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# taz.de -- 20 Jahre Dokutheater von Rimini Protokoll: Was, wenn die Qualle sie…
> Die Theatergruppe Rimini Protokoll ist mit ihren Projekten weltweit
> unterwegs. Jetzt feiert sie ihr 20-jähriges Jubiläum in Berlin. Eine
> Würdigung.
Bild: Zusammen sind sie Rimini Protokoll: Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel…
Berlin taz | [1][Rimini Protokoll kann ein Jubiläum feiern]. Seit 20 Jahren
arbeiten die drei Regisseure Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel
unter diesem Label zusammen, mal führt einer von ihnen Regie, mal zwei oder
alle drei.
Konnten sie sich vorstellen, so lange als Kollektiv zu existieren, als sie,
junge Absolventen der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen begannen,
mit neuen Mitteln dokumentarisches Theater zu machen? „Mindestens die
ersten zehn Jahre lange habe ich gedacht, das kann gar nicht auf Dauer
klappen, vom Theater zu leben, das war gerade nur ein Glücksfall, dass ein
Festival uns gebucht hat“, sagt Stefan Kaegi. So eine Frage habe sich ihnen
gar nicht gestellt, meint Helgard Haug. „Wir sind von Stück zu Stück
gewandert. Es ging nicht um Etablierung, sondern um Flexibilität und
Wendigkeit“.
Ihr Jubiläum feiert die Gruppe in Berlin, zuerst im Dezember 2019 und
Januar 2020 im HAU, im Maxim Gorki Theater und im Haus der Berliner
Festspiele; bis Mai werden weitere Orte, wie das Grips Theater und das Haus
der Kulturen der Welt miteinbezogen. Mit Berlin verbindet sie viel, auch
wenn sie mit ihren Projekten weltweit unterwegs sind. Im Hinterhof vom HAU
3 ist ihr Produktionsbüro, mit sieben festen Mitarbeiterinnen, von Berlin
erhalten sie Förderung. Hier zu feiern ist für sie auch eine Verneigung vor
der Stadt.
Zum Gespräch treffe ich Helgard Haug in ihrem Berliner Büro, Daniel Wetzel
und Stefan Kaegi sind aus Hongkong per Skype zugeschaltet. Dort bereiten
sie „100 % Hong Kong“ vor, ein Projekt mit 100 Bewohnern Hongkongs, die –
angelehnt an statistische Daten – die Stadt repräsentieren. Vor zwölf
Jahren begannen sie mit diesem Projekt in Berlin, seitdem ist es durch 39
Städte getourt. Jedes Mal entsteht mit 100 Spielern aus dem Ort der
Aufführung ein Porträt der Stadt.
## Statistik erhält ein Gesicht
In Hongkong sei es gerade aufregend zu arbeiten. Nicht nur wegen der
Proteste, sondern weil, wie Stefan Kaegi erzählt, 70 Prozent der Bewohner
die Geschicke ihrer Stadt als tragisches Schicksal wahrnehmen, 30 Prozent
nicht. Auch von diesem Riss wird „100 % Hong Kong“ handeln. Zum Jubiläum
nehmen Rimini Protokoll das Stück in Berlin wieder auf: als „100 % Berlin
reloaded“, teils mit alten, teils mit neuen Mitspielern. Es wird so auch zu
einem Stück über die Frage, wie sich die Stadt in den letzten zwölf Jahren
verändert hat.
Als ich vor 18 Jahren Redakteurin für Theater in der taz wurde, zogen mich
die Projekte von Rimini Protokoll bald an. Sie hatten etwas Unaufgeregtes,
Sachliches, Informatives; aber auch immer einen ästhetisch unaufdringlichen
Rahmen, der auf den Inhalt des Projekts und die Bedürfnisse der
Mitspielenden zugeschnitten war.
## Leidenschaft und Wissen
Jedes Stück schaute in ein anderes Segment von Alltag und Geschichte, sie
tasteten gesellschaftliche Institutionen ab, arbeiteten mit
unterschiedlichen Leuten zusammen. Mit Lkw-Fahrern,
Bestattungsunternehmern, Militärs und Veteranen, Bewohnerinnen eines
Altenheims, Call-Center-Mitarbeitern in Kalkutta, mit Sammlern, Anwälten
und Rappern. Jeder davon brachte nicht nur Expertenwissen ein, sondern auch
Leidenschaft und biografische Details, die den Blick auf das Fachwissen
veränderten.
Man versteht durch Rimini Protokoll etwas mehr davon, wie sich die Welt der
Arbeit umgestaltet, wie Leben und Sterben geregelt sind, wie Ideologien den
Alltag beeinflussen oder wie sich die Sicherheitsindustrie herausbildet.
Aber man begreift auch mehr davon, welche Fragen nicht gestellt werden. Die
Fachwelt wird wieder im Alltag geerdet. Jedes Projekt, ob auf der Bühne
oder als Installation, ist auch eine Form von sozialer Kommunikation, die
über die Ränder des Gewohnten hinausgeht. In ihren Projekten bringen Rimini
Protokoll Menschen zusammen, die sonst selten zusammenkommen.
## Hunger nach neuen Formaten
Angetreten sind sie in einer Zeit, als in den Dramaturgien großer Theater
nach Formaten gesucht wurde, um auf die Gegenwart zu reagieren. Das haben
sie zu ihrem Arbeitsfeld gemacht. „Wir folgen gerne Einladungen, die Themen
auf den Tisch bringen, auf die wir sonst nicht gekommen wären. Es ist gut,
von außen mit einer Frage überrascht zu werden“, sagt Helgard Haug. Ein
Beispiel dafür ist das Stück „win win“, an dem die drei jetzt noch arbeit…
und mit dem im Mai ihr Jubiläum am Haus der Kulturen der Welt (HKW) in
Berlin zu Ende gehen wird.
