# taz.de -- Gob Squad übt den Brexit auf der Bühne: „Drei Tage zum Heulen z… | |
> Die deutsch-englische Theatergruppe zeigt Ende März ein Trennungsstück im | |
> Berliner HAU. Die Gruppe über Dosenfleisch, angeschossene Großväter und | |
> den Brexit. | |
Bild: Das Kollektiv Gob Squad mit Familien im Jahr 2014 bei ihrem 20-jährigem … | |
taz: Am 29. März, 23 Uhr, plant Großbritannien, endgültig die EU zu | |
verlassen. Gob Squad werden an diesem Abend einmalig die vom HAU (Hebbel am | |
Ufer) Berlin produzierte Show „I Love You, Goodbye (The Brexit Edition)“ | |
performen und darüber nachdenken, wie man das eigentlich macht: sich | |
trennen. Den ersten Beziehungsriss gab es ja schon mit der | |
Brexit-Entscheidung nach dem Referendum 2016. Wie haben Sie das als | |
deutsch-britisches Performance-Kollektiv erlebt? | |
Bastian Trost (BT): Wir gastierten gerade mit „Revolution Now!“ im | |
norwegischen Harstad. Das Konzept des Stückes ist, dass wir uns so lange im | |
Theater einschließen, bis Welt und Volk sich draußen verändert haben. Nach | |
der Vorstellung schien die Mitternachtssonne, und die Leute gratulierten | |
uns zum Brexit. Es war surreal. | |
Simon Will (SW): Und herzzerreißend. Mir war drei Tage zum Heulen zumute. | |
Dabei komme ich aus einem dieser vergessenen Landstriche zwischen | |
Manchester und Liverpool und kann die Anti-Establishment- und | |
Anti-Globalisierungs-Positionen sehr gut verstehen. Wer dort lebt, hat | |
nichts zu verlieren, denn es ist wirklich ziemlich beschissen. | |
Hat sich die Lage im Nordwesten nicht mittlerweile erholt? | |
SW: Man muss sich das so ähnlich vorstellen wie im Ruhrgebiet. Nach dem | |
Niedergang der Kohleindustrie trat nicht viel Neues an ihre Stelle. An | |
Orten wie Blackpool spürt man sofort eine Atmosphäre des Verlusts. Und | |
natürlich geben die Leute nicht nur den Politikern die Schuld, sondern den | |
Menschen um sie herum – etwa den Polen, die seit den Nullerjahren bereit | |
waren, für sehr viel weniger Geld als die Briten zu arbeiten. Trotzdem wäre | |
es falsch, Nationalismus oder Rassismus als einzigen Grund für den Brexit | |
auszumachen. Die Vielzahl der Narrative macht es so kompliziert. | |
BT: Die Brexit-Abstimmung ging ja sehr knapp aus, mit 52 zu 48 Prozent. Es | |
ist irre, dass eine so hauchdünne Mehrheit ein so große Umwälzung nach sich | |
ziehen kann. | |
Eine der jüngsten Umfragen besagt, dass auch bei einem potenziellen zweiten | |
Referendum der Ausgang sehr knapp bliebe, nämlich 47 zu 53 – wenn auch mit | |
entgegengesetztem Ergebnis. | |
SW: In der Tat wissen wir nicht, was als Nächstes passiert. Das eigentliche | |
Problem ist der Krieg bei den Konservativen, der internationale gegen den | |
nationalen Flügel. Diesen Riss durch die Gesellschaften können wir gerade | |
weltweit beobachten. Teile der Linken sind ebenso antieuropäisch wie Teile | |
der Rechten. | |
Gob Squad entstanden 1994 durch einen Studienaustausch zwischen Gießen und | |
Nottingham. Wie genau haben Sie sich kennengelernt? | |
SW: Berit und Johanna vom Gießener Institut für Angewandte | |
Theaterwissenschaft kamen über einen Austausch für ein Semester in unseren | |
Studiengang „Creative Arts“. Der war Fluxus-inspiriert und sehr offen – m… | |
