, wie sie sagt, schöner Weg
zu trauern.
## Die persönliche Klagemauer
Deutlich gewaltiger ist dabei Ostrowicz’ „Wailing wall“(englisch für
Klagemauer), die ein in schier unglaublicher Arbeit zusammengesetzter
Vorhang von fünf mal sechs Metern Breite ist. Ostrowicz persönliche
Klagemauer ist aus Tausenden Backpapierschnipseln zusammen gesetzt, in die
sie Vogelsilhouetten und Narben hineingeschnitten hat. Der Vorhang bewegt
sich, ist durchsichtig und droht ständig auseinanderzufallen. Er macht den
Eindruck, dass sich durch einen Luftzug jederzeit neue Narben auftun
könnten. Es ist zugleich eine Studie über niemals ganz verheilendem Schmerz
und Ostrowicz’ Auseinandersetzung mit der modernen Theodizee, dem Konzept
von Gott nach dem Holocaust: „Wenn Gott keine Macht hat, ist er dann etwas
fragiles?“, fragt Ostrowicz.
Nicht weniger kleinteilig sind die Familienportäts von dem 1960 in Haifa,
Israel, geborenen Dodi Reifenberg, der seit 1988 in Berlin lebt. Lange
wusste nicht einmal sein 90-jähriger Vater etwas über die Geschichte seiner
Großfamilie Ginsberg-Sachs aus Berlin. Sein Großvater hätte nie etwas über
die Vergangenheit erzählt. Erst als Reifenberg die Bücher seiner Großtante,
der von ihm in der Ausstellung porträtierten Schriftstellerin und
Journalistin Gabriele Tergit las, erfuhr er mehr über seine Vorfahren: Er
erkannte sie in den literarischen Charakteren der Autorin wieder und
recherchiert seitdem die lange verloren geglaubte eigene Familiengeschichte
nach.
In seinen beiden ausgestellten Arbeiten „Louis Sachs“ und „33“
reproduzierte Reifenberg die noch auffindbaren Zeitzeugnisse seiner
Verwandten in größerem Format: Die durchaus nicht unbekannte
Schriftstellerin Tergit lächelt etwa von einem Wochenblatt aus einem
Literaturkalender von 1933.
Das Material, das Reifenberg für seine Porträts und auch sonst für seine
Werke benutzt, sind Plastiktüten, dem flüchtigen, allgegenwärtigen Stoff
zwischen Konsum und Umweltverschmutzung. Mit einer
Plastiktüten-Installation in Form eines Antiflüchtlingsschutzwalls
demonstrierte er bereits 2007 gegen [2][den G8-Gipfel in Heiligendamm], und
ebenso ist es für ihn heute das Mittel, seine Familie zu porträtieren. Hier
ist das Material geradezu dezent eingesetzt: Kleine Plastikschnipsel werden
zu Pop-Art-Gemälden in Schwarz-Weiß. Im Rahmen von Reifenbergs Recherchen
zu seinen Vorfahren stellte sich heraus, dass die Deutschen auch eine
Kunstsammlung seiner Vorfahren enteignet haben dürften.
Und so zeigt Reifenbergs zweites Porträt die Todesanzeige mit einem Foto
des 1915 verstorbenen Berliner Stadtverordneten Louis Sachs, der wohlhabend
und sozial engagiert war. Unter anderem habe er sich seinerzeit beim Bau
der Neuen Synagoge engagiert. Sein Name sei trotz seines damals gerade in
ärmeren Bevölkerungsschichten durchaus anerkannten Engagements aus Berlin
komplett verschwunden, erzählt Reifenberg. Und hier schließt sich der
Kreis: In der bei den Novemberpogromen 1938 fast zerstörten und von Louis
Sachs mitaufgebauten Neuen Synagoge hängt heute wieder sein Bild [3][in
Berlin]. Und erinnert an diese Vergangenheit.
Anja Siegemund, Historikerin und Direktorin der Stiftung Neue Synagoge
Berlin, sagt: „Die Gesamtgesellschaft ist wenig dafür sensibilisiert, was
jüngere jüdische Generationen an Familiengeschichte noch in sich tragen.“
Die in Family Business ausgestellten Werke zeigten, individuell sehr
verschieden, den Blick zurück. Sie zeigten aber auch mit dem Blick auf „das
jüdische Heute“ eine Gemeinsamkeit: „Es spielt bei allen eine Rolle.“
27 Jan 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Gareth Joswig
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Kunst
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