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# taz.de -- Kunst im öffentlichen Raum: Leben im Schrumpfmodus
> „Miss You“, eine Plakatausstellung im öffentlichen Raum, legt uns gerade
> nicht sichtbare Künstler:innen ans Herz. Jedes Bild hat eine
> Geschichte.
Bild: Der Fotograf lässt die Sessel um Obistin Cristina Gómez Godoy wie ein M…
Das ist eine wohlvertraute Melancholie: allein am Frühstückstisch, den
Kopf schwer in die Hand gestützt, vor sich den Laptop, aber auch noch die
Teekanne. Mit der Aussicht, dass sich in Zeiten des Lockdowns an dieser
Situation den ganzen Tag über wenig ändern wird. Da hat man oft schon
morgens keine Lust, überhaupt erst etwas anzufangen.
Der Mann im karierten Hemd, den Frank Schinski in dieser Haltung
fotografiert hat, trägt zudem eine Affenmaske, in die sich die Züge der
Traurigkeit eingefräst haben. Er gehört zum Theaterkollektiv „Fenster zur
Stadt“ in Hannover.
Sie hatten 2020 eigentlich zwei Projekte vor, die auf „die zunehmende
Zersplitterung unserer Gesellschaft in Einzelinteressen, die Nöte der
fortschreitenden Vereinsamung und die Chancen der Wiederentdeckung von
Freundschaft, Gemeinsinn und Solidarität“ setzen wollten. Als daraus nichts
werden konnte, haben sie wenigstens für das Internet ein „Ministerium der
Einsamkeit“ geschaffen.
Das Porträt gehört zu den 56 Fotografien von Künstler:innen, die zurzeit
als Plakate mit der Überschrift „Miss You“ im öffentlichen Raum (in Berli…
Hamburg und Baden-Baden) ausgestellt sind. Unter www.missyou.berlin kann
man die Porträts ebenfalls sehen und nachlesen, wen man vor sich hat. Denn
nicht alle sind als Gesicht so bekannt wie der Schauspieler Lars Eidinger,
der in einem grasgrünen Anzug hinter einer pandemiegerechten Trennscheibe
vorwinkt.
## 23 Plakate allein auf der Potsdamer Straße
Das Plakat in seinem natürlichen Habitat, der Straße, ist einem harten
Konkurrenzkampf der visuelle Reize ausgesetzt. In Berlin laufe ich die
Potsdamer Straße hoch bis zum Potsdamer Platz, am Ende habe ich 23 der
Porträts gefunden. Das erste begegnet mir an der Bushaltestelle Ecke
Pallasstraße: Da sitzt Cristina Gómez Godoy, Solo-Oboistin der
Staatskappelle Berlin, einsam in einem Zuschauersaal.
Thomas Meyer, der wie alle Fotograf:innen der [1][Aktion zur
Ostkreuz-Agentur] gehört, lässt die leeren roten Sessel um sie herum wie
ein Meer der Stille erscheinen. Nahe dem U-Bahnhof Potsdamer Straße zieht
Erika Ratcliffe, Standup-Comedien, ihren langen Kaugummifaden aus dem Mund
vor den Auslagen eines Gemüsegeschäftes.
[2][Susanne Rockweiler,] die in Berlin acht Jahre lang als stellvertretende
Direktorin des Martin Gropius Baus gearbeitet hat, ist die Initiatorin der
Straßenausstellung. Die Firma Wall konnte sie als Partner gewinnen, sodass
die Plakate an deren Werbeflächen zu sehen sind. Am Potsdamer Platz sind
das mehrere Tafeln, die alle fünf Sekunden das Bild wechseln.
So sieht man zwischen den Porträtierten von Miss You weitere der Pandemie
geschuldete Kampagnen, Aufforderungen zum Impfen und „Rettet unsere Läden
jetzt“. Die Künstler sind nicht die Einzigen, die uns vermissen.
## Jedes Bild erzählt eine Geschichte
Alle Beteiligten an Miss You, Fotograf:innen und Porträtierte, haben
ein Honorar erhalten. Das war Susanne Rockweiler auch wichtig, weil damit
die Aktion neben der symbolischen Geste, Verbindung zwischen Kunst und
Publikum zu halten, auch konkret ein Auftrag war.
Jedes Bild erzählt eine Geschichte. Das Brüderpaar Francisco & Xavier
Sanchez Martinez erzeugt Verblüffung, weil sich die beiden nicht mehr
jungen Männer so ähnlich sehen. Der eine, der gerade einen Teller
abtrocknet, trägt einen Schottenrock. Dass sie Tänzer und Choreografen
sind, könnte vielleicht das ausgestreckte Bein des anderen verraten.
Aber man kann sich in ihrer vollgekruschtelten Küche – und eben nicht im
Studio – auch gut eine Szene aus einem Almodóvar-Film vorstellen, so viel
Leben hat die Fotografin Stephanie Steinkopf in die Szene gepackt.
Rausgehen kann man, aber eben nicht „ausgehen“. Das Gefühl, zu Hause
festgepflockt zu sein, transportiert das Doppelporträt von Children, den
Musikerinnen Steffi Ferch und Laura Daede, die seit zehn Jahren Future
Retro Pop machen. Ihre schlanken Gestalten wirken noch schmaler zwischen
den vielen Jacken, zwischen denen Jörg Brüggemann sie fotografiert hat.
Saugt das Zuhause sie langsam in sich auf?
3 Mar 2021
## LINKS
[1] /Fotografin-auf-der-Spur-ihrer-Ahnen/!5715529
[2] /Eklat-bei-deutsch-polnischer-Kunstschau/!5108629
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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