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# taz.de -- Deutsch-israelische Freundschaft: Ein Ringen um Haltung
> Die Deutsch-Israelische Gesellschaft sucht ihre Positionen zur
> Justizreform und zur Palästinafrage. Stimmen werden laut, die eine
> Zweistaatenlösung infrage stellen.
Bild: Ein Schäfer mit seiner Herde in der Nähe der israelischen Siedlung Har …
Berlin taz Es ist eine der schwersten innenpolitischen Krisen in der
75-jährigen Geschichte des Staates: In Israel hat sich die neue
rechtsreligiöse Regierungsmannschaft an einen umfassenden Staatsumbau
gemacht. [1][Doch den geplanten Reformen von Justiz- und Bildungswesen
stellen sich Hunderttausende Israelis entgegen], die den Rechtsstaat, die
Essenz des jüdisch-demokratischen Israels, in Gefahr sehen.
Den Massenprotesten zum Trotz scheinen Regierungschef Benjamin Netanjahu
und seine teils extremistischen Koalitionspartner entschlossen, das Oberste
Gericht zu schwächen, den Einfluss der Religiösen auszubauen und dem Land
nachhaltig ihren Stempel aufzudrücken.
Auch im Konflikt mit den Palästinenser*innen setzt die Regierung
kompromisslos auf das Recht des Stärkeren. Für die Deutsch-Israelische
Gesellschaft (DIG), den größten deutschen Israel-Solidaritätsverein, mit
ihren 5.500 Mitgliedern und über 50 Arbeitsgemeinschaften in ganz
Deutschland wirft das Abdriften Israels in einen autoritär-religiösen
Nationalismus Fragen auf. Ziel der DIG ist es, „in steter Solidarität mit
Israel und seiner Bevölkerung“ die bilateralen Beziehungen zu fördern –
Beziehungen, die immer auch darauf aufbauten, dass man ähnliche Werte
teilte.
Doch spätestens der Antritt des aktuellen Kabinetts hat die gemeinsame
Wertebasis infrage gestellt. In der DIG wird nun diskutiert, wem genau die
Solidarität gilt und inwieweit man sich als – deutscher – Freundesverein
positionieren muss und darf.
„Es braucht keine Schulmeisterei aus Deutschland“, betont Jochen Feilcke,
Chef der DIG Berlin und Brandenburg, am Telefon. Aufgabe der DIG sei es,
„klare Kante pro Israel“ zu zeigen. Im März legte Feilckes Team ein
Positionspapier vor, das der taz vorliegt: „Es ist das Recht eines jeden
Deutschen, eines jeden DIG-Mitgliedes, die Politik Israels zu kritisieren –
allerdings nicht im Namen der DIG“, heißt es darin.
Was die im Land so umstrittene Justizreform angeht, betont er, dass sich in
der deutschen Debatte tatsächliche Besorgnis über eine Schwächung der
Demokratie in Israel vermische mit einer antiisraelischen Haltung und
antisemitischem Gedankengut. Feilcke vertraut darauf, dass Israel eine
Demokratie bleibt. Netanjahu, sagt er, werde das Schlimmste verhindern.
Den Druck, sich zu positionieren, spürt auch Volker Beck, ehemaliger
Grünen-Abgeordneter und seit vergangenem Jahr Präsident der DIG. Im März
stellte auch er [2][ein Positionspapier zur Debatte]. Ausführlich geht es
darin um die Justizreform und die Folgen, die die neue Regierung für die
DIG hat. „Die Situation in Israel ist dramatisch“, schreibt Beck und
spricht sich – anders als Feilcke – für kritische Stellungnahmen der DIG
aus.
Eine Verteidigung der Prinzipien von liberalen Demokratien sei keine
Einmischung, schreibt Beck. Wenn sogar Israels Präsident vor einem
Bürgerkrieg warne, könne das die Freund*innen Israels in Deutschland
nicht kalt lassen. Was allerdings weder für Beck noch für Feilcke eine
große Rolle spielt, sind die Positionen der Netanjahu-Regierung im Konflikt
mit den Palästinenser*innen.
Im Gegenteil: Die Worte „Westjordanland“ oder „Palästinenser“ kommen in
Becks 15-seitigem Dokument gar nicht erst vor. Dabei vollzieht sich in
Nahost schon seit Längerem ein Paradigmenwechsel, der sich in voller Pracht
im Dezember im Koalitionsvertrag der neuen Regierung niederschlug. Dort
reklamiert die israelische Regierung ein „exklusives Recht“ [3][des
jüdischen Volks auf das palästinensische Westjordanland].
In der Vergangenheit hatte Netanjahu – mit Rückendeckung von
Ex-US-Präsident Trump – nur unverbindlich eine Annexion des Gebiets
angekündigt. Finanzminister Bezalel Smotrich, ein Wortführer der
Siedlerbewegung, sprach Palästinenser*innen jüngst aber sogar die
Existenzberechtigung als Volk ab: „Es gibt so etwas wie eine
palästinensische Nation nicht.“
In diesem Zusammenhang bleibt ein Vorfall auf einer DIG-Veranstaltung im
vergangenen Jahr in Erinnerung: Zum Israel-Tag im Mai hängte die Berliner
DIG ein großes Banner mit den Umrissen Israels über die Bühne, die sie am
zentralen Wittenbergplatz aufgebaut hatte. Dazu der Spruch: „Wir stehen an
der Seite Israels“.
