Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Sicherheit und Migration: Die große Vergrenzung
> Europa sperrt Menschen in Lager und beansprucht das Privileg der
> Bewegungsfreiheit für sich. Mit welchem Recht eigentlich?
Bild: Führt Draht wirklich zu mehr Sicherheit?
Wieder einmal geschieht etwas für die Herrschenden extrem Beunruhigendes im
Herzen Europas. Unüberhörbar meldet sich eine ständig wachsende Vielzahl an
Stimmen zu Wort. Menschenketten der Solidarität bilden sich, angetrieben
vom Lebenswillen ihrer Mitmenschen.
Millionen verzweifelter Männer, Frauen und Kinder, die aus ihrer Heimat
vertrieben worden sind, haben sich zum Exodus aufgemacht. Aber diese
Menschen sind keine Deserteure. Sie sind Flüchtende. Weil sie in Not
geraten sind, haben sie die Orte ihrer Geburt und Kindheit zurücklassen
müssen, Orte, die unbewohnbar geworden waren.
Man erzählt gern die Fabel von der Entwicklungshilfe, und viele glauben
daran. Dabei summieren sich die finanziellen Nettotransfers von Afrika in
den Rest der Welt zwischen 1980 und 2009 auf ungefähr 1.400 Milliarden
US-Dollar, dazu noch die Transfers aus illegalen Geschäften in Höhe von
1.350 Milliarden US-Dollar. Dennoch ist der Glaube nicht auszurotten, dass
die Länder des Nordens die des Südens subventionieren.
Kaum scheint es auch zu zählen, dass Länder mit geringem oder mittlerem
Bruttoinlandsprodukt mehr als 90 Prozent der 65,6 Millionen Flüchtlinge
aufgenommen haben, die es gegenwärtig auf der Welt gibt.
Eine Ära des Irrglaubens und der Engstirnigkeit ist angebrochen. Alte
Vorurteile werden aus dem Müllhaufen der Geschichte hervorgekramt und neue
Fantasien werden im typischen Kreislauf rassistischer Diskurse formuliert.
„Es geht um Kulturelles wie um Zivilisatorisches“, verkünden belesene
Pseudoexperten. „Sie flüchten wegen der Spannungen zwischen den
Generationen.“
## Grenzen sind das Problem
Und: [1][„Je ärmer sie sind,] desto wahrscheinlicher ziehen sie los, aber
sobald sich ihre Lebensbedingungen verbessern, wächst ihr Wunsch, anderswo
zu leben.“
Von ganz tief unten kehrt ein altes Gespenst zurück und schreckt die Leute
auf – die angeblich drohende Invasion ganzer Horden aus überbevölkerten
Weltgegenden, Ländern, „in denen Frauen immer noch sieben oder acht Kinder
haben“.
Aber in Wirklichkeit sind nicht die Migranten das Problem, auch nicht die
Flüchtlinge oder die Asylsuchenden. Sondern Grenzen. Alles beginnt mit
ihnen, und alle Pfade führen zu ihnen zurück. Sie sind nicht mehr nur eine
Markierungslinie, die souveräne Gebiete trennt. Sie sind zunehmend die
Bezeichnung für die organisierte Gewalt, die dem heutigen Kapitalismus und
unserer Weltordnung zugrunde liegt – durch die Frauen, Männer und Kinder zu
Ausgestoßenen werden.
Die Schiffswracks, die Menschen, die zu Hunderten, ja Tausenden jede Woche
ertrinken; das endlose, erniedrigende Warten in Konsulaten; die leidvollen
Tage des Herumirrens in Flughäfen, in Polizeistationen, in Parks,
Bahnhöfen, dann das nächtliche Kauern auf dem Asphalt der Städte, wo
Menschen, die fast nichts mehr haben, sich gegenseitig die Decken und
Lumpen streitig machen, blanke Körper, die Wasser, Hygiene oder Schlaf kaum
noch kennen. Das ist: ein Bild der Menschheit auf dem Weg ins Verderben.
## Bewegung ist eine Grundtätigkeit des Menschen
Und immer wieder führt alles zu den Grenzen zurück – diesen toten Räumen
der Nichtverbindung, die sich jeder Vorstellung einer menschlichen
Gemeinsamkeit verweigern, auch wenn wir alle nur diesen einen Planeten
haben, mit dem wir auf ewig verbunden sind. Aber vielleicht sollten wir um
der Genauigkeit willen nicht von Grenzen sprechen, sondern von Vergrenzung?
Handelt es sich [2][bei dieser Vergrenzung] nicht um den Prozess, durch den
Weltmächte permanent bestimmte Räume in Orte verwandeln, die für bestimmte
Gruppen von Menschen undurchquerbar sind? Geht es nicht um die bewusste
Vermehrung der Orte des Verlusts und der Trauer, an denen die Leben junger
Menschen, die man als unerwünscht eingestuft hat, zerstört werden?
Bewegung ist eine Grundtätigkeit des Menschen, aber man wirft diesen
Menschen vor, dass sie illegal in bestimmte Räume eingedrungen sind, die
sie allein durch ihre Anwesenheit verschmutzen und aus denen sie
ausgewiesen werden müssen.
