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# taz.de -- Premiere an der Komischen Oper: Automatische Gefühle
> Die Performer von Gob Squad und das Forschungslabor für Neurorobotik der
> Beuth Hochschule testen mit „My Sqare Lady“ das Opernpublikum.
Bild: Myon dirigiert
Alle lieben Myon. Opernsängerinnen und Opernsänger singen ihre schönsten
Lieder nur für Myon. Sie wissen, dass sie sterben müssen, und wünschen sich
nichts mehr, als dass Myon sie in guter Erinnerung halten werde für diesen
einen Moment ihrer Begegnung. Dann sterben sie den Bühnentod, und liegen
reglos da. Katarina Morfa singt dazu Didos Klage „When I am laid in earth“
von Henry Purcell. Myon hört zu.
Das ist eine der stärksten, ergreifend emotionalen Szenen eines Experiments
an der Komischen Oper, das am Sonntag zu ersten Mal öffentlich aufgeführt
worden ist. Myon ist ein Kind von Manfred Hild, Mathematiker und
Psychologe. Er hat es mit seinem Team im Labor für Neurorobotik an der
Beuth Hochschule für angewandte Wissenschaften in Berlin konstruiert. Myon
hat zwei Beine, zwei Arme und einen Kopf mit einem Auge und zwei Ohren.
Myon sieht deshalb ein bisschen aus wie ein Mensch. Aber natürlich ist Myon
kein Mensch. Er ist seit fünf Jahren auf Tournee durch alle möglichen
Kongresse für Künstliche Intelligenz. Er ist spezialisert auf „unüberwachte
Lernverfahren zur Selbstexploration“, wie es in der Sprache von Professor
Hild heißt, dessen Forschungsschwerpunkt die „Dynamik rekurrenter
neuronaler Netze“ ist. Myon ist darin sehr weit fortgeschritten. Man kann
ihn sogar auseinander nehmen und wieder zusammensetzen, ohne dass ihm etwas
passiert.
## Myon kann nur lernen
Nur eines kann Myon überhaupt nicht: Theaterspielen. Er kann keinen Schritt
alleine gehen. Auch wenn er nur auf einem Stuhl sitzt, müssen mindestens
zwei Assistenten aufpassen, dass er nicht umfällt. Myon kann nur lernen.
Seine Software analysiert visuelle und akustische Signale und steuert damit
den elektrischen Antrieb seiner Gelenke, hauptsächlich des Halses.
Myon wendet und neigt dann seinen Kopf nicht etwa so, wie es ihm sein
Programm vorschreibt, sondern wie er es will. Deswegen ist er eine echte
Sensation. Philosophisch betrachtet steht er kurz davor, den endgültigen,
empirischen Beweis der Willensfreiheit zu liefern.
Die Performance-Gruppe „Gob Squad“ ist schon sehr viel länger auf Tournee,
oft in Berlin am HAU oder in der Volksbühne etwa. Vor zwei Jahren trafen
sie Professor Hild, der keineswegs in einem Elfenbeinturm aus Silikon und
Platinen lebt. Er kann unter anderem singen. Den Song „Feel“ kriegt er fast
so gut über die Rampe wie Robbie Williams selbst. Eine Idee entstand: Wir
schicken Myon in die Oper.
## Die Software des Opernhauses
Über Barrie Kosky muss man hier nichts sagen, und über den vielseitigen
Arno Waschk auch nicht. Der Theaterchef und der Allzweckmusiker waren
begeistert. Alle lieben Myon. Seit 2013 hat das Computerkind unter Aufsicht
der modernsten Wissenschaften und Künste die uralten Geschichten über
Liebesleid und Liebesglück exploriert, aus denen die Software eines
Opernhauses nun mal besteht.
Das Ergebnis ist hinreißend. Myon ist ein echter Superstar, weil er so
überhaupt gar nichts kann von alldem, was man im Theater erwartet. Er sitzt
nur da, dreht mal seinen Kopf dahin, mal dorthin. Er kann nur wahrnehmen.
Arno Waschk versucht, ihm wenigstens zu zeigen, wie man dirigiert.
Tatsächlich ist Myon danach bereit, auch einmal seine Arme auf und ab zu
bewegen. Orchester, Chor und Ensemble der komischen Oper schmettern dazu
die große Bankettszene aus Verdis „Traviata“. Dann fällt der Vorhang zur
Pause und man möchte stehend applaudieren.
## Werden Computer Menschen ersetzen?
Natürlich kann Myon absolut nicht dirigieren. Die Gruppe um Gob Squad hat
mit ihrer ganzen Erfahrung um diese Labormaschine herum eine theatralische
Situation aufgebaut, die ein teuflisch raffinertes Experiment mit dem
Publikum inszeniert. Vordergründig geht es um die übliche Frage, ob Roboter
Menschen ersetzen können. Haben Computer Gefühle?
Technisches Personal der Oper und Hilds Studenten geben ihre Statements
dazu ab. Sängerinnen und Sänger auch, aber sie nehmen sich die Sache zu
Herzen. Mirka Wagner nimmt Myon auf den Schoß und singt ihm Rusalkas Lied
an den Mond von Dvorak vor, Carsten Schabrowski singt den Wanderer von
Schubert, und so geht es immer weiter in einer Nummernrevue beliebter
Melodien. Myon hört zu. Hat er Gefühle?
Die Frage ist falsch gestellt. „Können Sie auf auf Knopfdruck weinen?“,
wird Mirka Wagner gefragt. „Ja“, sagt sie, „Nein“ sagt der Tenor Christ…
Späth, er könne nur „glaubwürdig den Eindruck erwecken, zu weinen“. Nicht
die Profis auf der Bühne, wir sind es, die im Theater intensive Gefühle
haben, und zwar tatsächlich auf Knopfdruck. Wir bewundern dann gar nicht
die Kunst, wir weinen tatsächlich, obwohl es dafür nicht den geringsten
Grund gibt.
Gob Squad und Hild jagen uns von Anfang an unerbittlich auf diese
Achterbahn. Das Experiment ist ein voller Erfolg, wenn es auch vielleicht
etwas zu lange dauert. Nicht jede Nummer war nötig, aber wir sind zu Tränen
gerührt und dabei gut unterhalten. Wir sind die Automaten, nicht Myon. Wenn
er in Zukunft tatsächlich auch Gefühle haben sollte, wird es ihm nicht
besser gehen. Jetzt wendet er nur den Kopf mal dahin, mal dorthin.
Großartig, man muss ihn einfach lieben.
22 Jun 2015
## AUTOREN
Niklaus Hablützel
## TAGS
Oper
Schwerpunkt Künstliche Intelligenz
Gob Squad
Komische Oper Berlin
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