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# taz.de -- Antizionismus und Antisemitismus: „Wir müssen einen Konsens find…
> Die Deutschen reden viel über Israel, aber wenig von Antisemitismus.
> Meron Mendel und Anna Staroselski im Gespräch über Grenzen der Kritik.
Bild: Meron Mendel und Anna Staroselski
literataz: Frau Staroselski, in Berlin und anderen deutschen Städten wurde
kürzlich mal wieder der „Kampf auf Leben oder Tod“ gegen das „zionistisc…
Unterdrückungssystem“ gefordert und „Tod Israel! Tod den Juden!“ skandie…
Warum ist das immer noch möglich?
Anna Staroselski: Man muss im Detail schauen, wer zu diesen Demonstrationen
mit welcher Absicht aufruft. In Berlin handelte es sich zuletzt um eine
Organisation, die als Vorfeldorganisation der Terrorvereinigung PFLP
einzustufen ist und die auch in ihren öffentlichen Statements ganz klar das
Existenzrecht Israels aberkennt und zu einem gewaltbereiten Widerstand
aufruft. Sie verharmlosen und legitimieren Terror gegen Israel. Vor diesem
Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass es zu Ausrufen wie „Tod den
Juden und Tod Israels“ kommt. Warum das noch immer passiert, konnte man
sehr gut an Ostersamstag in Berlin sehen, nämlich auch, weil die Polizei
nicht eingeschritten ist, obwohl sogar Übersetzer vor Ort waren.
Grundsätzlich finde ich, dass das palästinensische Samidoun-Netzwerk und
die PFLP, die ja bereits auf der EU-Terrorliste steht, in Deutschland ein
Betätigungsverbot erhalten müssen.
Das träfe auch etwa auf das dem Iran nahestehende Islamische Zentrum in
Hamburg und den Al-Kuds-Marsch, auf dem zur Zerstörung Israels aufgerufen
wird, zu?
Meron Mendel: Generell stimme ich zu. Man muss im Detail schauen, wie die
Organisationen strukturiert sind und welche Gefahr sie darstellen. Wenn
juristisch nichts gegen ein Verbot spricht, bin ich klar dafür.
Herr Mendel, dennoch hat man Ihnen vorgeworfen, den muslimischen
Antisemitismus zu bagatellisieren.
Mendel: Gut, diejenigen, die das behaupten, müssen das auch beweisen.
Staroselski: Ich habe mich schon gewundert, warum Sie sich zum Beispiel gar
nicht geäußert haben zu den Geschehnissen von Ostersamstag, wo zu direkter
Gewalt gegen Juden aufgerufen wurde.
Mendel: Ja, das ist genau, was ich problematisch finde in der Debatte, dass
man nicht gemessen wird an dem, was man sagt, sondern an dem, was man nicht
gesagt hat. Es ist doch selbstverständlich, dass, wenn jemand zu Gewalt
gegen Juden aufruft, ich das alles andere als gut finde. Es ist nicht meine
Aufgabe, jedes Verbrechen, das in diesem Land passiert, zu verurteilen, und
ich finde, wir haben genug andere Probleme, als mit der Lupe zu schauen,
wer was nicht kommentiert hat. Wenn etwas ausreichend kommentiert und
verurteilt wird, bin ich glücklich darüber, dass ich nicht in die Debatte
intervenieren muss.
Frau Staroselski schrieb „Antizionismus ist Antisemitismus“. Stimmen Sie
dem zu?
Mendel: Ja und nein. Es ist doch immer die Frage, woher der Antizionismus
kommt und in welchem Kontext. Die ultraorthodoxen Juden in Me’a Sche’arim
werden sich als dezidierte Antizionisten definieren. Das macht sie
natürlich nicht zu Antisemiten. Zionismus war nie ein Konsens unter Juden.
Der erste zionistische Kongress sollte in München stattfinden, damals hat
die Jüdische Gemeinde in München, die antizionistisch war, dagegen
protestiert und der Kongress wurde nach Basel verlegt. Ich will damit
sagen, wir müssen immer genau schauen, wie Antizionismus begründet wird. Es
gibt Formen des Antizionismus, die auch antisemitisch sind. Genauso gibt es
nicht-antisemitischen Antizionismus.