Die technologische Verwandlung der Grenzen wird mit Nachdruck betrieben.
Physische und virtuelle Barrieren werden errichtet, Datenbestände
digitalisiert, neue Überwachungssysteme entwickelt, ebenso Sensoren,
Drohnen, Satelliten und Grenzroboter, Infrarotdetektoren, biometrische
Kontrollen und Mikrochips mit darauf gespeicherten persönlichen Details.
## Ein Traum absoluter Sicherheit
All das wird eingesetzt, um die Art und Weise dessen, was wir Grenze
nennen, zu transformieren und eine neue, mobile und omnipräsente Form von
Grenzregime durchzusetzen.
Der Traum von absoluter Sicherheit – der nicht nur Überwachung, sondern
auch Säuberungsstrategien erfordert – ist symptomatisch für die
strukturellen Spannungen, die seit Jahrzehnten unseren Übergang in eine Ära
der Automation begleiten, eine zunehmend komplexe und abstrakte Ära der
unterschiedlichsten Bildschirme.
Die Welt präsentiert sich uns nicht mehr in gewohnter Weise. Wir werden
Zeugen einer bis dato unbekannten Beziehung zwischen menschlichen Subjekten
und Objekten und neuer Auffassungen von Raum. Unsere phänomenologischen
Erfahrungen der Welt werden heftig erschüttert. Vernunft und Wahrnehmung
passen nicht mehr zueinander. Panik kommt auf.
Vielleicht mehr als je zuvor können andere sich uns als Lebewesen
präsentieren, die man anfassen kann, die aber geisterhaft abwesend
bleiben, in einer ebenso konkreten Leere, fast wie Phänomene. Genau das
ist der Fall mit Migranten, Flüchtlingen und Asylsuchenden. Wie sie unter
uns in Erscheinung treten, stürzt uns in eine chronische, existenzielle
Angst.
## Großte Todesgefahr auf dem Weg nach Europa
Aber auch die Matrix ihres Seins, die wir für nur eine Maske ihres Selbst
halten, lässt uns verunsichert reagieren. Denn was liegt wirklich dem
zugrunde, was wir sehen?
Wo verlaufen die Migrationsrouten mit der höchsten Todesgefahr? Nach
Europa! Wer kann den größten Meeresfriedhof dieses Jahrhunderts für sich
reklamieren? Europa! Wo versperren Technologien des Eisernen Vorhangs die
meisten Wüsten, Wasserstraßen, Inseln, Meerengen, Exklaven, Kanäle, Flüsse,
Häfen und Airports? Europa!
Und als Gipfel in diesen Zeiten der permanenten Eskalation: die Lager. Ein
Europa voller Lager. Samos, Chios, Lesbos, Idomeni, Lampedusa, Ventimiglia,
Sizilien, Subotica, die Liste bleibt unvollständig. Sind es:
Flüchtlingslager? Lager für Vertriebene? Wartezonen für Menschen, deren
Verfahren noch läuft? Transitzonen? Haftzentren? Notaufnahmelager?
Dschungel?
All diese Phänomene kann man wahrheitsgemäß beschreiben als: Lager für
Fremde. Sowohl mitten in Europa als auch an seinen Grenzen. Im Wesentlichen
sind sie Orte der Internierung, Räume des Ausgrenzens, eine Methode des
Abdrängens von Menschen, die man als Eindringlinge betrachtet, die ohne
gültige Aufenthaltspapiere sind, was sie zu Illegalen macht, deren Würde
antastbar ist.
## Europa abschotten
Es ist sehr gewagt zu behaupten, dass ihre Festnahme und ihre Ausgrenzung
in ihrem besten Interesse geschehe. Nachdem sie in Lager gesperrt und in
Unsicherheit gestürzt wurden, man ihnen ihren Anspruch auf Menschenrechte
genommen hat, ist das Ziel, sie in Objekte zu verwandeln, die man
deportieren, an jeder Bewegung hindern, ja zerstören kann. Dieser Krieg,
der darauf abzielt, sie zu jagen, zu fangen, zusammenzutreiben, ihre Fälle
zu bearbeiten, sie zu separieren und zu deportieren, hat am Ende nur ein
Ziel.
Es besteht nicht darin, Europa abzuschotten, es in eine uneinnehmbare
Festung zu verwandeln, sondern darin, Europa allein das Privileg der
globalen Besitznahme und ungehinderten Bewegungsfreiheit zu sichern – auch
wenn wir eigentlich alle die gleichen Anrechte auf diesen Planeten haben.
Wird das 21. Jahrhundert sich als das Jahrhundert der Einstufung und
Auswahl nach sicherheitstechnischen Kriterien erweisen? Von den Rändern der
Sahara über das Mittelmeer werden die Lager wieder einmal zum letzten
Schritt in einem bestimmten Projekt Europas, einer bestimmten Vorstellung
von Europa in der Welt, zu seinem makabren Symbol, ganz wie es Aimé
Césaire in seinem Buch „Über den Kolonialismus“ vorhersagte.