Das HKW fragte sie, ob sie sich an einem Projekt beteiligen wollen, das
über die Welt nach dem Ende der Menschheit nachdenkt. Und da fielen ihnen
die Quallen ein. „Wo steht der Mensch mit seinen großen Gehirnen und den
Fähigkeiten, die er in der Evolution ausgebildet hat, und was ist
eigentlich mit seinem Gegenteil, den Quallen, die nicht mal ein Gehirn
haben und sich evolutionär null entwickelt haben?“, beschreibt Helgard Haug
den Reflexionshorizont des Stücks. „Wir gucken, was der Mensch mit seinen
Fähigkeiten eigentlich an Verwüstungen angerichtet hat. Wird er lebensfähig
bleiben? Während die Qualle mit erwärmten Meeren, Verschmutzung, weniger
Sauerstoff, den negativen Auswirkungen von Globalisierung perfekt umgehen
kann und gewinnt.“
Stefan Kaegi hat schon 2010 einen Abend mit 6.500 Heuschrecken gestaltet,
die unter einer Plastikhaube in einer Wüstenlandschaft auf der Bühne
lebten, bis sie später zu Zoofutter wurden. Mit dabei waren eine
Astrophysikerin, ein Experte für Lebensmittel und ihre Haltbarmachung in
tropischen Ländern sowie ein Spezialist der Schädlingsbekämpfung, die je
eigene Geschichten über Ernährung, Ressourcen, geopolitische Machtkämpfe
und Wanderbewegungen auf Grund von Nahrungsmangel wussten. In Erinnerung
daran kann man auf ihr Theater mit Quallen gespannt sein.
Teil des Programms von „20 Jahre Rimini Protokoll“ ist auch das am Maxim
Gorki Theater aufgeführte Stück [2][„Granma – Posaunen aus Havanna“, das
Stefan Kaegi 2019 i]n Kuba mit vier jungen Menschen entwickelt hat, deren
Großeltern in unterschiedlichen Funktionen an der kubanischen Revolution
beteiligt waren. Auf der Bühne verweben sich vier Erzählungen voll Liebe
und Bewunderung, aber auch voller Zweifel und Skepsis, die ein
vielschichtiges Bild der Geschichte entstehen lassen und die Fäden, die
Vergangenheit und Gegenwart verbinden, äußerst fühlbar vibrieren lassen.
Auch wenn man manchmal im Theater denkt, die Stücke plätscherten ein wenig
dahin, bleibt am Ende doch ein starker Eindruck von den emotionalen
Gestimmtheiten, die aus Familienromanen dieser Art folgen.
## Auf dem Transportband im Schlachthof
Neben solchen Bühnenformaten waren Rimini Protokoll aber auch [3][immer
schon Techniken gegenüber aufgeschlossen,] mit denen sich Fenster in andere
Lebenswelten auftun. Für das Jubiläum bringen sie erstmals „Feast of
Food“ nach Berlin, eine filmische Installation, die man über eine
Videobrille mit dreidimensionalen Bildern erkundet. Ganz kurz kann ich
einen Ausschnitt anschauen, die Fahrt über ein Transportband in einem
großen industriellen Schlachthof.
Senke ich den Kopf, sehe ich Fleischstücke auf Gittern unter mir, schaue
ich nach links oder rechts, stehen da Schlachter mit Beilen und werfen
Teile der nicht mehr zu erkennenden Tiere auf das Transportband. Man sieht
mehr, als man real erfassen könnte – es sei denn, man wäre ein Stück
Fleisch auf dem Band. Auch auf einem Fischmarkt, eine Gemüseplantage in
Almería und in einer Chipsfabrik entstanden solche dreidimensionalen,
visuell triggernden Aufnahmen aus der Hightech-Agrarindustrie.
Wie der Mensch die Welt verändert hat, das ist auch eine thematische Linie,
die sich durch viele Rimini-Protokoll-Projekte zieht. Wie sie sich das
Theater der Zukunft vorstellen, frage ich sie im Gespräch. Daniel Wetzel
erzählt, dass er und Stefan Kaegi gerade in einem solchen sitzen in
Hongkongs Cultural District West Kowloon: Das ist eine künstliche Insel,
die im Meer aufgeschüttet wurde und auf der drei neue Theater bereits
gebaut wurden, sechs weitere sind in Planung. „Aber eigentlich“, sagt
Helgard Haug, „stellen wir uns kein festes Gebäude vor, eher einen Truck
mit Rädern oder etwas mit Raketenantrieb.“ Schließlich bringen sie ihr
Theater ja jetzt oft schon an die unterschiedlichsten Orte, an denen
Menschen zusammenkommen, in Wohnzimmer oder in den Bundestag.
Noch eine andere Antwort hat Daniel Wetzel. „Wir hatten eine Klausur und
haben überlegt, ob es nicht ein Stück Land sein könnte, das man über lange
Zeit zu einem Aufführungsort macht und dabei auch die Pflanzen performativ
in die Aufmerksamkeit rückt.“ Zumindest als Gedanke ist das schon mal
gepflanzt.
26 Dec 2019
## LINKS
[1] /Performance-Dos--Donts/!5527116
[2] /Dokumentartheater-zu-Kuba/!5579759
[3] /Computerspiel-im-Theater/!5142580
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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