# taz.de -- Computerspiel im Theater: Mein Leben als Avatar | |
> Die Künstlergruppe Rimini Protokoll inszeniert ein Computerspiel auf der | |
> Bühne. Dabei bekommt jeder Zuschauer einen Controller und steuert sein | |
> ballförmigen Avatar. Ein Spieletest | |
Bild: Dein Avatar zwischen 200 anderen: Spielfigur aus Best Before. | |
BERLIN taz | Am Anfang sind wir nichts als kleine bunte Gummibälle. Wir | |
sind soeben als Bürger von Bestland geboren worden. Gemeinsam mit 200 | |
anderen Spielern blicke ich suchend auf die große Leinwand, die als | |
Spielfeld dient, und versuche, meinen Ball unter all den anderen zu | |
erkennen. Für die nächsten 90 Minuten ist er mein Avatar, meine Spielfigur, | |
mit der ich mein Leben in Bestland bestreiten werde. | |
Mit Best Before hat die Gruppe Rimini Protokoll ihr erstes Computerspiel | |
vorgelegt. Bisher waren Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel | |
bekannt für ungewöhnliche Theaterprojekte. Die Nähe zum Theater merkt man | |
Best Before dann auch an. Gespielt wird nicht vor den heimischen Rechnern, | |
sondern kollektiv aus dem Zuschauerraum eines Theaters heraus, zuletzt im | |
Hebbel am Ufer in Berlin. | |
Die Handlung | |
Will ich ein Mann sein oder eine Frau? Obwohl das Spiel mir hier die Wahl | |
lässt, hüpfe ich schnell nach rechts und bin damit ab sofort ein weiblicher | |
Ball. Wie wollen wir, wie will ich leben? Das ist die Frage hinter dem | |
Spielprinzip: Runde für Runde gilt es, Entscheidungen zu fällen. Nach der | |
Wahl unseres Geschlechts geht es zügig weiter zu ziemlich großen | |
menschlichen Fragen. Manche davon werden nach dem Mehrheitsprinzip | |
entschieden: Wollen wir alle dieselben Talente besitzen oder soll Vielfalt | |
herrschen? Ist Abtreibung in Bestland legal? Was ist mit Heroin? | |
Andere Entscheidungen trifft jeder Spieler für sich: Will ich Mitgefühl | |
oder Angst empfinden können? Lesen oder lieber Computerspielen? Nach den | |
ersten Spielrunden ist die Pubertät mitsamt Alkohol, Drogenerfahrungen und | |
erstem Sex abgehandelt. Ein paar der weiblichen Avatare sind bereits | |
schwanger, sie werden ab jetzt von winzig kleinen Kugeln begeleitet. | |
In den nächsten 90 Minuten erleben ich und meine Mitspieler | |
Arbeitslosigkeit, Krieg und Katastrophen. Bei Präsidentschaftswahlen wählen | |
wir einen verantwortungslosen Despoten, den wir im nächsten Level sofort | |
wieder ins Exil schicken. Schnell wir mir klar, dass humane Entscheidungen | |
nicht vorteilhaft sind. Ich habe gegen ein Militär für Bestland gestimmt | |
und komme bei Kriegsausbruch dafür sofort ins Krankenhaus. | |
Best Before handelt also von der Möglichkeit persönlicher und sozialer | |
Utopien. Unterbrochen wird der Spielverlauf immer wieder durch eine | |
Rahmenhandlung, die von vier realen Personen auf einer Bühne vor der | |
Leinwand bestimmt wird. Sie moderieren den Ablauf und kommentieren ihn | |
durch persönliche Anekdoten. Sie sind "Experten des Alltags", wie es bei | |
Rimini Protokoll heißt. | |
Das bedeutet, sie spielen keine Rolle, sondern stellen das dar, was sie | |
auch im wahren Leben sind: Brady Marks etwa ist Programmiererin, sie hat | |
auch das Game Design für Best Before geschrieben. Duff Armour war viele | |
Jahre lang Spieletester für Electronic Arts, er erzählt von der | |
Eintönigkeit seines Jobs und davon, wie er sich in seinem Großraumbüro | |
durch einen Kaffeebecher unverwechselbar machte. | |
Sie alle leben in Vancouver, der Stadt, die Rimini Protokoll als Blaupause | |
für Bestland diente. Denn Vancouver gilt als eine Art real existierende | |
Utopie: Bei 2,2 Millionen Einwohnern, von denen 50 Prozent ausländischer | |
Herkunft sind, herrscht nahezu Vollbeschäftigung. | |
Die Grafik | |
Optische Spielereien und Animationen suchen die Spieler hier vergebens - | |
Bestland ist ein grafisch eher schlichtes graues Spielfeld, das links und | |
rechts von zwei grünen Wänden begrenzt wird. Der Mangel an Details ist | |
jedoch ein Vorteil, wenn alle 200 Spieler in Bewegung sind und zwischen den | |
beiden Entscheidungspolen hin- und herhüpfen. Dann nämlich verliert man als | |
