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# taz.de -- Album „Eton Alive“ von Sleaford Mods: Nüchtern im Zombieland
> Auf ihrem neuen Album wütet das Elektro-Punk-Duo Sleaford Mods über den
> Brexit, die Polit-Elite und mittelständische Genügsamkeit
Bild: Betrübt über das Brexit-Chaos: Die Sleaford Mods bei einem Auftritt im …
Vor ziemlich genau fünf Jahren [1][spielten das britische Duo Sleaford Mods
im Berliner Club Bei Ruth], einem schrabbeligen kleinen Laden im
Niemandsland zwischen Neukölln und Treptow. Die Schlange am Eingang war
lang, der Hype um den Schepper-Punk-Elektronik-Sound aus Nottingham gerade
hochgekocht. Und das, obwohl Jason Williamson und Andrew Fearn in diesem
Moment bereits seit geraumer Zeit ihr Ding machten.
Soundbastler Andrew Fearn spulte seine minimalistischen Beats ab, Sänger
Jason Williamson hielt seine mit Wut und Humor durchsetzten Tiraden mit
einer hohen Körperspannung am Laufen. All die Energie entlud sich durch
seinen nach vorne zuckenden Arm, was sich dann als Welle durchs Publikum
fortsetzte. Seine Lines kamen rüber wie ein pointierter Bewusstseinsstrom
über den beschwerlichen Alltag in den abgehängten Regionen Nordenglands.
Die Musik der Zweimannband wirkte vertraut. Irgendwie Punk, irgendwie
frisch.
Ein legendärer Abend, doch gleichzeitig befürchtete man, allzu lang werde
man an dieser Band keinen Spaß haben. Sei es, weil sich ein so simples
Konzept rasch totlaufen könnte. Oder auch, weil Erfolg der natürliche Feind
von Do-it-yourself-Sound wie dem der Sleaford Mods ist. Lässt sich
Williamsons direkte Form der Ansprache überhaupt auf eine größere Bühne
heben? Und worüber soll er dann shouten?
Inzwischen ist klar, die Zweifel waren unbegründet. Was die Sleaford Mods
machen, funktioniert auch auf der großen Bühne des Megafestivals im
britischen Glastonbury. Und ja, heute klingen die Sleaford Mods fast noch
besser und dringlicher, das zeigt ihr neues Album „Eton Alive“. Es ist das
fünfte Werk seit ihrem Durchbruch. Die verdrossenen Beobachtungen von
Williamson werden inzwischen an Orten gefeiert, die weit weg sind von den
Welten, in denen seine Songtexte angesiedelt sind.
## Seitenhiebe gegen Eliten und Indiebands
Man muss sich diesen Hype noch mal vor Augen führen: Was als
Feierabendprojekt begann, hat inzwischen zu Filmen geführt wie der
Dokumentation „Bunch of Kunst“ und [2][der eher deprimierenden Sozialstudie
„Invisible Britain“], die eine Sleaford-Mods-Tour durch Kleinstädte
beobachtet, in denen sonst wenig passiert.
Aber mit jedem Album, das Sleaford Mods veröffentlicht haben, sind die
beiden Musiker ein bisschen origineller und gleichzeitig verzinkter
geworden. Nun sitzt Williamson im Foyer eines Berliner Hotels, um über
„Eton Alive“ zu reden, das brillant betitelte neue Album der Band: [3][Wie
könnte man den Brexit-Eiertanz], den die in der Privatschulen-Kaderschmiede
Eton gecastete britische Regierung derzeit veranstaltet, knackiger auf den
Punkt bringen?
Williamson wundert sich selbst, was aus seinem Bandprojekt geworden ist.
Andrew Fearn gibt ungern Interviews und ist in England geblieben, der
Sänger dagegen erweist sich als so auskunftsfreudiger wie freundlicher
Interviewpartner, im Gespräch nicht halb so wütend wie auf der Bühne. Das
Einzige, worüber er sich in Rage redet, ist das aktuelle Punkrevival auf
der Insel. „Die Musik dieser Indie-Gitarrenbands kommt mir total kalkuliert
vor. Mich wurmt, dass angeblich wir dieses Revival mit losgetreten haben
sollen. Die Idles jedenfalls haben uns als Einfluss bezeichnet, bis ich
angefangen habe, sie zu beleidigen. Jetzt sagen sie nichts mehr.“
## Gesprächstherapie für die Krisengesellschaft
Jenseits solcher Kollegenschelte wirkt Williamson jedoch vor allem
resigniert, wenn er über aktuelle englische Befindlichkeiten spricht. Und
bisweilen klingt er dann fast melancholisch – eine Tonlage, die sich auch
auf dem Album „Eton Alive“ wiederfindet, etwa im Song „You Come Up to Me�…
In diesem shoutet Williamson zur Abwechslung nicht nur, er singt – und
klingt auf einmal sogar verletzlich.
