| # taz.de -- Historiker Ernst Nolte ist tot: Phänomenologe des Faschismus | |
| > Die deutschnationale Einstellung brachte den Historiker Ernst Nolte zu | |
| > einem seltsamen Verständnis der Vergangenheit. Nun starb er in Berlin. | |
| Bild: Ernst Nolte im Jahr 2000 | |
| Der Lärm um Ernst Nolte ist längst verstummt. Wer ihn erinnert, muss sich | |
| in die Endphase der alten Bundesrepublik zurückversetzen, von der am 6. | |
| Juni 1986, als Noltes epochemachender Aufsatz „Vergangenheit, die nicht | |
| vergehen will“ in der FAZ erschien, noch niemand wusste, wie nahe ihr Ende | |
| bevorstand. Wahrscheinlich hätte der Artikel nicht besonders viel Aufsehen | |
| erregt, wenn nicht Jürgen Habermas seinen vehementen Protest gegen „eine | |
| Art von Schadensabwicklung“ der deutschen nationalsozialistischen | |
| Vergangenheit angemeldet hätte. | |
| Eine unerwartete, heftige öffentliche Diskussion, die unter dem Titel | |
| „Historikerstreit“ in die Geschichte einging, brach los. Doch die | |
| Bezeichnung führt in die Irre, wenn man sie nicht als Hinweis auf die | |
| Strukturveränderung der alten Bundesrepublik nimmt. Aus der deutschen | |
| Geschichte, die nach dem Nationalsozialismus zur Gesellschaftskritik | |
| drängte, sollte eine Legitimationsquelle nationaler Identität werden. | |
| Der 1923 in Witten an der Ruhr geborene Ernst Nolte verkörperte ideal das | |
| neu aufkommende Kontinuitätsbedürfnis. Sein bildungsbürgerlicher | |
| Hintergrund ließ ihn während des Kriegs eine intellektuelle Heimat an der | |
| Freiburger Universität finden, an der Heidegger noch Philosophie lehrte. | |
| Ernst Nolte verstand sich später auch noch in seinen historischen | |
| Fragestellungen als Philosoph. Nach 1945 arbeitete er als Gymnasiallehrer | |
| und promovierte 1952. Ohne Scheuklappen wandte er sich danach | |
| zeithistorischen Forschungen zu. Seine hoch gelobte Habilitationsschrift | |
| „Der Faschismus in seiner Epoche“ (1964) zeigte den Nationalsozialismus in | |
| einem europäischen Kontext. | |
| Doch wer das Buch heute aufschlägt, kann nicht übersehen, wie sehr seine | |
| Methode Verständnis für faschistische Gedankengänge voraussetzt. Noltes | |
| Technik des Tabubruchs, Undenkbares unter den Etiketten von Offenheit, | |
| Wissenschaftlichkeit und Emotionsfreiheit auszusprechen, lässt sich hier | |
| schon finden. Der Faschismus wird als Phänomen gedeutet, nicht analysiert. | |
| Auf die geschichtsphilosophisch anmutende Spekulation hat sich Nolte als | |
| Verteidigungslinie zurückgezogen, als er seine geschichtspolitische | |
| Provokation 1986 formulierte: „Vollbrachten die Nationalsozialisten, | |
| vollbrachte Hitler eine ,asiatische' Tat vielleicht nur deshalb, weil sie | |
| sich und ihresgleichen als potenzielle oder wirkliche Opfer einer | |
| ,asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ,Archipel GULag' | |
| ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ,Klassenmord‘ der Bolschewiki | |
| das logische und faktische Prius des ,Rassenmords' der | |
| Nationalsozialisten?“ | |
| ## Aberwitzige Konstruktion | |
| Der Bolschewismus als Verursacher des Nationalsozialismus? Diese | |
| aberwitzige Konstruktion konnte ihre Wirkung in der deutschen | |
| Öffentlichkeit nur unter den Auspizien der „geistig-moralischen Wende“ | |
| entfalten, die Helmut Kohl 1982 ausgerufen hatte. FAZ-Herausgeber Joachim | |
| Fest, der selbst ein beträchtliches Einfühlungsvermögen für die Karrieren | |
| von Hitler und Speer aufgebracht hatte, kam Noltes Art bildungsbürgerlich | |
| drapierten Nachfragens gelegen. Der westdeutsche Diskurs verschob sich | |
| deutlich nach rechts. | |
| Was so unschuldig konservativ aussah, begründete einen starken neuen Zug in | |
| der deutschen Geschichtspolitik. Die öffentliche Kontroverse über den | |
| Nationalsozialismus wurde nach 1989 als ideologische Ressource des neuen | |
| Deutschland entdeckt. Nun mussten Noltes Thesen selbst als Teil einer | |
| vergangenen Vergangenheit relativiert werden. | |
| Noch in seinem Buch „Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. | |
| Nationalsozialismus und Bolschewismus“ (1987) versuchte Nolte die Rückkehr | |
| in die Wissenschaftlichkeit. Nicht nur die Zunft, sondern auch seine | |
| publizistischen Unterstützer begannen entschieden, von ihm abzurücken. | |
| Unübersehbar war der antisemitische Aspekt seiner Theorien, der aus seiner | |
| Methode des Verstehens der Vergangenheit folgte. | |
| Rechtsradikale versuchten ihn zu vereinnahmen; er selbst verteidigte 2004 | |
| den CDU-Antisemiten Hohmann, auf seiner eigenen Webseite ernst-nolte.de gab | |
| er sich als verfolgte Unschuld. Die larmoyante, deutschnationale Tonlage | |
| einer nicht vergehenden Vergangenheit bleibt der Grundton seiner | |
| Publizistik. Ernst Nolte verstarb am 18. August in Berlin nach kurzer | |
| Krankheit. | |
| 18 Aug 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Detlev Claussen | |
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