Spieler schnell den Überblick und seinen Avatar aus den Augen. Eine | |
Teilnehmerin neben mir gibt irgendwann entnervt auf: "Ich weiß überhaupt | |
nicht mehr, wo ich gerade bin!" | |
Auf visuellen Schnickschnack wurde also aus gutem Grund verzichtet - | |
Funktionalität geht hier definitiv vor. Mit seiner minimalistischen | |
Ausstattung bleibt Best Before hinter den technischen Möglichkeiten seiner | |
Zeit zurück, ermöglicht somit aber auch bei 200 Spielern noch einen | |
flüssigen Spielverlauf. | |
Die extrem einfach gehaltenen Spielfiguren erinnern an den kugelförmigen | |
und Pillen fressenden Pac Man aus dem gleichnamigen Spieleklassiker der | |
Achtzigerjahre. Immerhin schafft es Bestland glaubwürdig, den Eindruck | |
einer dreidimensionalen Welt zu vermitteln, und das ohne jeden digitalen | |
Kleinkram. | |
Die Spielbarkeit | |
Die Avatare werden mithilfe eines Controllers angesteuert, wie sie bei | |
Konsolenspielen üblich sind. Auch hier haben die Hersteller auf aufwendige | |
Extras verzichtet und sich auf die eine gute Steuerbarkeit der wichtigsten | |
Bewegungsabläufe beschränkt. Mit Pfeiltasten lässt sich das Laufen in alle | |
vier Himmelsrichtungen steuern, ein Jump-Button lässt den Avatar munter | |
auf- und abhüpfen. | |
Essenziell zur Verortung der eigenen Spielfigur im Getümmel ist daneben | |
noch ein Knopf, der einen in seine Ausgangsposition zurückversetzt. Die | |
simple Steuerung ist auch deshalb notwendig, weil die Zielgruppe von Best | |
Before nicht unbedingt Vielspieler sind, sondern Menschen, die | |
Computerspielen bisher eher skeptisch gegenüberstehen. | |
Die technischen Voraussetzungen | |
Best Before läuft weder auf Windows noch auf Mac oder Linux, bisher hat | |
sich ausschließlich das System Theater als kompatibel erwiesen. Best Before | |
funktioniert nur mit mehreren Mitspielern, und das ist Stärke und Schwäche | |
zugleich. Zum schönen Spielerlebnis gehört die Erfahrung, Teil einer Gruppe | |
zu sein und durch Entscheidungen deren Geschick mitbestimmen zu können. Die | |
Steuerung ist sehr bedienerfreundlich, technische Probleme gab es in den | |
Testspielen trotz der großen Teilnehmerzahlen und der aufwändigen | |
Verkabelung nicht. | |
Die Wiederspielbarkeit | |
Nach nur drei Durchgängen am letzten Wochenende verabschiedet sich Best | |
Before vorerst aus dem Hebbel am Ufer und tourt den Sommer über zu | |
Theaterfestivals und koproduzierenden Theatern in Brighton, Toronto und | |
Corc. Erst im Herbst wird es in Berlin vielleicht eine Möglichkeit geben, | |
das Spiel auszuprobieren und sich auf die Suche nach dem eigenen Bestland | |
zu begeben. Der Preis ist mit 16,50 Euro für 90 Minuten Spielzeit in | |
Ordnung, für einen Neustart am nächsten Abend dürfte er den meisten aber | |
doch zu hoch sein. | |
Damit sind Rimini Protokoll dann doch wieder nah am wahren Leben, denn auch | |
hier gilt: Wer am Ende seiner Tage feststellt, eine Menge falscher | |
Entscheidungen getroffen zu haben, kann nicht einfach den Reload-Button | |
drücken. | |
Das Fazit | |
Die beiden Entwickler von Best Before, Helgard Haug und Stefan Kaegi, sind | |
selbst keine passionierten Computerspieler. Wie schon in ihren | |
Theaterprojekten interessierte sie auch hier eher eine neue Sichtweise auf | |
unsere Wirklichkeit. "Es sind nicht so sehr die Spiele, sondern die | |
SpielerInnen, die mich faszinieren", sagt Helgard Haug. | |
Best Before erzählt mit einfachsten Mitteln eine komplexe Geschichte, die | |
wegen der vielen Entscheidungsmöglichkeiten immer wieder verändert werden | |
kann. Jedes Spiel endet tödlich, aber ums Überleben geht es hier auch gar | |
nicht. Spannend wird es immer dann, wenn kollektive oder früher getroffene | |
Entscheidungen plötzlich über den weiteren Spielverlauf bestimmen. Best | |
Before ist geeignet für alle, die ein Onlinerollenspiel gern mal offline | |
und in Gesellschaft anderer ausprobieren möchten. Fans des Drachentötens | |
kommen hier nicht auf ihre Kosten. | |
Die Autorin ist freie Journalistin und Vizevorsitzende des Vereins Creative | |
Gaming | |
17 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Ariane Lemme | |
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