Das Stück, so Williamson, beschreibe einen Vorfall, den er vor seinem Haus
in Nottingham beobachtet hat. Während eines Drogengeschäfts habe ein Dealer
einen epileptischen Anfall erlitten. Seine beiden Kunden hätten zwar den
Notarzt verständigt, seien dann aber getürmt. „Es hat mir vor Augen
geführt, wie insular unsere Existenz ist. In dieser lebensbedrohlichen
Situation wurde es brutal anschaulich.“
Die sanftere Stimmlage zu finden, war für Williamson ein schwieriger
Prozess. „Ich fahre seit Längerem auf Achtziger-Jahre-R&B ab, Sänger wie
Alexander O’Neal und Luther Vandross, und bin deshalb sowieso ständig am
Singen wie die. Also schickte Andrew mir Backingtracks zu, mit der Idee,
dass ich soulful R&B darübersinge. Aber mein Gesang klang zu bemüht, er hat
einfach nicht gepasst. Also haben wir es mit einer tieferen, etwas
gedämpfteren Tonlage versucht.“
Eine Erweiterung des Sleaford-Mods-Klangspektrums, die prächtig
funktioniert. Auch inhaltlich justieren die beiden nach, es geht in den
neuen Songs nicht mehr ausschließlich um Milieubeschreibungen, bisweilen
klingt Williamson regelrecht introspektiv. Was wohl auch damit zu tun hat,
dass er vor zwei Jahren Alkohol und anderen Drogen entsagt hat. Auch das
sei ein langer Prozess gewesen, erklärt er, „inklusive Gesprächstherapie
und dem ganzen Programm“.
## „Selbstinszenierung der Mittelschicht beobachten“
„Top It Up“ behandelt blinde Flecken, die Menschen bei dieser Thematik
gerne entwickeln. Vordergründig kommt der Song als typischer
Sleaford-Mods-Rant daher. Er handelt von Vorkommnissen bei einer
Beerdigung. Ein Bekannter von Williamson hatte sich umgebracht, weil er mit
seinem Drogenkonsum nicht mehr zurecht kam. Doch bei der Trauerfeier hieß
es unverzagt „hoch die Tassen“, erzählt der 49-Jährige. Auf dem Tisch lag…
fette Lines: „Niemand begriff, dass man hier zusammensaß, weil sich jemand
genau deshalb umgebracht hatte: „2 lines on the table at a fuckin funeral /
for somebody who got sick of two lines on the table, ya / wimmie, got what
I’m on about.“
Williamsons leicht surrealem Blick auf seine Umgebung schadet die neue
Nüchternheit kein bisschen. Und auch die Beobachtungsgabe wirkt
unkorrumpierbar. Es sei zwar schön für ihn, dass er sich jetzt ein Haus in
einer besseren Gegend leisten könne, wo die Nachbarn sich „Guten Morgen“
sagen. Doch das ganze Teile-und-herrsche-Ding habe in Großbritannien
bestens funktioniert. „In ärmeren Gegenden schleichen die Menschen wie
Zombies umher, niemand redet mehr miteinander. Kein Geld und damit auch
keinen Zugang zu einem Sozialleben zu haben, ist der Nummer-eins-Killer in
diesem Land.“
Jason Williamson kennt die sozialen Verheerungen auf der Insel aus eigener
Anschauung. Er arbeitete selbst in prekären Jobs, als Packer in einer
Geflügelfabrik etwa, die Abgründe der Austeritätspolitik kennt er zudem
durch seine ehemalige Arbeit als „benefits adviser“, bei dem er Menschen in
Not über Sozialleistungen beriet.
Dass dem Texter Williamson die Ideen ausgehen, weil sich seine
Lebenssituation verbessert hat, steht nicht befürchten. Das geradezu luftig
dahingroovende „OBCT“, durch das trotzdem ein frösteliger Klangnebel zieht,
handelt von seiner Wohngegend. Das Akronym steht für Oliver Bonas, eine
britische Kaufhaus-Kette: „ein Konsumort, in dem sich die
Selbstinszenierung der Mittelschicht wunderbar beobachten lässt“, erklärt
Williamson. Auch ein „Chelsea Tractor“ taucht in dem Song auf, Slangbegriff
für die SUVs, „in denen diese Leute ihre Kinder zu Schule bringen“.
## Punks mit Sozialstaat-Sehnsucht
Vom politischen Betrieb in seinem Land erwartet ein Williamson nichts,
seine Hoffnungen klingen realpolitisch: Er beklagt die Gräben, die die
Brexit-Entscheidung aufgerissen hat, zusätzlich zu den krassen
Klassengegensätzen, die es sowieso schon gibt. Williamson wünscht sich,
dass die BritInnen nächstes Mal zur Wahl gingen und Labour wählten, auch
wenn er in das aktuelle Parteipersonal wenig Hoffnung setze. [4][Er selbst
wurde übrigens wegen eines kritischen Tweets aus der Partei geworfen].
„Labour bezahlt Leute dafür, dass sie Mitgliedern in den sozialen
Netzwerken nachspionieren. Total faschistoid.“ Die Tories seien allerdings
noch schlimmer, ergänzt er.
Williamsons Sicht auf die elenden Verhältnisse könnte man auch als
Sehnsucht nach einem stärkeren Sozialstaat deuten, einen Staat, der sich
auf seine soziale Verantwortung besinnt. Auch das hätte man in der Form
nicht erwartet, bei diesem so geil wütenden Auftritt der Sleaford Mods vor
fünf Jahren. Strange times indeed.
22 Feb 2019
## LINKS
[1] /Konzertbesprechung-Sleaford-Mods/!5041868
[2] https://www.theguardian.com/books/2018/nov/25/invisible-britain-edited-by-p…
[3] /Britische-Abgeordnete-verlassen-Labour/!5571010
[4] https://www.theguardian.com/music/2016/sep/14/sleaford-mods-singer-jason-wi…
## AUTOREN
Stephanie Grimm
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