wurde nicht zum Spezialisten ausgebildet, sondern zum Künstler, der nach | |
Bedarf frei die Disziplinen und Methoden wechselt. Wonach wir im Gegenzug | |
gierten, war theoretische Nahrung, und genau das brachten die beiden mit. | |
An unserem Brexitabend werden wir das als eine Art Lovestory erzählen. | |
BT: Da ich erst 2003 zu Gob Squad gekommen bin, habe ich von dieser Phase | |
nichts mitbekommen, das Binationale hat zu dieser Zeit keine große Rolle | |
gespielt. Jetzt werden die Fragen auf einmal neu gestellt: Wo kommt ihr | |
her, was machen eure Eltern, was sind die kulturellen Unterschiede? | |
Gob Squad hat bislang weniger mit biografischem Material gearbeitet, | |
sondern die Shows eher als Situationen entwickelt, die mit Narrativen und | |
Bildern aus Medien und Popkultur spielen. | |
BT: Wir holen das Biografische gerade ein bisschen nach. Zum Beispiel, | |
indem wir uns gegenseitig mit Gerichten aus unserer Kindheit bekochen. Das | |
unterscheidet sich schon unter uns Deutschen massiv, aber erst recht, wenn | |
Simon drei Dosen auf den Tisch stellt. „Waaas, du hast Hackfleisch aus der | |
Dose gegessen??“ | |
SW: Unser erstes Projekt auf der Basis eines Romans, Tolstois „War and | |
Peace“ (2016), an der Volksbühne und den Münchner Kammerspielen, war dafür | |
auch ein Auslöser. Da gibt es eine Parade von historischen Figuren, in der | |
auch unsere Großväter auftauchen. Bastians Großvater schoss sich ins Bein, | |
um nicht mehr Soldat sein zu müssen, mein Großvater war in der Navy und | |
durfte nie erfahren, dass ich nach Deutschland gegangen bin, denn bis zu | |
seinem Tod war er absolut antideutsch. | |
BT: Was wir bei diesem Projekt auch entdeckten, war die Bedeutung von | |
Klasse. Anders als in England war das lange Zeit für uns kein Thema, | |
vielleicht auch, weil wir uns eher mit Popkultur beschäftigt haben, die ja | |
über die Klassen hinweg verbindet. | |
Gerade die britische Popkultur hat Klasse auch immer wieder thematisiert. | |
BT: In England haben Künstler*innen anscheinend diversere | |
Klassenhintergründe als hier, sind die Brüche viel radikaler. Auch meine | |
bürgerliche Herkunftsfamilie dürfte mir suggeriert haben, dass der | |
Schauspielberuf eine gute Lösung ist, mit meiner Homosexualität hatte sie | |
schon mehr Schwierigkeiten. | |
SW: Meine Mutter sagt immer, dass sie „really weird“ findet, was ich mache. | |
Keiner meiner Eltern hat einen Kunsthintergrund, Bücher lesen sie auch | |
nicht. Für sie ist unsere Arbeit wirklich eine komplett fremde Landschaft, | |
in der sie sich wie Aliens fühlen. Dennoch haben sie begonnen, sie | |
irgendwie zu mögen: „Wow, du machst das seit 25 Jahren und schaffst es | |
sogar, davon zu leben!“ Ich denke, Respekt vor dem Handwerk – ob | |
Schreinerei oder Schauspielkunst – hat nichts mit Nationalität oder Klasse | |
oder Stadt/Land zu tun. Sobald die Leute realisieren, dass das, was wir | |
tun, durchaus auch mit Handwerk zu tun hat, können sie es auch | |
wertschätzen. | |
BT: Das entspricht dem bürgerlichen Blick meiner Eltern: Man sucht nach der | |
bewertbaren Leistung. Bei Konzeptkunst ist dieses Handwerk aber nicht so | |
leicht zu erkennen. | |
Hat die europäische Idee, die die Vielfalt und Weiterentwicklung des | |
