| # taz.de -- Virtuelles Migrationsmuseum: Die Menschen hinter den Zahlen | |
| > Im Virtuellen Migrationsmuseum wird die Geschichte von Einwanderung in | |
| > Deutschland dokumentiert. Ziel ist die Eröffnung eines physischen | |
| > Museums. | |
| Bild: Spaziergang durch eine fiktionale Stadt: Frau mit Virtual-Reality-Brille | |
| Ein dreijähriges Mädchen singt ein Kinderlied. Ihr Großvater lobt sie | |
| liebevoll und sagt, dass ihre Eltern das bald hören und sich sehr darüber | |
| freuen werden. Sie sprechen türkisch miteinander, das Mädchen klingt | |
| fröhlich und fährt fort: „Wenn sie meine Stimme hören können, dann kann | |
| auch ich ihre hören.“ Doch ihr Großvater erklärt, dass das nicht ginge, da | |
| ihre Mutter und Vater weit weg in Deutschland leben – die Kassette könne | |
| doch nicht so schnell hin und zurück geschickt werden. Woraufhin das | |
| Mädchen enttäuscht fragt: „Nicht mal die Stimme von Mama?“ | |
| Jahrzehnte vor WhatsApp haben sich Menschen Sprachnachrichten geschickt. | |
| Gastarbeiter*innen und ihre Angehörigen haben neben Briefen und den teuren, | |
| daher seltenen Telefonaten, Hörbriefe auf Kompaktkassetten füreinander | |
| aufgenommen. Es sind Stücke der Sehnsucht nach geliebten Menschen, die man | |
| nur alle paar Jahre im Sommerurlaub in die Arme nehmen konnte. | |
| Die eingangs beschriebene Szene ist ein digitalisierter Ausschnitt aus | |
| solch einem Hörbrief von 1976. Zu hören ist er im Virtuellen | |
| Migrationsmuseum, einem Projekt des Dokumentationszentrums und Museums über | |
| die Migration in Deutschland, kurz DOMID. Seit Anfang Juli können hier bei | |
| einem digitalen Spaziergang durch eine fiktionale deutsche Stadt über 1.000 | |
| Exponate erlebt werden. Darunter auch Fotos, 3-D-Scans von Objekten sowie | |
| Audio- und Videodateien von Interviews mit über 40 Zeitzeug*innen. | |
| Wen soll das Projekt ansprechen? „Jemanden, der in Nicaragua vor seinem | |
| Rechner sitzt, genauso wie einen Lehrer in Deutschland, der mit seiner | |
| Schulklasse etwas zu den rassistischen Pogromen in den 90er Jahren machen | |
| will“, erklärt Kuratorin Sandra Vacca. Vor allem der pädagogische Ansatz | |
| stehe beim Virtuellen Migrationsmuseum im Vordergrund. | |
| ## „Raus in die Welt“ | |
| „Wir erhalten sehr viele Anfragen von Lehrer*innen, die auf der Suche nach | |
| Material zum Thema Migration sind, da die Lehrbücher die Komplexität und | |
| die Vielfältigkeit der Migrationsgeschichte und Gesellschaft oft nicht | |
| abdecken“, so die Historikerin. Daher sei das DOMID gerade auch zu einem | |
| Kooperationspartner von Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage | |
| geworden, einem Bildungsnetzwerk, das sich seit mehr als 20 Jahren für | |
| Menschenrechtserziehung engagiert. Auf lange Sicht soll das Virtuelle | |
| Museum als Quelle für alle möglichen Interessierten dienen. Daher ist es in | |
| deutscher und englischer Sprache erhältlich. „Wir wollen raus in die Welt“, | |
| so Vacca. | |
| Für einen Besuch im Virtuellen Museum muss man sich die Anwendung auf einen | |
| Computer mit Internetzugang herunterladen. Derzeit gibt es nur die | |
| Desktopanwendung. Smartphone- und Virtual-Reality-Anwendung folgen. Wie in | |
| einem Videospiel kann man durch neun verschiedene Gebäude laufen, die | |
| jeweils einen thematischen Schwerpunkt mit dem Bezug Migration haben. Jeder | |
| Ort ist in zwei weitere Räume und drei Zeitebenen aufgeteilt. Die erste | |
| Ebene umfasst die Migration von 1945 bis 1973, also vom Ende des Zweiten | |
| Weltkriegs bis zum Ende der offiziellen Anwerbung von Arbeitsmigrant*innen. | |
| Die zweite Zeitebene gibt einen Einblick in die Zeit von 1973 bis zum Fall | |
| der Mauer im Jahr 1989. Die dritte Zeitebene erstreckt sich von 1989 bis in | |
| die Gegenwart. | |
| In einem der Gebäude, der Schule, geht es um bildungspolitische | |
| Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft, wie die interkulturelle | |
| Öffnung des Bildungssystems. In der Fabrikhalle dreht sich alles um die | |
| Arbeitssituation von Migrant*innen, zum Beispiel die prekären | |
| Beschäftigungsverhältnisse von rumänischen und bulgarischen Arbeiter*innen | |
| in der Fleischindustrie, und am Bahnhof gibt es Geschichten vom Ankommen | |
| seit der Nachkriegszeit. Es werden aber auch aktuellere Ereignisse | |