Staroselski: Es ist aber ein Unterschied, ob Juden sich dazu verhalten oder
nicht, und es ist auch ein Unterschied, ob das Juden in Israel tun oder in
Deutschland. Hierzulande spielt der Antizionismus von Juden beziehungsweise
genauer, der Satmar-Chassidim, nun wirklich keine Rolle. Darüber hinaus:
Den Gedanken eines Nationalstaats abzulehnen, ist in jeder Gesellschaft
möglich. Ich finde aber, wenn wir in Deutschland über Antizionismus
sprechen, ist das eine andere Debatte, weil wir uns in einer Gesellschaft
befinden, die antisemitische Kontinuitäten aufweist, und weil wir schon
immer auch israelbezogenen Antisemitismus hatten. Auch bevor der Staat
überhaupt existiert hat.
Der dann Israel etwa auch völlig unabhängig von der jeweiligen
Regierungspolitik ablehnt?
Staroselski: Ja, das sind Akteure, die Israel sogar unter Jitzhak Rabin
abgelehnt haben. Wir wissen auch, dass in der DDR der Antizionismus zur
Staatsdoktrin dazugehörte. Und in der BRD der 1970er Jahre hat sich in
linksradikalen Gruppierungen wie der RAF etc. der Antisemitismus auf Israel
übertragen. Es ist sehr wichtig, zu schauen, wie der Antizionismus in
Deutschland formuliert wird, und da kann man die Debatte über
Antisemitismus einfach nicht außer Acht lassen. Außerdem muss man über die
Erfahrungen der Jüdinnen und Juden in Deutschland sprechen. Und wenn die
Mehrheit der Jüdinnen und Juden in Deutschland eine andere Haltung zu
Antizionismus hat und sagt, dass Antizionismus sehr wohl antisemitisch ist,
dann muss man das ernst nehmen.
Mendel: Das ist analytisch unscharf. Ob etwas in Israel oder in Deutschland
formuliert wird, ist noch kein Argument. Wir müssen uns auf den Gegenstand
beziehen. Wer was sagt, spielt zwar eine Rolle, aber wichtiger ist, was das
Argument ist. Die Ablehnung des Prinzips Nationalstaat kann ich zwar in der
Sache nicht gut finden, ist aber an sich noch nicht antisemitisch. Und zu
Ihrer Aussage: wenn eine Vorstellung innerhalb der Mehrheit der jüdischen
Community verbreitet ist, würde sie zwangsläufig wahr sein. Das ist kein
Argument. Wie soll man diese Mehrheit überhaupt rausfinden?
Aber dass der „Antizionismus ein Vehikel geworden ist, um antisemitischen
Ressentiments in einer sozial akzeptierten Form Ausdruck zu verleihen“,
steht für Sie außer Zweifel, Herr Mendel, so steht es ja auch in Ihrem
Buch.
Mendel: Ja. Das können wir nur an konkreten Äußerungen belegen und schauen,
wer den Antizionismus als Vorwand nutzt, um Antisemitismus zu legitimieren.
Das muss dann auch ganz klar benannt werden, da bin ich ganz auf der Seite
von Frau Staroselski. Aber wenn Menschen jede Form des Nationalstaats
ablehnen oder aus theologischen Gründen einen Nationalstaat ablehnen oder
sich eine friedlichere Zukunft für den Staat Israel wünschen, indem sich
der Staat nicht als jüdisch, sondern nur als demokratisch definiert, tun
wir uns keinen Gefallen, diese durchaus legitimen Positionen so pauschal
mit dem Antisemitismusvorwurf zu brandmarken.
Staroselski: Aber Antizionismus bedeutet die Ablehnung des Zionismus und
das bezieht sich auf das Selbstbestimmungsrecht von Juden und letztlich auf
Israels Existenzrecht.
Mendel: Warum? Das bezieht sich auf Israel als zionistischen Staat, aber
nicht auf das Existenzrecht. Israel kann auch rein theoretisch als nicht
zionistischer Staat mit oder ohne jüdischer Mehrheit existieren.
Staroselski: Zionismus bedeutete in seinem Ursprung, einen jüdischen Staat
zu errichten. Wenn man ablehnt, dass ein jüdischer Staat existieren soll,
ist das für mich antisemitisch.
Mendel: Was meinen Sie mit ablehnen?
