| # taz.de -- Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit: Ein Stoß ins Herz | |
| > Unlängst wurde ihr Roman „Effingers“ wiederentdeckt. Nun lohnen die | |
| > Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit die Lektüre. | |
| Bild: Zuschauer warten 1931 in Moabit auf die Zeugen, darunter Adolf Hitler, im… | |
| Junge Mütter, angeklagt wegen Kindsmord oder wegen Verstoß gegen den | |
| Paragrafen 218, beschäftigten die junge Gerichtsreporterin Gabriele Tergit | |
| immer wieder. Am Gericht in Moabit in Berlin verfolgte sie viele Fälle, die | |
| ihr als Wiederholung der Gretchen-Tragödie erschienen. Unwissenheit und die | |
| Scham, über ihre Situation überhaupt zu reden, brachte die jungen Frauen, | |
| die teils vom Land als Dienstmädchen nach Berlin gekommen waren, vor das | |
| Gericht. | |
| Eine der Reportagen, die Gabriele Tergit darüber 1929 für das Berliner | |
| Tageblatt schrieb, endet mit einem Blick auf die Verantwortung der | |
| Gesellschaft, die die Frage der Emanzipation der Frau bis dahin nur | |
| halbherzig durchdacht hat: „Aber hinter diesem allen steht das Mittelalter. | |
| Die Frauenbewegung hat für die Frau die Freiheit zur Arbeit erreicht. | |
| Aber die Bewegung des erwachenden Lebens sind für die uneheliche Mutter | |
| noch immer ein Stoß ins Herz, das die Schande fürchtet. Was auf der einen | |
| Seite gepriesene Mutterschaft, ist auf der anderen soziale Deklassierung. | |
| Der Freund ist schon beinahe selbstverständlich; das Kind erst macht die | |
| Frau verächtlich. Im Jahre 1929.“ | |
| Gabriele Tergit (1894–1982) war geprägt von der frühen Frauenbewegung. Dass | |
| eine Frau schrieb und vom Journalismus lebte, war alles andere als eine | |
| Selbstverständlichkeit in ihrer Zeit. „… sogar das Zeitungslesen schickte | |
| sich damals nicht für ein junges Mädchen“, schreibt Nicole Henneberg, die | |
| Tergits Gerichtsreportagen 2020 bei Schöffling & Co. herausgebracht hat, im | |
| Nachwort, „für eine Zeitung schreiben, erst recht nicht – in der Familie | |
| begegnete sie allgemeiner Verachtung.“ | |
| ## Als Gerichtsreporterin erfolgreich | |
| Dennoch gelang es ihr schon als junges Mädchen, noch vor ihrem Studium der | |
| Geschichte erfolgreich Artikel in Berliner Zeitungen unterzubringen. Als | |
| Gerichtsreporterin für das Berliner Tageblatt (vom Januar 1925 bis März | |
| 1933) wurde sie bekannt und verdiente sogar gut, einen erheblichen Teil des | |
| Familieneinkommens. | |
| Ihre Reportagen sind meist knappe Texte, oft mit dialogischen Passagen, die | |
| schnell die Handelnden plastisch werden lassen. Sie fokussiert auf die | |
| Geschichte der Angeklagten, die Umstände ihrer Delikte. Sie erzählt von der | |
| Hilflosigkeit der Beschuldigten, die die Sprache der Juristen nicht | |
| verstehen; von der Leichtgläubigkeit der Betrogenen, die in der Zeit von | |
| Inflation und Wirtschaftskrise den merkwürdigsten Verheißungen aufsitzen. | |
| Verzweiflungstaten begegnen ihr am Gericht, die auf Analphabetismus | |
| beruhen, der Angst vor Not, dem falschen Respekt vor Autoritäten. | |
| In einigen Texten sucht sie nach Parallelen zwischen den einzelnen Fällen, | |
| die ein Schlaglicht auf die Gesellschaft der Weimarer Republik werfen. Zum | |
| Beispiel begegnen ihr immer wieder Heiratsschwindler, die, anders als das | |
| Klischee es will, nicht attraktiv und charmant sind, sondern zerstört, | |
| krank, arbeitsunfähig. | |
| „Das ist das Typische in schlechten und guten Zeiten. Wenn Männer so elend | |
| sind, dass sie zu gar nichts mehr taugen, wenn sie zum Betrüger zu dumm und | |
| zum Dieb körperlich zu behindert sind, wenn kein Krankenhaus sie mehr | |
| aufnimmt, weil es meint, sie gehörten ins Siechenhaus, dann haben sie immer | |
| noch die Möglichkeit, als Heiratsschwindler ihr Leben zu fristen.“ Denn die | |
| „Opferbereiten sind die Opfer des Heiratsschwindlers.“ | |
| ## Großes Interesse an der Gerichtsreportage | |
| An der Gerichtsreportage bestand großes Interesse in der Zeit der Weimarer | |
| Republik, eben weil sie von der Veränderung der Machtverhältnisse, von | |
| wirtschaftlichen Unsicherheiten, von den vielen Brüchen im | |
| Rollenverständnis erzählte. Die Mentalität der Exekutive war oft noch vom | |
| Kaiserreich geprägt; Zeitungen wie das Berliner Tageblatt versuchten die | |
