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# taz.de -- Theaterpremiere „Effingers“ in München: Kaiser-Wilhelm-Bart f�…
> Jan Bosse inszeniert an den Münchner Kammerspielen Gabriele Tergits Roman
> „Effingers“ über das Schicksal einer jüdischen Familie. Der Geist bleibt
> bewahrt.
Bild: Auch ohne vordergründige Aktualisierung sind die Münchner „Effingers�…
Der Abend beginnt mit einer Familienaufstellung. Oder ist es ein Bild? Erst
als eine der Figuren aus dem Rahmen tritt und sepiafarbene Fotos unter
einen Projektor legt, löst sich das Rätsel. Regisseur Jan Bosse wird es in
den kommenden vier Stunden immer wieder tun: seine zwölf Akteure
Aufstellung nehmen, aus dem Bild heraus erzählen und in neue Rollen
schlüpfen lassen. Generation um Generation. Mit Rüschen und
Kaiser-Wilhelm-Bart oder ohne. Mit fröhlicher oder verzweifelter Ansage –
„Foto!“ – oder en passant. So vergeht die Zeit.
Bosse inszeniert [1][Gabriele Tergits] Roman „Effingers“ an den
[2][Münchner Kammerspielen], der den Aufstieg und Niedergang einer
jüdischen Kaufmannsfamilie zwischen 1883 und 1942 beschreibt. Die
Geschichte der Effingers ist eng verknüpft mit der der Bankiers Oppner und
Goldschmidt, dem Wandel der Stadt Berlin, den Zeitläuften und Mentalitäten
– und mit Tergits Biografie.
Fast 900 Seiten hat die aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie
stammende ehemalige Gerichtsreporterin auf ihrer Flucht vor den Nazis zu
Papier gebracht. Im Jahr 1951 fand sie einen Verlag, doch erst 2019 wurde
„Effingers“ als Jahrhundertroman entdeckt, der die historischen Fakten wie
die Schrullen seiner Figuren mit großer Detailliebe beleuchtet.
Ein tolles Buch, das ohne ideologische Scheuklappen bis zur Peinlichkeit
redliche Unternehmer und verschwenderische Luftikusse zeichnet, die einem
alle so ans Herz wachsen, dass man es am liebsten nach 1918 aufhören würde
zu lesen. Denn natürlich endet es schlimm. Spanische Grippe, Enteignung,
systematische Entmenschlichung, Deportation – man kennt die Geschichte.
Tergit schließt mit dem Abschiedsbrief von Paul Effinger, dessen
unverrückbarer Glaube an das Gute im Menschen ihn geradewegs ins KZ führt.
## Ein Ende mit Hoffnung
Der Abend an den Kammerspielen endet mit einer Rede des alten
Familienphilosophen Waldemar Goldschmidt auf die Zukunft und die Schönheit
des Lebens trotz dieses „braunen Mists“. Also mit Hoffnung! Im Bild davor
saßen zwei Vertreter der dritten Generation beisammen: Marianne, die sich
für Arbeiter*innen engagiert, und der ehedem glühende Sozialist
Schröder, der seiner alten Freundin im jovialen Plauderton mitteilt, der
„Verfall“ der deutschen Kultur müsse durch die „Auswerfung des fremden
jüdischen Elements“ aufgehalten werden.
Edmund Telgenkämper und die eigens für diese Szene zu verblüffender
Unscheinbarkeit zusammengeschrumpfte Zeynep Bozbay lassen diese Begegnung
zur beklemmenden Momentaufnahme einer Gesellschaft gerinnen, die Zeit und
Ort teilt, aber mit Kopf und Herz nicht mehr zusammenkommt. Das hat
erschreckend viel mit heute zu tun, wie überhaupt der in historischem
Kostüm- und Fotomaterial schwelgende Abend nie vordergründig um
Aktualisierung bemüht ist, aber dennoch auf vielen verschiedenen Ebenen mit
uns spricht.
Paul Effinger träumt von der Massenproduktion zum Wohle aller, und als
dieser Traum sich auf das Automobil richtet, ist es ironischerweise der von
Grund auf konservative Bankier Emmanuel Oppner, der Pauls Antrag auf Kredit
mit den Worten zurückweist: „Dieses Ding kann man nur als die Ausgeburt
einer irregegangenen technischen Phantasie bezeichnen. Ich sehe keine
Zukunft in Gasmotoren. Die Zukunft liegt bei der Elektrizität.“ Und
Geschichte wiederholt sich doch, auch wenn der Fluss, in den man heute
steigt, nicht mehr derselbe ist wie 1888.
## Ein süffiger Blockbuster
Jan Bosse, der nach 22 Jahren erstmals wieder an dem Haus inszeniert, an
dem seine Regielaufbahn begann, hat mit der Dramaturgin Viola Hasselberg
eine Textfassung erstellt, die zwar viele Nebenstränge und Figurengruppen
kappt, aber den Geist der Vorlage bewahrt. Durch die Verkürzung der
Handlung werden im erstaunlich komödiantischen ersten Teil (bis 1900) vor
allem die grundverschiedenen Brüder Effinger zu eindeutigeren Charakteren,
als sie es im Buch sind. Christian Löber spielt den Paul als hibbeligen
Tatmenschen, Bekim Latifi den Karl als Luxuskasper.
Bis zur Pause ist das ein süffiger Blockbuster, der sich hübsche
Albernheiten erlaubt wie eine auf der Stelle galoppierende
Ausflugsgesellschaft und dann wieder in aller Kürze herrliche Figuren
hinwirft. Vor allem die Frauen begeistern im ersten großen Ensembleabend
der Ära Barbara Mundel, was für tolle Individualistinnen hier zugange sind!
Nach der Pause zersplittert der Abend in Kabinettstückchen und Monologe und
Stéphane Laimés bis dato so aufgeräumte Bühne füllt sich mit Technik,
Stühlen und mehr und mehr Porträtaufnahmen statt Stadt- und Gruppenbildern.
Die szenische Lösung entspricht den Wirren der Zeit. Die preußische
Ordnung, der Glaube an Fleiß, Wachstum und standesgemäße Heiraten weicht
einer Vielzahl an Möglichkeiten – gerade für die Frauen, an die Bosse hier
immer wieder heranzoomt. Wie viel Freiheit sie sich in relativ kurzer Zeit
erobern konnten, bis die Nazis auch diese plattmachten: Das ist ein
Eindruck, der bleibt!
19 Sep 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Sabine Leucht
## TAGS
Theater
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