Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Politologe über Israel heute: „Die Nakba ist lebendige Gegenwart…
> 75 Jahre nach Gründung Israels befinde sich das Gebiet unter jüdischer
> Vorherrschaft, sagt Professor Bashir. Es brauche Dekolonisierung und
> Versöhnung.
Bild: Dieser Schlüssel, Symbol der Vertreibung, hängt heute im Aida-Flüchtli…
wochentaz: Herr Bashir, kommende Woche jährt sich die Gründung Israels.
Palästinenser*innen nennen die Ereignisse rund um die Staatsgründung
[1][Nakba, auf Deutsch Katastrophe]. Laut Forschungen wurden im Zuge der
Staatsgründung 700.000 Palästinenser*innen vertrieben oder flohen,
rund die Hälfte der damaligen Bevölkerung dort. Zwischen 400 und 600
arabische Dörfer wurden zerstört. Wie fühlen Sie sich als
palästinensisch-israelischer Intellektueller in diesen Tagen?
Bashir Bashir: Unglücklicherweise brauchen wir den Jahrestag nicht, um an
die Nakba erinnert zu werden. Die Nakba ist Erinnerung, aber auch lebendige
Gegenwart. Palästinenser*innen werden täglich mit ihr konfrontiert,
je nachdem wo sie leben. Der israelische Staat übt Gewalt aus: in Form der
Besatzung, der Diskriminierung innerhalb Israels und auch gegenüber
Millionen Palästinenser*innen, die sich nicht in ihrem Heimatland befinden
und gehindert werden, ihr Recht auf Rückkehr auszuüben oder ihre Eltern zu
sehen.
Der Jahrestag kommt zu einer Zeit, [2][da Israel eine extrem rechte
Regierung hat]. Was bedeutet das für Palästinenser*innen?
Es gibt Kontinuitäten zu den vorherigen Regierungen, auch zu den stärker
linksgerichteten. Alle hatten gemeinsam, dass sie die Besatzung und die
Ausweitung der Siedlungen fortsetzten. Aber die neue Regierung zeigt, dass
die israelische Gesellschaft eine tiefgreifende Veränderung durchgemacht
hat: Die nationalreligiösen Zionisten werden immer einflussreicher, während
die ultraorthodoxen Parteien, die sich in der Vergangenheit von
palästinensischen Themen ferngehalten haben, zionistischer werden und
extremere Positionen beziehen. Dazu kommt der Kinderreichtum dieser beiden
Gruppen im Gegensatz zu den säkularen Liberalen. Ich denke, die
Palästinenser*innen werden zu den ersten Opfern dieser Regierung
gehören.
Sie schreiben in Ihrem Buch, es brauche eine „neue politische und
moralische Grammatik“, um die Situation zwischen Mittelmeer und Jordan zu
beschreiben.
Meines Erachtens hat ein großer Teil der dominanten bisherigen Begriffe an
Erklärungskraft verloren. Beispielsweise waren die Begriffe „links“ und
„rechts“ in der Vergangenheit vielleicht brauchbar, um die israelische
Politik zu verstehen. Heute bewegen sich die meisten Parteien im
Mitte-rechts-Spektrum und unterscheiden sich in ihrer Politik gegenüber den
Palästinenser*innen kaum.
Ein weiterer Begriff, der in Ihren Augen ebenfalls nicht mehr brauchbar
ist, ist „Friedensprozess“.
Der Friedensdiskurs geht neben vielen anderen Annahmen davon aus, dass wir
zwei gleichberechtigte Parteien haben, die sich in einem
Verhandlungsprozess befinden und versuchen, eine Übereinkunft zu treffen.
Wir brauchen neue Begriffe und Vokabeln, um die Realitäten in diesem Land
besser verstehen und analysieren zu können.
Sie sprechen von Siedlerkolonialismus.
Mit diesem Begriff können wir die Situation angemessener analysieren – also
die Machtdynamik, die nicht zwischen zwei gleichberechtigten, symmetrischen
Parteien stattfindet, sondern zwischen einem Besetzten/Unterdrückten und
einem Besatzer/Unterdrücker. Der Begriff Siedlerkolonialismus reicht
allerdings nicht aus, um alle elenden Entwicklungen und Dimensionen in
diesem Land zu beschreiben.
Der Begriff Siedlerkolonialismus, so kann man argumentieren, ignoriert den
Antisemitismus in den europäischen Ländern und die Schoah. Viele
derjenigen, die hierher gekommen sind, würden ja nicht von sich sagen, dass
sie Siedler*innen sind, sondern dass sie aufgrund von antisemitischer
Verfolgung eine Heimstätte für Jüd*innen für notwendig erachten.
Die jüdische Frage ist ursprünglich keine palästinensische Frage, keine
östliche oder muslimische. Die jüdischen Siedler*innen, die nach
Palästina eingewandert sind, waren europäische Bürger*innen und Opfer
des europäischen Rassismus. Das christliche Europa ist aufgrund seines
Antisemitismus und verschiedener ausgrenzender Formen des
Ethnonationalismus daran gescheitert, diese Bürger*innen zu integrieren
und zu schützen.
Was heißt das für Sie?
Die Frage ist, ob die Antwort auf europäischen Antisemitismus Zionismus
sein sollte und ob sie auf Kosten der Palästinenser*innen gehen darf.