Theaters in Deutschland begünstigt, auf England weniger Auswirkungen | |
gehabt? | |
BT: Während sich in England die Theatertraditionen nicht vermischen, muss | |
in Deutschland das heilige Dreieck aus Regisseur, Autor und Darsteller | |
schön getrennt bleiben. Du darfst dich nicht an Dingen versuchen, die du | |
handwerklich nicht gelernt hast. Umgekehrt kannst du sehr radikale Sachen | |
machen, solange das Dreieck säuberlich getrennt und intakt bleibt. Gob | |
Squad funktionieren da schon sehr anders: Ich kann den anderen dabei | |
zusehen, wie sie meine Ideen ausführen, und in der nächsten Szene bin ich | |
es, der sich ihnen zu Verfügung stellt. | |
Falls der Brexit am 29. März Realität wird: Welche Auswirkungen wird das | |
konkret für Ihre Gruppe haben? | |
BT: Wohl hauptsächlich bürokratische. Vermutlich wird das Reisen etwas | |
komplizierter. Tatsächlich haben aber zwei von uns schon die deutsche als | |
zweite Staatsbürgerschaft angenommen. | |
Als Reaktion auf den Brexit? | |
SW: Auch. Vor allem war ich fünf Jahre lang von jeder demokratischen | |
Teilhabe ausgeschlossen: Weil ich längere Zeit nicht mehr in England | |
wohnte, durfte ich dort nicht abstimmen. Und hier durfte ich ohne die | |
deutsche Staatsbürgerschaft nicht wählen. Jetzt haben Sean Patten und ich | |
die doppelte Staatsbürgerschaft – was vielleicht in Zukunft für Briten gar | |
nicht mehr geht, weil sie nach deutschem Recht ja nur innerhalb der EU | |
möglich ist. | |
Gob Squad haben ihren Lebens- und Arbeitsschwerpunkt immer in Deutschland | |
gehabt. Warum? | |
SW: Um das Jahr 2000 lud uns Aenne Quiñones , die heute stellvertretende | |
Künstlerische Leiterin am HAU ist, für eine einjährige Residenz ins | |
Berliner Podewil. Na ja, und vielleicht erinnerst du dich an Berlin in den | |
90ern … (lacht) | |
BT: Es war eine Zeit, in der die Beziehung zwischen Deutschland und | |
Großbritannien politisch gewollt war. Das betrifft auch Gob Squad! | |
Umgekehrt ist es schon vor dem Brexit sehr schwer geworden für Gruppen, die | |
nicht in England residieren, dort überhaupt zu touren und ihre Arbeit zu | |
zeigen. | |
SW: Die Olympischen Spiele 2012 waren der finale Sargnagel der britischen | |
Kulturförderung, die seit den Achtzigern permanent heruntergefahren wurde, | |
ob von den Konservativen oder von Labour. Heute haben es freie Gruppen und | |
neue Künstler*innen in England wirklich schwer. | |
BT: Wenn wir dort auftreten wollen, müssen wir Fördermittel beantragen, | |
weil die Spielstätten dort gar keine Budgets für Gastspiele von außerhalb | |
haben. Immerhin haben das Londoner Lift Festival und das Brigthon Festival | |
unsere letzte Show „Creation (Pictures for Dorian)“ koproduziert. | |
Womit werden Sie sich trösten, wenn die Trennung wirklich vollzogen wird? | |
SW: Vielleicht damit, dass Großbritannien dann eher Gelegenheit hat, sich | |
mit der Tatsache abzufinden, dass es keine Weltmacht mehr ist. Als kleines | |
Land, das es dann unweigerlich sein wird, kann es Konsensfindung und | |
Zusammenarbeit lernen und vielleicht das binäre Denken von | |
Kolonisator/kolonisiert hinter sich lassen. | |
26 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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