Staroselski: Antizionismus bedeutet, dass ein jüdischer Staat in seiner
Form nicht existieren darf. Das, finde ich, ist antisemitisch, und da ist
es aus meiner Sicht erst mal egal, wer diesen Gedanken formuliert. Es gibt
ja auch Arbeitsdefinitionen, beispielsweise von der International Holocaust
Remembrance Alliance, die eine definitorische Übersetzung der Erfahrungen
von Jüdinnen und Juden ist. Das Besondere an dieser Definition ist, dass
sie eine Reihe von Beispielen gibt, die sich insbesondere auf
israelbezogenen Antisemitismus beziehen. Das macht sie so besonders
wichtig, weil gerade bei israelbezogenem Antisemitismus sehr häufig nicht
klar ist, ob eine Aussage antisemitisch ist oder Entscheidungen der
israelischen Regierung kritisiert werden. Aber wenn Israel dämonisiert oder
das Existenzrecht Israels abgelehnt wird, ist das auch laut dieser
Arbeitsdefinition antisemitisch.
Mendel: Ich definiere mich als Zionist. Nichtdestotrotz müssen wir das
Ganze analytisch scharf stellen. Einige, die antizionistische Positionen
vertreten, vertreten auch israelbezogenen Antisemitismus. Aber es gibt eben
auch in der jüdischen Diaspora viele Bewegungen, auch historische, die
antizionistisch sind. Es ist falsch, diese ganze Vielfalt an
antizionistischen Positionen nachträglich und in der Gegenwart als
antisemitisch darzustellen. Das ist paradox. Ein Großteil der Juden, die
außerhalb von Israel leben, ist antizionistisch, und auch ein
beträchtlicher Anteil der Juden, die in Israel leben, ist antizionistisch.
Sind die alle Antisemiten?
Aber es gibt eine Schnittmenge zwischen Antizionismus und israelbezogenem
Antisemitismus.
Mendel: Ja. Da geht mit der Ablehnung der jüdischen Komponente des Staates
Israel der Wunsch einher, die Juden loszuwerden aus der Region. Das ist
antisemitisch. Aber es gibt auch Positionen, die ich zwar nicht teile, die
aber eine andere, vielleicht utopische Vorstellung haben von der
Organisation des gemeinsamen Staatswesens nicht nach Religion, sondern nach
Staatsbürgerschaft.
Staroselski: Wir reden ja über heute und nicht über einen utopischen
Moment. Und wir reden darüber, welche Gefahr Antizionismus für Jüdinnen und
Juden in der Diaspora bedeuten kann. Es geht darum, welche Gefahr die
antizionistische Propaganda mit sich bringt. Ich habe nicht gesagt, dass
alle Juden Zionisten wären, und der Zionismus ist auch keine monolithische
Ideologie. Aber es geht doch darum, dass es heute de facto einen jüdischen
Staat Israel gibt und dass es Personen gibt, die sagen, dass dieses Land in
seiner Form nicht existieren darf und was daraus folgt.
Mendel: Wenn Leute sagen, Israel darf nicht als jüdischer Staat existieren,
ist das sicherlich antisemitisch, da würde ich zustimmen. Aber wenn es
heißt, Israel soll nicht als jüdischer Staat existieren, ist das vielleicht
nicht richtig, aber keinesfalls antisemitisch.
Aber wie geht man mit einem antisemitischen Antizionismus um? Wir führen
bei all den Skandalen von Mbembe bis documenta immer wieder dieselbe
Diskussion.
Mendel: Genau deswegen brauchen wir Definitionsschärfe. Einige sehen
überall Antisemitismus und andere sind blind dafür oder leugnen ihn per se.
Wir müssen Werkzeuge erarbeiten, um den Antisemitismus – aber auch falsche
Antisemitismusvorwürfe – zu entlarven, und ich denke, an dem Punkt sind wir
jetzt: Wir sind uns einig, dass es Formen der Israelkritik gibt, die klar
antisemitisch sind.
Aber das Problem ist häufig, dass es nicht um Inhalte, sondern um
Sprecherpositionen geht. Wenn etwa auf der documenta in einem Kunstwerk
Gaza mit Guernica gleichgesetzt wird, geht es in der Diskussion nicht
darum, aus welchen Gründen das eine falsche Parallelisierung ist, sondern
es geht um die Herkunft der Künstler:innen.
