| # taz.de -- Theater um Werthers Leiden: Playlist der Liebeslieder | |
| > Was denken Jugendliche heute von der romantischen Liebe? Das untersucht | |
| > die Regisseurin Lies Pauwels mit Schülerinnen am Schauspielhaus Bochum. | |
| Bild: Sie testen Goethes Sätze: Kaja Gruba, Dominik Dos-Reis, Şevval Ertürk,… | |
| Es beginnt mit einer Versuchsanordnung zwischen himmelhoch jauchzend und zu | |
| Tode betrübt: Wer auf der linken Seite der Bühne ans Standmikro tritt, | |
| kann nur Fragen an die Liebe stellen, rechts gehen die Fragen an den Tod. | |
| Wer auf der Bank in der Mitte sitzt, muss „historically dramatically“ in | |
| Ohnmacht fallen. Vorne an der Rampe sind die Worte gefordert: „I want so | |
| much more“. | |
| Also rennen die Schauspieler Dominik Dos-Reis, Marius Huth, Risto Kübar und | |
| Lukas von der Lühe in den Kammerspielen des Bochumer Schauspielhauses mal | |
| hier-, mal dorthin, halten sich schmachtend die Hand an die Stirn, sinken | |
| pathetisch zu Boden oder stellen Fragen wie: „Tod, bist du ein neuer | |
| Anfang?“ Oder: „Können wir einen Vertrag schließen? Du liebst mich, ich | |
| dich, kein Drama?“ | |
| Die vier heftig Fühlenden machen die männlich gelesene knappe Hälfte des | |
| Bühnenpersonals aus, das die belgische Autorin und Regisseurin [1][Lies | |
| Pauwels] in „Werther (Love & Death)“ ins Rennen schickt. Ihre Pendants sind | |
| fünf Mädchen unter 16 Jahren, darunter auch die talentierte Tabea Zoí | |
| Sander, die schon in Pauwels Bochumer Erfolgsproduktion „Der | |
| Hamilton-Komplex“ mitgespielt hat. | |
| Vier zu fünf also! Schon das Zahlenverhältnis macht klar, dass hier keine | |
| Paare zusammentreffen, wie Goethes Werther und seine Lotte eines hätten | |
| werden können. Und auch die Nebenfiguren des Briefromans kommen nicht vor. | |
| Nur einzelne Goethe-Sätze und selbst geschriebene Bekenntnisse, | |
| Gefühlsräusche und viel Spiel, vor dem Hintergrund einer pausenlos | |
| abgenudelten, aber sehr schönen Liebeslied-Playlist. | |
| Zur Erinnerung: In Goethes Jugendwerk „Die Leiden des jungen Werther“ aus | |
| dem Jahr 1774 geht der Protagonist aus enttäuschter Liebe in den Tod. | |
| Lieber ein Extrem gegen das andere tauschen als lau ohne die idealisierte | |
| Geliebte vor sich hin existieren. Das Buch zog seinerzeit eine | |
| Selbstmordwelle nach sich, den sogenannten Werther-Effekt. 250 Jahre später | |
| interessiert sich Pauwels für etwas, was sie das „Werther-Gefühl“ nennt. | |
| Was könnte das heute sein? Können junge Menschen überhaupt noch etwas mit | |
| der Idee der romantischen Liebe anfangen? | |
| ## Unbeschriebene Blätter | |
| Liest man das im Vorfeld der Uraufführung, ploppen Klischees im eigenen | |
| Kopf auf: immer frühere Erfahrungen mit Pornos im Netz, die Fixiertheit auf | |
| Oberflächenreize. Sie spielen für Pauwels glücklicherweise keine Rolle, die | |
| Lebenswirklichkeit der jungen Frauen allerdings ebenfalls nicht. Sie sind | |
| Projektionsflächen, unbeschriebene Blätter. Auf ihren T-Shirts stehen | |
| Angebote wie „Your idea here“, ihre Lippen bewegen sich stumm zu lockenden | |
| Liedzeilen wie „Come with me to the sea of love“. | |
| Die großen Emotionen wie das Gros der Goethe-Texte kleben fest an den | |
| Männern, während die Mädchen ihnen mütterliche Ratschläge und riesige | |
| Kuschelmonster geben, sie wie Groupies anfeuern, verspotten („don’t be such | |
| a pussy!“) oder zum Fechtduell auffordern. Oft ziehen sie sich auch hinter | |
| den Vorhang mit Tür zurück, auf dem eine düstere Landschaft aufgemalt ist, | |
| durch die hindurch immer wieder Emojis oder grell kolorierte Bildchen von | |
| Pseudo-Idyllen blitzen. | |
| Pauwels „Werther“-Collage ist ein ausufernder Abend, voller witziger und | |
| trashiger Ideen und Kostümwechsel, aber auch mit einer Menge szenischem | |
| Material, das besser im Proberaum geblieben wäre. Sein Grundproblem ist: | |
| Gefühlsausbrüche werden hier immer losgelöst von konkreten Situationen und | |
| den Menschen gezeigt, auf die sie sich beziehen könnten. Damit bleiben sie | |
| meist hohle Behauptungen, und nur wenige, betont schlichte Monologe gehen | |
| einem nah. Das kann natürlich Absicht sein, weil die Jungen von heute das | |
| Spiel mit den Worten längst durchschauen. Aber sind sie wirklich so | |
| abgeklärt? | |
| 3 Nov 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sabine Leucht | |
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