Einer der größten Widersprüche der liberalen Ordnung war immer das
Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit. Heute scheint es, als sei
Sicherheit wichtiger als Freiheit. Eine Gesellschaft, die auf Sicherheit
setzt, hat keine Garantie auf Freiheit. Sie wird zwingend von dem Bedürfnis
geprägt, sich an einer Reihe von Gewissheiten festzuklammern. Sie fürchtet,
sich Fragen mit unbekannten Antworten und den gewiss darin enthaltenen
Risiken zu stellen.
## Über den ganzen Planeten gehen dürfen
Daher ist die Priorität einer Gesellschaft, die auf Sicherheit setzt, rasch
herauszufinden, was sich hinter jedem Neuankömmling verbirgt – wer er ist,
wo er lebte, mit wem und seit wann, was er macht, wo er hinwill und so
weiter.
Es gibt die Furcht, dass der Traum von einer transparenten Menschheit, in
der es keine Geheimnisse gibt, sich als katastrophale Illusion erweist.
Zunächst bezahlen Migranten und Flüchtlinge den Preis dafür. Auf lange
Sicht ist keinesfalls sicher, dass dies auf sie beschränkt bleibt.
Wie können wir uns unter diesen Bedingungen dem Anspruch einer Weltprovinz
widersetzen, für sich ein universelles Recht auf Ausplünderung zu
beanspruchen, wenn wir nicht wagen, uns das Unmögliche vorzustellen? Das
Unmögliche wäre die Abschaffung aller Grenzen, was bedeutet, allen
Lebewesen der Erde das unabänderliche Recht zuzusprechen, sich auf diesem
Planeten überall hinbegeben zu können.
14 Jul 2018
## LINKS
[1] /Debatte-Deutsche-Migrationspolitik/!5516112
[2] /Kommentar-Merkels-Fluechtlingspolitik/!5519065
## AUTOREN
Achille Mbembe
## TAGS
Migration
Grenze
Flüchtlingspolitik
Achille Mbembe
Postkolonialismus
Postkolonialismus
Syrische Flüchtlinge
Seenotrettung
EU-Flüchtlingspolitik
Flüchtlinge
Innenministerium
Seenotrettung
Migration
Pflegenotstand
## ARTIKEL ZUM THEMA
Leben in den Mythen anderer: Brief an die Deutschen
Worum geht es Achille Mbembe? In der taz schildert er sein „Denken des
Überquerens von Identitäten“.
Debatte über den Denker Achille Mbembe: Die andere Seite der Gleichung
Zur Diskussion über Achille Mbembe und die Beziehung zwischen
Postkolonialismus und Antisemitismus gehört der kritische Blick auf den
Zionismus.
Postkoloniale Theoretiker: Leerstelle Antisemitismus
Die Verdienste postkolonialer Forschung sind groß. Doch die Causa Achille
Mbembe zeigt, dass sie das Wesen des Antisemitismus verkennt.
Schwimmende Flüchtlingshelferin: Sara Mardini festgenommen
Die Syrerin Sara Mardini rettete bei ihrer Flucht nach Deutschland über ein
Dutzend Menschen. Nun wurde sie in Griechenland inhaftiert.
Neue Flüchtlingsmission im Mittelmeer: Fischkutter gegen das Sterben
Auf der Flüchtlingsroute zwischen der Türkei und Lesbos beginnt die Mission
„Mare Liberum“. Sie will staatlichen Akteuren auf die Finger schauen.
Kommentar EU-Asylpläne: Die EU kauft sich Zeit
Die neuen EU-Pläne zur Verteilung von Flüchtlingen zögern nur den Konflikt
hinaus: Weiterhin ist ungeklärt, wer wie viele Menschen aufnimmt.
EU-Pläne für Asylzentren: 6.000 Euro pro Flüchtling
In Papieren, die der taz vorliegen, nennt Brüssel Details für Lager in und
außerhalb der EU. Staaten, die freiwillig aufnehmen, sollen Geld erhalten.
Staatssekretär über deutsche Politik: „Das Land ist aufgewühlt“
Markus Kerber ist im Innenministerium für „Heimat“ zuständig. Er findet,
dass die Politik viel mehr offen streiten sollte.
Kommentar zur Diskussion Seenotrettung: Die schleichende Selbstaufgabe
Menschenrechte einschränken, um ihre grundsätzliche Akzeptanz nicht zu
gefährden? Wer so über Seenotrettung diskutiert, gibt Demagogen recht
Virtuelles Migrationsmuseum: Die Menschen hinter den Zahlen
Im Virtuellen Migrationsmuseum wird die Geschichte von Einwanderung in
Deutschland dokumentiert. Ziel ist die Eröffnung eines physischen Museums.
Debatte Kreativität zu politischen Themen: Knoten auflösen und modern regieren
Wie löst man Pflegenotstand, Wohnungsnot und Migrationsdruck in einer
Win-win-win-Situation auf? Indem man kreative Synergien bündelt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.