# taz.de -- Virtual Reality im Theater: Schwindel beim Zusehen | |
> Ein kurzer Monolog von Einar Schleef und ein langer Weg durch ein | |
> entkerntes Theater – „14 Vorhänge“ für die VR-Brille vom Theater | |
> Augsburg. | |
Bild: Klaus Müller in „14 Vorhänge“, einer Inszenierung des Theaters Augs… | |
Wie hoch es hinaufgehen kann und wie tief hinab, das ist eine fast | |
körperliche Wahrnehmung und zugleich eine Metapher in der Inszenierung „14 | |
Vorhänge“, die André Bücker, Intendant am Staatstheater Augsburg, | |
eingerichtet hat. Dabei ist dieses Theater nicht nur geschlossen, wie alle | |
im Lockdown in Deutschland, sondern auch noch Baustelle, entkernt von | |
Sitzreihen, Wandverkleidungen, Böden. Durch den nackten Beton, vorbei an | |
aufgerissenen Wänden, über Wendeltreppen und durch leere Foyers, über | |
Emporen und durch die Keller wandert einsam ein Schauspieler, Klaus Müller. | |
Wie man das erleben kann, wenn man doch nicht in das Gebäude darf? | |
[1][Mittels einer Virtual-Reality-Brille], die den Blick dreidimensional | |
durch den Raum gleiten lässt. Wer die Brille aufhat, kann mit Kopfneigungen | |
nach oben und unten schauen und mit Drehungen auch hinter sich. Der | |
Schauspieler tritt an eine Kante, und senkt man den bebrillten Kopf, sieht | |
man plötzlich den Abgrund zu seinen Füßen. Auch den Blick in die Höhe zum | |
Bühnenturm kennt man so als Zuschauer sonst nicht, und das ist erst mal | |
beeindruckend in diesen, im Übrigen schwarzweißen Bewegtbildern. Muss es | |
einem als Schauspieler nicht immer schwindeln ob dieses Raumungetüms über | |
einem? | |
Ein entkerntes Theater ist ästhetisch die Steigerung zu einem leeren | |
Theater, und deshalb passt dieses Stück Medienkunst gut in die Zeit. Als ob | |
nicht nur die Zuschauer nicht mehr da wären, sondern auch der | |
Theaterbetrieb hier und überhaupt kurz vor dem Abriss stünde. Visuell | |
trifft dieses VR-Spektakel deshalb mit einem Gefühlsbündel zusammen, das | |
Theaterschaffende im Lockdown bedrängen mag: man denkt an eine Epoche der | |
Endzeit, an die Ungewissheit, was folgen wird, an die Angst vor einem | |
schleichenden Aus. | |
Der Mann, der durch das leere Theater geht, könnte auch der letzte Mensch | |
sein. Ob da draußen überhaupt noch eine Welt ist? Diese Vorstellung wird | |
unterstützt durch die VR-Technik, die ja nur den Raum in der Brille und | |
sonst nichts mehr, nicht mehr die eigenen Hände oder Füße sehen lässt. Man | |
selbst ist ein blinder Fleck in diesem Raum. | |
Frühere Triumphe | |
Allein diese Theaterwanderung ist das Vorspiel für einen Monolog, der erst | |
in den letzten Minuten der Inszenierung kommt. [2][Der Text von Einar | |
Schleef] entfaltet die Erinnerung eines Schauspielers, der einst große | |
Triumphe auf der Bühne feierte, 14 Vorhänge hatte er, 14-mal holte der | |
Applaus des Publikums ihn nach vorne. Und jetzt ist das alles bitter | |
überschattet von seiner Kündigung. | |
Er erzählt von Krankheit, die als Wahn gedeutet wird, von der Kränkung, | |
nicht mehr gesehen zu werden. Dann springt der Text in knappen Sätzen, | |
plötzlich spielt er am Hafen, obwohl er keine Stimme mehr hat. Und auch den | |
Text nicht mehr weiß. | |
Diesen Alptraum eines Schauspielers schrieb Einar Schleef. Er widmete den | |
Text Bernhard Minetti, der 1998 mit 93 Jahren gestorben war. Vorgetragen | |
wurde er bei einer Trauerfeier für Minetti im Berliner Ensemble. Der Text | |
spielt aber auch auf Inszenierungen Schleefs an, die er nicht beenden | |
konnte, weil ein Theater geschlossen wurde – das Schillertheater in Berlin | |
1993 –, oder die er platzen ließ. | |
Allein diese in wenige Zeilen gedrängte Theatergeschichte erschließt sich | |
nicht aus dem Text und sie wird in „14 Vorhänge“ auch in keiner Form als | |
Kontext herangezogen. So schrumpft der Monolog auf einen tragischen Moment | |
am Ende einer Schauspielerkarriere zusammen, ohne dass man viel von den | |
gesellschaftlichen und kunstbetrieblichen Bedingungen wüsste, die ihn | |
hervorgebracht haben. | |
Sei es drum. So bleibt es eben eine Hommage an ein Theaterhaus, [3][die | |
Hauptspielstätte des Theaters in Augsburg], deren Sanierung lange verzögert | |
wurde. 2016 wurde das Haus dann aus feuerpolizeilichen Gründen geschlossen, | |
2026 soll es wieder bespielbar sein. Die Inszenierung entstand im Dezember | |
2020, als die Baustelle kurzfristig zu betreten war. Jetzt, im Februar, | |
dürften Künstler da nicht mehr rein. | |
23 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Virtuelles-Theater-in-Augsburg/!5685736 | |
[2] /Lesung-aus-Einar-Schleefs-Tagebuechern/!5099645 | |
[3] https://www.theaterviertel-augsburg.de/ | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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