Staroselski: Ja. Für mich ist außerdem als in Deutschland lebende Jüdin das
Problem mit Antisemitismus kein analytisches, sondern ein
gesellschaftliches Problem, was auf dem Rücken von Jüdinnen und Juden
ausgetragen wird. Wenn Jüdinnen und Juden sich in Deutschland nicht sicher
fühlen, wenn sie nicht sicher auf die Straße gehen können, wenn sie Sorge
haben, als Jüdinnen und Juden erkannt zu werden, ihre jüdischen Symbole
verstecken müssen, dann geht es nicht um analytische Diskussion, sondern
darum, dass der Rechtsstaat Jüdinnen und Juden schützen muss, und es
bedeutet, dass man sich auseinandersetzen muss mit Antisemitismus und mit
Kontinuitäten des Antisemitismus in der Gesellschaft.
Das heißt, die Beschäftigung mit Antisemitismus findet eigentlich gar nicht
statt? Sie haben einmal geschrieben: „Der Vorwurf des Antisemitismus wiegt
schwerer als der Antisemitismus selbst“.
Staroselski: Man muss die Sprecherposition von Jüdinnen und Juden ernst
nehmen und ich finde, dass [1][das Beispiel documenta], das Sie angebracht
haben, ein sehr passendes dazu ist, weil es bereits vor der Eröffnung der
documenta jüdische Stimmen gab, die gewarnt haben, dass diese Ausstellung
Antisemitismus öffentlich zur Schau stelle. Darauf wurde kaum bis gar nicht
reagiert. Die documenta wurde ausgesessen, es gab dann eine
Untersuchungskommission und Debatten in Feuilletons über Ausstellungsstücke
und am Ende ist nichts passiert. Stattdessen ist man genau in die Situation
geraten, zu debattieren, ob jetzt die Künstler, die diese Kunstwerke
ausgestellt haben, Antisemiten sind oder nicht. Mir geht es nicht um
pauschale Antisemitismusstempel, sondern um die Auseinandersetzung mit
antisemitischen Verschwörungserzählungen, mit reproduzierten
antisemitischen Inhalten, weil sie eine konkrete Auswirkung auf das
Sicherheitsgefühl von Jüdinnen und Juden in Deutschland haben.
Mir scheint, der Zeitgeist ist hier ein anderer.
Staroselski: Es gibt Umfragen, die zeigen, dass heute etwa 70 Prozent der
Deutschen glauben, dass ihre Vorfahren keine Täter waren. Im letzten Herbst
ist eine Studie herausgekommen, die besagt, dass knapp über die Hälfte der
Deutschen eine Schlussstrichdebatte fordert. Wir hatten bis in die 1980er
Jahre personelle Kontinuitäten von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in
Verantwortungspositionen und wir sind noch immer nicht an einem Punkt
angelangt, wo man sagen kann, dass Antisemitismus keine reale Existenz mehr
in der deutschen Gesellschaft hat. Auch vor diesem Hintergrund müssen die
Debatten geführt werden, und das ist nicht ausschließlich eine
akademisch-analytische Debatte von Wissenschaftlern im Elfenbeinturm,
sondern das ist eine Debatte, die in erster Linie Jüdinnen und Juden
betrifft, deren Stimme gehört werden muss.
Mendel: Natürlich. Leider ist es so, dass Juden die Leidtragenden sind,
aber das gibt niemandem die Berechtigung, den Antisemitismusvorwurf
leichtfertig zu benutzen. Wir müssen uns mit jedem Vorwurf
auseinandersetzen. Was sich antisemitisch anfühlt, muss nicht auch
antisemitisch sein.
Staroselski: Würden Sie das beim Thema Rassismus auch so sagen?
Mendel: Absolut. Wir können nicht die Debatte auslagern und sagen, nur die
Schwarzen können jetzt entscheiden, was Rassismus ist und nur die Juden
können entscheiden, was Antisemitismus ist. Aus dem einfachen Grund: Es
gibt nicht nur eine Meinung von Juden und es gibt nicht nur eine Meinung
von Schwarzen. Verletzte Gefühle sind keine Substanz, mit der wir
argumentieren können. Es fehlt uns auch nicht an Sonntagsreden und
Bekenntnissen gegen Antisemitismus, sondern wir müssen einen Umgang mit den
wiederkehrenden Debatten finden, sie differenziert führen und schauen, wie
wir wirklich den versteckten oder codierten Antisemitismus analytisch
decodieren. Gefühle sind noch kein Beweis.
