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# taz.de -- Werthers Leiden im Massenmedium: Sturm und Drang auf Ebay
> Mit „werther.live“ beweist ein junges Team um die Regisseurin Cosmea
> Spelleken, dass intimes, kluges und witziges Netztheater möglich ist.
Bild: Aus dem virtuellen Theater werther.live auf Youtube
Bei der [1][Fülle an Online-Auftritten der Stadt- und Staatstheater] in den
letzten Monaten ist es bemerkenswert, dass erst eine junge freie
Regisseurin ein ebenso junges Team zusammentrommeln muss, um zu zeigen, wie
Theater im Netz funktionieren könnte. Ganz ohne den Anschein zu erwecken,
man habe es mit einem „Sorry, geht gerade nicht anders!“-Ersatzprodukt zu
tun oder mit einer Instant-Variante zum späteren Bühnen-Aufguss. Die
Regisseurin heißt Cosmea Spelleken, ist 1995 in Bayern geboren, hat
verschiedentlich Theater- und Filmluft geschnuppert und studiert seit
September an der Filmakademie Wien.
Die drei Youngster, die in „werther.live“ Werther, seinen Intimus Wilhelm
und Werthers Flamme Lotte spielen, kommen alle frisch aus der
Schauspielschule. Sie wurden wurden vom Kernteam um Spelleken, Lotta
Schweikert (Regieassistenz und Live-Schnitt) und Leonard Wölfl (Technik)
über Online-Videocastings gefunden und stürzen sich auf das, was sich an
Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ von 1774 als
überzeitlich gültig erwiesen hat, mit dem Feuer echter Pioniere.
Wir erinnern uns: Es geht in diesem Sturm-und-Drang-Werk nicht nur um
unglückliche Liebe [2][und einen Suizid, der seinerzeit eine
Selbstmordwelle nach sich zog], sondern auch um ein neues Massenmedium als
emotionalen Brandbeschleuniger, damals das Buch. Umso folgerichtiger, dass
das brandneue, von den Kulturämtern Karlsruhe und Freiburg geförderte
Unternehmen „werther.live“ im Internet stattfindet und soziale Netzwerke
und Videochat-Dienste bespielt.
## Viele Textbälle zugleich in der Luft
Für die Zuschauer*innen heißt das: Die ganze heimische
Bildschirmoberfläche wird zur Bühne, weil ein Werther von heute seinen
Desktop mit uns teilt, während er sich durch seinen auch lockdownbedingt
sehr verengten digitalen Alltag klickt: Mindestens Whatsapp, Facebook und
Insta hat er immer nebeneinander offen und hält so viele Text- und
Sprachnachrichten-Bälle zugleich in der Luft, dass es jedem Nicht-Digital
Native schwindelig wird.
Ja, der Coronalockdown spielt bei werther.live eine dramaturgisch wichtige
Rolle. Statt eines Ballbesuchs lockt Skype-Bingewatching mit Wilhelm alias
„Willi Schätzchen“ alias @freiherwilhelmdergrosse, den Florian Gerteis als
dem Alk und allerlei Oberflächen zugeneigter Partyhipster spielt. Während
Jonny Hoffs Werther von einem Mädchen träumt, mit dem er „sein bestes
Selbst“ erleben kann. Lotte S. (Klara Wördemann) lernt er über
Ebay-Kleinanzeigen kennen, und statt mit ihr im Wald spazieren zu gehen,
trommelt bei ihrem ersten Zoom-Date der Frühlingsregen gegen zwei
verschiedene Fenster.
Toll ist der bei aller verliebtheitsbedingten Befangenheit ungezwungen
private Gestus des live improvisierten Spiels, das mit den Tippfehlern beim
Live-Chat und einer jugendaffinen Sprache eine sehr heutige
Illusionsmaschinerie anwirft.
Dass einen diese problemlos in ihren Bann zieht, liegt auch daran, dass man
alles aus Werthers Perspektive wahrnimmt und damit praktisch in seinem Kopf
sitzt. Da die junge Liebe hier so schiefgeht wie bei Goethe, geht man auch
mit ihm unter. Je länger er Lotte, die sich inzwischen mit ihrem Freund
Albert verlobt hat, nicht mehr sieht, desto intensiver stalkt er ihre
Instagram-Seite und hält alle Kanäle offen, auf denen sie senden könnte.
## Enger wird die Welt
Layer um Layer sieht man seine Welt auf dem eigenen Laptop enger werden.
Sein Selbstmord wird durch die besessenheitsfördernde Lockdown-Situation
auch psychologisch plausibel und tritt als beredtes neues Profilbild und
ins Leere laufende Messenger-Nachrichten seiner Freund*innen in
Erscheinung.
Bei der Premiere Anfang November haben das 120 Zuschauer mit Werther
durchlitten. Ende Januar, als die Produktion bereits den Deutschen
Multimediapreis MB21 gewonnen hatte und auf der Auswahlliste des
Nachtkritik-Theatertreffens stand, waren rund 500 User zugeschaltet. In die
10er-Auswahl der Nachtkritik fand dieser besondere Crossmedia-Theaterabend
aber auch aufgrund seiner Liebe zum (handgemachten) Detail. Werthers
Insta-Profil ist mit von Spelleken selbst gebastelten Collagen bestückt.
An alle für die Performance eingerichtete Accounts kann man während wie
außerhalb der Vorstellung schreiben. Damit auch der Draht zum ollen Goethe
nicht abreißt, wird die Social-Media-Bildsprache regelmäßig von Szenen
unterbrochen, in denen Werthers Hände Original-Goethe-Sätze in eine
Olympia-Schreibmaschine tippen. So nehmen Bilder, Worte und die stürmenden
und drängenden Gefühlszustände weit auseinanderliegender Zeiten Kontakt
miteinander auf.
25 Feb 2021
## LINKS
[1] /Theaterkritikerin-ueber-die-Coronakrise/!5734920
[2] /Netflix-Serie-ueber-Suizid/!5403698
## AUTOREN
Sabine Leucht
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