| Weimarer Verfassung zu verteidigen. | |
| Immer öfter geht es in Tergits Reportagen um Schlägereien zwischen | |
| Betrunkenen, die vor Gericht instrumentalisiert werden zu politischen | |
| Angriffen von Linken auf Rechte. Manche Angeschuldigten vermochten selbst | |
| nicht zwischen sozialistisch und nationalsozialistisch zu unterscheiden, | |
| wurden als Kommunisten angezeigt und hielten sich selbst für national. | |
| Da sind wir schon in den 1930er Jahren, als der Autorin zunehmend auch die | |
| Militarisierung der Sprache aufstößt. Paramilitärische Verbände werten die | |
| Ermordung von vermeintlichen Gegnern als kriegerische Taten und selbst die | |
| Richter übernehmen bald diese die Verbrechen beschönigende Sprache. „Die | |
| Schlägereien in den Straßen Berlins werden mit allem Glanz und Schimmer von | |
| Kriegshandlungen umgeben“, beobachtet sie. „Der Ausdruck der | |
| Nationalsozialisten ist der militärische. Das Zivilleben kennen sie nicht | |
| mehr.“ | |
| Durch diese Kommentare werden aus den Reportagen Texte, die weit über den | |
| Fall hinaus die gesellschaftlichen Verwerfungen der Zeit beschreiben. | |
| Manchmal setzt sie die Vergehen zum Ergaunerten ins Verhältnis, etwa „einen | |
| Ausflug mit Schnitzel“, mit vier Wochen Gefängnis teuer bezahlt. | |
| ## Ihre Genauigkeit als Beobachterin | |
| Neben diesen Gebrauchstexten war Gabriele Tergit mit ihrem 1931 | |
| erschienenen Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ bekannt geworden, | |
| der satirisch von Täuschung und Betrug erzählt, von Geschäftemachern und | |
| Propaganda und dem Niedergang der ehemals Wohlhabenden. Auch dort zeigte | |
| sich ihre Genauigkeit als Beobachterin. Was sie vor Gericht erfuhr, war | |
| Material für ihren Romanen. | |
| Gabriele Tergit ist eine mehrmals vergessene – erstaunlich angesichts des | |
| großen Interesses an Pionierinnen der Moderne – und eine mehrmals | |
| wiederentdeckte Autorin. Ihre großartige Familienchronik „Effingers“, | |
| ebenfalls bei Schöffling & Co wiederaufgelegt, wurde 2019 zu einem | |
| Bestseller, fast 60 Jahre nach den ersten Veröffentlichungen. Damals stieß | |
| die Geschichte von zwei jüdischen Familien, erzählt über fast hundert Jahre | |
| hinweg, auf keine große Resonanz. | |
| Die Nationalsozialisten verunglimpften Gabriele Tergit, Goebbels soll sie | |
| eine „miese Jüdin“ genannt haben. 1933, in der Nacht vor der | |
| Reichstagswahl, stand der „Sturm 33“ vor ihrer Wohnungstür, um sie zu | |
| verhaften. Gabriele Tergit konnte fliehen. | |
| Ihre Geschichte im Exil, in Palästina und London, wo sie als Autorin nicht | |
| mehr Fuß fassen konnte, wird thematisiert in dem Band 228 der Zeitschrift | |
| „Text + Kritik“, der sich auch mit ihrem gespannten Verhältnis zu Palästi… | |
| befasst. Ein dritter Roman von ihr ist bisher noch unveröffentlicht, soll | |
| aber noch dies Jahr bei Schöffling & Co erscheinen. | |
| ## Als ob man an der Quelle von Kutschers Krimis stünde | |
| Wer gerne die historischen [1][Kriminalromane von Volker Kutscher] liest, | |
| wird sich bei Tergits Reportagen oft daran erinnert fühlen, nicht nur, weil | |
| seine weibliche Protagonisten Charlotte Ritter Tergit liest, sondern mehr | |
| noch, weil man hier im Stil der neuen Sachlichkeit in der Literatur an | |
| ebenjene kriminellen Milieus, politischen Verwirrungen und | |
| nationalsozialistischen Parteinahmen geführt wird, die in den | |
| Kriminalgeschichten eine Rolle spielen. Als ob man an der Quelle stünde, | |
| aus der jene Geschichten kommen. | |
| Oft liest Tergit die Gerichtsprozesse auch als Theater, „Die Zuhörer sind | |
| das Volk“. Sie widmet sich den Emotionen des Publikums, dessen | |
| Gerechtigkeitssinn auch etwas Furchterregendes hat. Bei Heiratsschwindel | |
| oder Darlehensbetrug ist „der Zuhörerraum für Aufhängen oder Vierteilen“. | |
| Sie beschreibt die Wachtmeister und teilt sie in jene, die schon die Frage | |
| „‚Ist Pause?‘ als Insubordination betrachten“, und die | |
| „heiter-menschlichen“, die auch mal mit den Angeklagten scherzen. Da spürt | |
| man immer wieder das Interesse an jeder Person, wie sie ihre Rolle und | |
| deren Spielraum auslegt. | |
| 22 Mar 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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