Staroselski: Man muss erst mal überhaupt ernst nehmen, wenn Jüdinnen und
Juden sagen, hier findet Antisemitismus statt, und das nicht als
Antisemitismusvorwurf in Anführungszeichen abtun oder den
Antisemitismusvorwurf an sich skandalisieren.
Mendel: Warum in Anführungszeichen? Das ist aber doch zunächst einmal
faktisch ein Vorwurf.
Staroselski: Das haben wir bei so vielen Debatten gesehen. Es geht dann nur
noch um die Person, die diesen Antisemitismusvorwurf erhalten hat und man
setzt sich nicht mit dem Inhalt auseinander oder damit, was tatsächlich
passiert ist.
Mendel: Ich habe eine schlechte Nachricht: Jede Debatte funktioniert so,
dass es erst einmal einen Vorwurf gibt. Und dieser Vorwurf muss überprüft
werden. Klar müssen die Juden ernst genommen werden, so wie die Katholiken
oder Evangelen, Frauen oder Männer auch. So ist das in der Demokratie.
Jeder muss ernst genommen werden. Darüber gibt es keinen Streit. Aber im
Endeffekt ist die Beweislast an denjenigen, die den Vorwurf erheben.
Roger Waters hat neulich im [2][Gespräch mit Ihnen, Meron Mendel, im
Spiegel ] gesagt, „Sie kennen das Wort, das wir nie benutzen durften, aber
jetzt benutzen dürfen, weil es ständig benutzt wird, und das ist:
Apartheid.“ Mir scheint, er hat da genau die perfide Grenzverschiebung
benannt, die auch in postkolonialen Kreisen oft anzutreffen ist, das heißt,
so oft in Bezug auf Israel die Wörter Apartheid und Genozid zu wiederholen,
bis alle dran glauben, egal wie falsch die Aussage ist.
Mendel: Der Apartheidvergleich ist falsch, aber ich würde nicht sagen, dass
jeder, der den Vergleich anstellt, antisemitisch ist. Man muss diese
Diskussion führen und Argumente und Belege dafür bringen, warum dieser
Vergleich zwischen Israels Besatzungspolitik und der Apartheidpolitik nicht
zutreffend ist. Das ist der einzig mögliche Umgang mit diesem Vorwurf. Wir
dürfen uns dieser Diskussionen nicht entziehen, indem die Gegenposition
pauschal als antisemitisch dargestellt wird.
Staroselski: Der Apartheidvorwurf gegen Israel ist falsch und verharmlost
die Realität der Menschen in Südafrika bis in die 1990er. Was die
postkolonialen Grenzverschiebungen in Bezug auf die Genozidfrage angeht,
sind wir uns vielleicht einig: Man muss an der [3][Präzedenzlosigkeit der
Shoah] festhalten. Die Behauptung oder Verschwörungserzählung ist ja, dass
es jüdische Eliten gäbe, die Deutschland eine Erinnerungskultur
aufoktroyiert hätten – mit den Juden als einer besonderen Opfergruppe. Die
Absicht ist nun, die Shoah als einen Genozid unter vielen darzustellen. Was
aber faktisch nicht richtig ist, schon allein wegen der sogenannten
„Endlösung“ – es sollten ausnahmslos alle Juden und Jüdinnen aufgespür…
getötet werden. Die Nichtanerkennung des Präzedenzlosen führt auch zu einer
Art Entlastung. Wenn man sagt, Jüdinnen und Juden sind keine besondere
Opfergruppe, dann braucht es auch keine besondere Erinnerungskultur in
Deutschland. Deutschland wäre dann nur noch eine Nation von vielen
imperialistischen zur Zeit des Kolonialismus und Imperialismus, und man
bräuchte auch keine besondere Verantwortung gegenüber Jüdinnen und Juden
und entsprechend auch nicht gegenüber Israel.
Mendel: Die Präzedenzlosigkeit sehe ich genauso, nichtsdestotrotz sehe ich
nicht, was das Problem ist, darüber zu diskutieren. Wir müssen einfach die
besseren Argumente auf den Tisch legen, damit wir in der Wissenschaft wie
auch in der breiten Gesellschaft einen Konsens finden.