Es gab im 19. und 20. Jahrhundert sehr unterschiedliche Antworten auf den
Antisemitismus. Eine der Antworten war der Zionismus, aber eben nur eine
von ihnen, übrigens eine marginale zu der Zeit, zumindest bis in die 1930er
Jahre. Es gab so viele unterschiedliche jüdische Strömungen mit
unterschiedlichen Antworten, es gab nichtzionistische messianisch-religiöse
Juden, liberale Kosmopoliten, Marxisten, Sozialisten. Der sozialistische
Bund etwa (der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Osteuropa; d. Red.) war
nicht zionistisch und hatte eine ganz andere Antwort auf den Antisemitismus
als die Zionist*innen.
Sie haben gemeinsam mit dem israelischen Holocaustforscher Amos Goldberg
den Band „Der Holocaust und die Nakba“ herausgegeben. Darin machen Sie das
Konzept von „empathischer Verunsicherung“ stark, in Ihren Worten eine Form
der Anerkennung des anderen, die weder Aneignung noch Selbstverleugnung
bedeutet. Wenn man über Israel als Siedlerkolonialismus spricht, ist das
nicht das Gegenteil von empathischer Bezugnahme?
Ich sage ja, dass der Begriff Siedlerkolonialismus nicht ausreicht, um die
Situation zu verstehen. Um die Komplexität zu verstehen, muss man zum
Beispiel anerkennen, dass sich in diesem Land erfolgreich eine
jüdisch-israelische nationale Identität entwickelt hat. Dann fängt man
bereits an, sich auf eine andere Spielwiese zu begeben, sowohl historisch
gesehen als auch in Bezug auf die Frage, wie man sich den Weg nach vorne
vorstellt.
Wie könnte der aussehen?
Egalitärer Binationalismus, also ein Binationalismus, der auf Gleichheit,
Parität und auf gegenseitiger Anerkennung beruht – unter den Bedingungen
der Dekolonisierung und der historischen Versöhnung. Der egalitäre
Binationalismus könnte verschiedene Formen annehmen: [3][eine Einstaats-
oder Zweistaatenlösung] oder eine Konföderation. Denn letztendlich gibt es
in diesem Land Araber*innen und Jüd*innen und das Land befindet sich
in einem miserablen und ungerechtfertigten Zustand jüdischer Vorherrschaft,
Dominanz und jüdischer Privilegien. Ich denke, die einzige vernünftige und
nachhaltige Zukunft für dieses Land besteht darin, diese Vorherrschaft und
diese Privilegien abzubauen und sich in Richtung einer arabisch-jüdischen
Partnerschaft und eines gemeinsamen Lebens auf der Grundlage von
Gleichheit, von Freiheit und von sozialer Gerechtigkeit zu bewegen.
25 Apr 2023
## LINKS
[1] /Erinnerungskultur/!5864163
[2] /Netanjahu-in-Berlin/!5919051
[3] /Einstaatenloesung-fuer-Israel-und-Palaestina/!5715593
## AUTOREN
Judith Poppe
## TAGS
Westjordanland
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Palästina
Israel
Nakba
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Nakba
Polizei Berlin
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Justizreform
Israel
Westjordanland
Justizreform
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Vertreibung der Palästinenser: Kleinlaute Ratlosigkeit
Beim Kirchentag darf die Nakba-Ausstellung nicht gezeigt werden. Aber nicht
jeder Zweifel an der israelischen Besatzungspolitik ist antisemitisch.
Keine propalästinensische Demonstration: Verbot bestätigt
Propalästinensische Demonstration am 20. Mai bleibt verboten.
Verwaltungsgericht bestätigt Entscheidung der Polizei. Antrag der Anmelder
erfolglos.
Verbot von Nakba-Demonstrationen: Palästinenser im Visier
Wiederholt hat die Polizei Versammlungen mit Palästina-Bezug verboten,
Veranstalter klagen nun dagegen. Auch der Grundrechte-Report übt Kritik.
Eskalation in Nahost: Angriffe in Israel und Gaza
Bei israelischen Luftangriffen sind fünf Menschen gestorben. Hunderte
Raketen wurden aus dem Gazastreifen abgefeuert. In Tel Aviv herrscht
Raketenalarm.
Tod in israelischer Haft: Palästinenser nach Hungerstreik tot
Ein palästinensisches Mitglied der Terrororganisation Islamischer Dschihad
ist in israelischer Haft gestorben. Militante feuern Raketen auf Israel.
Justizreform in Israel: Tausende Befürworter auf der Straße
In Jerusalem haben Anhänger der israelischen Regierung für die
Gesetzesänderung demonstriert. Ministerpräsident Netanjahu hatte die
umstrittene Reform aufgeschoben.
Antizionismus und Antisemitismus: „Wir müssen einen Konsens finden“
Die Deutschen reden viel über Israel, aber wenig von Antisemitismus. Meron
Mendel und Anna Staroselski im Gespräch über Grenzen der Kritik.
Israels chaotische Sicherheitspolitik: Gefährlich für das Land
Beim Versuch, seine Koalition zufrieden und seine Umfragewerte stabil zu
halten, riskiert Netanjahu das Wichtigste: die Sicherheit seiner Bürger.
Deutsch-israelische Freundschaft: Ein Ringen um Haltung
Die Deutsch-Israelische Gesellschaft sucht ihre Positionen zur Justizreform
und zur Palästinafrage. Stimmen werden laut, die eine Zweistaatenlösung
infrage stellen.
Zuspitzung im Nahost-Konflikt: Am Kipppunkt
Es brennt in den besetzten Gebieten. Ein Besuch in der jüdischen Siedlung
Yitzhar und dem Dorf Huwara, in dem es gerade heftige Ausschreitungen gab.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.