| thematisiert, wie zum Beispiel die Silvesternacht in Köln, die vor zwei | |
| Jahren eine kontroverse Debatten um das Thema Einwanderung ausgelöst hatte. | |
| Weitere digitale Gebäude sind ein Wohnheim für Geflüchtete, ein | |
| Kulturzentrum, eine Einkaufstraße, und – wie kann es anders im | |
| bürokratischen Deutschland sein – auch ein Amt, das in Wartezimmer und Büro | |
| aufgeteilt ist. Im Büro der zweiten Ebene liegt auf einem Stuhl eine | |
| schwarz-weiße Postkarte. Klickt man darauf, öffnet sich eine sogenannte | |
| Vitrine mit der Überschrift „Auf der Suche nach Sicherheit: Asyl in | |
| Deutschland“. Hier erzählt in einem Audiointerview ein Protagonist, der aus | |
| Sicherheitsgründen nur als M. abgekürzt wurde, wie er in den 1980er Jahren | |
| mehreren hundert Menschen geholfen hat in Folge des Militärputsches aus der | |
| Türkei zu fliehen. | |
| ## Migration menschlich machen | |
| „Es geht uns nicht nur um die historische Dokumentation, sondern auch | |
| darum, die Geschichten um das Thema Migration menschlicher zu machen“, | |
| erklärt Vacca. Gerade in diesen Tagen würde in den Debatten um Flucht | |
| schnell in Vergessenheit geraten, dass es nicht um Zahlen, sondern um | |
| Menschen geht. So auch bei der Geschichte von M. Da seine Taten der | |
| Menschlichkeit aus juristischer Sicht, wenn auch bereits in beiden Ländern | |
| verjährt, Straftatbestände erfüllt haben, wurde sein Interview vom | |
| Projektteam anonymisiert. „Das Vertrauen, das uns die Menschen | |
| entgegenbringen, indem sie uns ihre Geschichten erzählt haben, ist enorm | |
| groß. Ihre Sicherheit hat oberste Priorität“, so Vacca. | |
| Doch nicht alle Interviews sind anonym. Besonders eindrucksvoll sind die | |
| Videos im Wohnhaus, wo zum Beispiel Ibrahim Arslan seine Erinnerung aus der | |
| Nacht zum 23. November 1992 schildert. Arslan überlebte den Brandanschlag | |
| von Neonazis auf sein Familienhaus in Mölln, bei dem seine Großmutter, | |
| seine Schwester und seine Cousine ums Leben kamen. Der damals Siebenjährige | |
| habe geschlafen, als die Molotowcocktails in das Gebäude flogen. Wie einen | |
| seltsamen Traum beschreibt er die Szene, als maskierte Feuerwehrleute ihn | |
| aus dem brennenden Haus geholt haben, die er für Aliens hielt, da sein | |
| kindlicher Verstand die Gefahrensituation nicht begreifen konnte. | |
| Nicht ganz zufällig greift DOMID die rassistischen Übergriffe der 1990er | |
| Jahre in Mölln und Solingen, sowie die Pogrome in Hoyerswerda oder | |
| Rostock-Lichtenhagen so intensiv auf. Gegründet wurde der Verein 1990 von | |
| vier türkeistämmigen Migranten, um das historische Erbe von Einwander*innen | |
| zu bewahren, das wenig Beachtung in der Wissenschaft erhielt. Die ersten | |
| Jahre der Vereinsarbeit wurden von diesen Anschlägen überschattet. Ziel war | |
| und ist immer noch die Eröffnung eines physischen Museums. Mit der Stadt | |
| Köln ist das DOMID aktuell auf der Suche nach passenden Räumlichkeiten und | |
| der entsprechenden Finanzierung. | |
| Die virtuelle Anwendung ist kein Ersatz für dieses Vorhaben, sondern eine | |
| zusätzliche Möglichkeit einen Teil des Gesamtarchivs für die Öffentlichkeit | |
| zugänglich zu machen. Das umfasst inzwischen mehr als 150.000 Exponate und | |
| beschränkt sich keineswegs auf die Einwanderungsgeschichte von Menschen aus | |
| der Türkei. Die Geschichte aller Migrationsgruppen und ihrer Nachkommen | |
| sind dokumentiert: Von den Spätaussiedler*innen, über die | |
| Gastarbeiter*innen aus Griechenland, Italien, Ex-Jugoslawien, den | |
| koreanischen Krankenschwestern, den Vertragsarbeitern der DDR aus Vietnam, | |
| Kuba oder Angola, zu den aktuell aus Krisengebieten geflüchteten Menschen | |
| aus Syrien oder Einwander*innen aus Südamerika. | |
| Es sei gut, dass sich inzwischen auch staatliche Museen dem Thema annehmen, | |
| resümiert Vacca. „Aber wir sprechen nicht über, sondern auf Augenhöhe mit | |
| den Menschen“, so die Historikerin. Im Virtuellen Migrationsmuseum würden | |
| die Exponate kuratiert, aber die Menschen erzählen ihre eigenen | |
| Geschichten, das sei wichtig: „Denn die Geschichte all dieser Menschen ist | |
| auch die Geschichte Deutschlands.“ | |
| 13 Jul 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Canset Icpinar | |
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