Staroselski: Man kann diese Debatten führen und das tun wir tagtäglich,
übrigens seit Jahren. Ich finde nur, diese Debatte wie auch die documenta
haben gezeigt, dass, wenn wir uns in einem Klima von Relativierung und
Schlussstrichforderungen befinden, jüdische Perspektiven, die klar den
Antisemitismus benennen, abgewehrt werden. Wenn man diese Positionen auch
legitimiert, wenn man auch mit Roger Waters, der ein Antisemit ist, spricht
und seine Position zulässt, dann kommt man eben zwangsläufig dazu, dass
Antisemitismus verharmlost oder legitimiert wird. Und die Konsequenz dessen
ist, dass man dann vielleicht nicht solche Demonstrationen wie die, über
die wir eingangs sprachen, verhindert, sondern einen gesellschaftlichen
Rahmen schafft, in dem solche Demonstrationen zunehmen können.
Mendel: Sie sagen immer, jüdische Perspektiven müssen ernst genommen
werden. Was sind jüdische Positionen? Ich finde es problematisch, bestimmte
Positionen als jüdische zu deklarieren und andere, die vielleicht für Sie
nicht bequem sind, als nichtjüdische.
Staroselski: Ich beziehe mich hier auf demokratisch legitimierte
Institutionen, die einen repräsentativen Anspruch haben, die jüdischen
Gemeinden und jüdische Menschen in Deutschland zu vertreten, also zum
Beispiel der Zentralrat, die Zentralwohlfahrtsstelle etc. Das sind
Institutionen, die die Mehrheit der jüdischen Menschen in Deutschland
repräsentieren.
Mendel: Die Hälfte der Juden in Deutschland ist nicht organisiert in den
Gemeinden.
Staroselski: Viele Jüdinnen und Juden, die von Marginalisierungserfahrungen
betroffen sind, haben kein Sprachrohr, und der Zentralrat ist die
politische Interessenvertretung dieser Menschen. Ich frage mich, wenn es
nicht das organisierte Judentum oder jüdisches Leben in Deutschland gäbe,
wie diese Personen überhaupt berücksichtigt werden würden.
Mendel: Ich habe gar nichts gegen den Zentralrat, aber die Frage war doch,
wie man bestimmte Kunstwerke oder eine Demonstration bewertet. Und da gibt
es eben nicht eine jüdische Perspektive. Wir haben keinen Hohepriester, der
uns allen die Linie vorgibt.
Weder eine Anti-BDS-Resolution noch ein Antisemitismusbeauftragter oder
eine [4][IHRA-Antisemitismus-Definiton] haben bisher konkret viel
weitergeholfen in den Debatten. Was tun?
Mendel: Da würde ich zustimmen. Ich glaube, dass mit dem
Bundestagsbeschluss oder einem Antisemitismusbeauftragten kein einziger
antisemitischer Vorfall verhindert wurde. Da helfen auch keine
Sonntagsreden. Wir müssen Antisemitismus bekämpfen, wo er existiert, und
Verbündete finden. Dass Menschen sich gegen Antisemitismus auch in ihrem
Alltag einsetzen, wird nicht per Dekret passieren.
Staroselski: Aber wie wollen Sie Antisemitismus bekämpfen?
Mendel: Über Bildungsarbeit, das, was ich in der [5][Bildungsstätte Anne
Frank] auch mache.
Staroselski: Sicher spielt die Bildungsarbeit bei der Prävention gegen
Antisemitismus eine wichtige Rolle. Aber in einer solidarischen und
demokratischen Gesellschaft braucht es auch Formen der Intervention und –
falls nötig – auch Formen der Repression, die Antisemiten Einhalt gebietet.
Dazu gehört eine wachsame Zivilgesellschaft, die bei antisemitischen
Vorfällen einschreitet, ebenso wie ein funktionierender Rechtsstaat, der
antisemitisch motivierte Straftaten verfolgt und ahndet.
26 Apr 2023
## LINKS
[1] /documenta-fifteen--eine-Bilanz/!5883282
[2] https://www.spiegel.de/kultur/roger-waters-im-gespraech-mit-meron-mendel-ic…
[3] /Debatte-um-die-Gedenkkultur/!5751296
[4] https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitions-chart…
[5] https://www.bs-anne-frank.de/
## AUTOREN
Tania Martini
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