# taz.de -- Audiowalk im Wiener Volkstheater: Erkundungen im Sperrbezirk | |
> Ganz allein auf der Bühne stehen: Stefan Kaegi ermöglicht mit „Black Box�… | |
> einen pandemietauglichen Besuch im frisch renovierten Volkstheater. | |
Bild: In „Black Box“ streift jede*r allein durchs Wiener Volkstheater | |
In Wien darf man jetzt wieder ins Theater gehen – wenigstens ein bisschen. | |
Mit weißen Handschuhen, [1][FFP2-Maske], einem Headset mit frisch | |
gewaschenen Stoffüberzügen an den Ohren, Schritt für Schritt und streng | |
nach den Anweisungen, die einem eine salbungsvoll freundliche Stimme vom | |
vorproduzierten Tonträger einflüstert. Aber erst mal heißt es warten, auch | |
wenn man sich rechtzeitig zum vereinbarten Termin in der Garderobe | |
eingefunden hat. Operationsvorbereitungen dauern eben. | |
„Blackbox“ ist eine Tour per Audioguide, auf der [2][Stefan Kaegi und | |
Rimini Protokoll] jede*n Zuschauer*in einzeln und in der Wahrnehmung auf | |
sich allein gestellt durch nahezu alle Gewerke des Wiener Volkstheaters | |
führen. Auf eine Wegzeit von genau 90 Minuten gerechnet, startet exakt alle | |
fünf Minuten je ein*e Zuschauer*in. | |
Der Kritiker einer lokalen Tageszeitung wendet sich, nachdem er gerade eben | |
hereingestürmt war, noch einmal von der Garderobentheke ab, setzt sich | |
leicht verwirrt und wohl auch etwas mürrisch wieder hin. Berufliches | |
Bedeutungsempfinden wird aus sanitätspolizeilichen Gründen erst mal auf die | |
lange Bank beziehungsweise auf gepolsterte Garderobenstühle geschoben. | |
Wenn’s dann losgeht, hat man alle Hände und Füße voll zu tun, die Schritte | |
in Länge und Frequenz so zu bemessen, dass es gelingt, die richtigen Türen | |
im rechten Moment aufzustoßen. Der Parcours führt vom Kassenhäuschen über | |
Garderoben, Requisiten- und Kostümwerkstatt, die Unterbühne, den Mief im | |
Maschinenraum der Klimatisierung und endlich durch die Kulissen auf die | |
Bühne, wo man sich im Lichtkegel der Spot-Scheinwerfer sogar ein wenig am | |
Auswurf der Nebelmaschine berauschen könnte, wieder zurück in das Dunkel | |
des Zuschauerraums | |
## Rundgang mit Besuch im „Führerzimmer“ | |
Gleich zu Anfang kommt man auch an einem Tisch mit den Hinterlassenschaften | |
einer Konzeptionsprobe im dunkelgetäfelten, [3][denkmalgeschützten | |
„Führerzimmer“] vorbei, das 1938 im Haus eingerichtet wurde. Hitler hat es | |
nie betreten. | |
Es gilt, eben unter Zeitdruck, viele Sinneseindrücke parallel zu | |
verarbeiten. Mal blinkt ein Licht, in der Kostümwerkstatt rattern die | |
Nähmaschinen und ein Ventilator lässt ein Seidentüchlein wehen. Warum | |
riechen Theater, die mehrere Jahrzehnte in Betrieb sind, also alle, genau | |
gleich? Der binaurale Höreindruck vermittelt ständig Schritte, die hinter | |
einem herlaufen. Dialogfetzen, offenbar aus Interviews mit der Belegschaft | |
des Hauses, geben sporadisch, aber durchaus nützlich Informationen zum | |
jeweiligen Standort. | |
Ungewollt spielen die Proband*innen auf der „Black Box“-Tour Theater | |
füreinander. Während ich mir gerade im Durchgang zum Souffleurkasten den | |
Kopf anstoße, nimmt dieser Boomer mit schütterem Haar, dem ich in | |
Normalzeiten offenbar berufsbedingt regelmäßig im Parkett begegne, im | |
gleißenden Bühnenlicht tosenden Applaus aus seinen Kopfhörern entgegen. | |
Das hat alles viele charmante Momente wie diesen. Aber letztlich spricht | |
die gescriptete Wahrnehmung auf ziemlich autoritäre Weise den Tourenden an. | |
Man ist ständig außer sich, bei den Dingen, ständig in Bereitschaft, nie | |
bei sich. Quick response statt Reflexion. | |
## Sehnsucht nach der sozialen Dimension | |
So sehr hier die barocke Theatermaschinerie angeworfen wird – for your eyes | |
only, entbehrt sie um so mehr das, was Theater sonst ausmacht. Es ist ja | |
nicht das Hüsteln der Sitznachbar*innen, das man derzeit entbehrt, oder die | |
derben Parfüm- und Rasierwassernoten, sondern schlicht die soziale | |
Dimension. | |
Sie erst und nicht irgendwelche Inhalte auf der Bühne geben dem ganzen | |
Aufwand ein politisches Moment. Mimesis findet im Zuschauerraum statt. | |
Leute, die sich zu dieser Zeit an diesem Ort versammelt haben, imaginieren | |
sich als ideale Repräsentation einer politischen Gemeinschaft. Sie handeln | |
nicht, sondern spielen vielmehr in der Kontemplation Handlungsmodelle | |
durch. Dass der Typ da oben im Licht [4][Richard III]. ist, glaubt sowieso | |
keine*r. | |
Stefan Kaegi macht das Theater kurzerhand zum Museum seiner selbst. Das | |
kratzt ein wenig an den Legitimationsdefiziten, die es im Licht einer | |
postmodernen Repräsentationskritik ohnehin plagen. Das Kerngeschäft der | |
Schauspielerei steht mittlerweile unter Ideologieverdacht. Eine Ästhetik | |
des Performativen sucht Abhilfe im Authentischen. Im Modus der | |
Authentizität aber ist das Theater nur eine Fabrik, die momentan besichtigt | |
wird. | |
Die jüngste Baugeschichte des 1889 errichteten Volkstheaters legt dem | |
Projekt noch eine Pointe drauf. Lange war das Haus das Schmuddelkind unter | |
den Wiener Theatern, chronisch unterbudgetiert und dadurch in den Jahren | |
außen wie innen heruntergekommen. Schließlich gingen die Verantwortlichen | |
der Stadt die Sanierung an. Fertig wurde alles mitten im Lockdown. | |
Jetzt steht der gründerzeitliche Theaterbau in seiner makellosen Pracht in | |
der Silhouette der Stadt – außer Betrieb und als gebaute Frage: Warum sucht | |
[5][das Theater des 21. Jahrhunderts] seine Wahrheiten so beharrlich in | |
Raumkonzepten und -hierarchien des 19. Jahrhunderts? | |
25 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Uwe Mattheiß | |
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