Die Silhouette des Landes aber zeigte nicht Israel in den Grenzen von 1967,
sondern eine Art Großisrael vom Mittelmeer bis zum Jordan – samt den
palästinensischen Gebieten, die völkerrechtlich nicht Teil des
Staatsgebiets sind. Die israelische Botschaft war offiziell vertreten und
auch Gastrednerin Franziska Giffey, Regierende Bürgermeisterin von Berlin,
[4][ließ sich unter dem Banner ablichten].
Feilcke, dessen Berliner DIG die Veranstaltung organisiert hatte, sagt
heute: „Diese Geschichte ist schiefgelaufen. Als Veranstalter habe ich das
gar nicht wahrgenommen, ich war viel zu beschäftigt.“ Ein Israel, dessen
Staatsgebiet auch die palästinensischen Gebiete einschließe, sei nicht
Position seines Vereins, sagt er auf Nachfrage: „Das war kein politisches
Statement.“ Eine eigene Klarstellung nach dem Vorfall gab es allerdings
auch nicht, weder von Feilckes Berliner Verein noch von der Bundes-DIG.
Beteiligt sich die DIG also an einer Verschiebung des Diskurses weg vom
Ideal einer Zweistaatenlösung, hin zu einem Anspruch Israels auf das
gesamte Gebiet? Auch Präsident Beck, der in der DIG für seine
Israel-Expertise und seine offensive Öffentlichkeitsarbeit gelobt wird,
schreibt in Tweets teilweise nur noch von „Israel und den Gebieten“, nicht
von den „besetzten“ oder „palästinensischen“, noch nicht einmal von den
„umstrittenen“ – ein bemerkenswertes Detail vor dem Hintergrund des
israelischen Koalitionsvertrags.
Auch in der letzten Ausgabe des DIG-Magazins fand sich, neben
ausgewogeneren Artikeln, ein Meinungsbeitrag, dessen Autor sichtlich bemüht
war, den Begriff „Palästinenser“ zu vermeiden. Stattdessen formulierte er
umständlich: „Menschen, die sich Palästinenser nennen“.
## An der Zweistaatenlösung festhalten
Einer, der die von Netanjahu vorangetriebene und offenbar von Teilen der
DIG mitgetragene Tendenz hin zu einem Staat unter israelischer Kontrolle
kritisch sieht, ist der israelische Journalist und Autor Ofer Waldman. Er
führt ein ganz pragmatisches Argument, jenseits jeglicher Ideologie, an:
„Es geht erst mal um Mathematik“, sagt er.
„Ohne eine Trennung von den besetzten Gebieten und angesichts der
Bevölkerungsverhältnisse zwischen Jordan und Mittelmeer wird Israel
entweder nicht mehr jüdisch sein – mangels einer mehrheitlich jüdischen
Bevölkerung – oder nicht demokratisch sein, da die nicht mehrheitliche
jüdische Bevölkerung, wie bereits heute in den besetzten Gebieten, ethnisch
abhängige Sonderrechte genießen wird.“
Die DIG, sagt Waldman, müsse sich die Frage stellen: Ist ein nicht
demokratisches Israel oder eins, das nicht mehr der jüdische Nationalstaat
ist, erwünscht und überhaupt denkbar? „Die meisten Israel-Freund*innen in
Deutschland begreifen es“, sagt Waldman. „Leider gibt es aber auch Kräfte,
die Israel zweckfremd als Instrument für innerdeutsche Auseinandersetzungen
missbrauchen. Ich hoffe, dass sowohl innerhalb der DIG als auch anderswo
die wahren Freund*innen Israels die Überhand behalten.“
Aber auch innerhalb der DIG gibt es kritische Stimmen: zum Beispiel Hermann
Kuhn, Vorsitzender der DIG Bremen und Mitglied im mehrköpfigen
DIG-Präsidium. „Ich lese den Koalitionsvertrag mit großer Sorge“, sagt er
am Telefon. Der darin erhobene Anspruch auf das Westjordanland als
jüdischer Besitz sei wie auch die umstrittene Justizreform und die geplante
Einführung der Todesstrafe nur für Palästinenser*innen nicht im
Interesse Israels.
„Gefährlich“ nennt Kuhn die Entwicklungen. Doch ein Versuch Kuhns, die DIG
auf einen anderen Pfad zu bringen, scheiterte letztes Jahr. In einem Antrag
forderte seine Bremer Arbeitsgemeinschaft, die DIG solle programmatisch an
der Zweistaatenlösung festhalten.
## Klarer gegen Netanjahu-Regierung positionieren
Die Diskussion über die palästinensischen Gebiete müsse geführt werden,
denn sie betreffe des Selbstverständnis der DIG, erläutert er in einem
Beitrag für das DIG-Magazin. Man könne nicht für das Existenzrecht Israels
eintreten, aber „einem anderen Volk grundsätzlich das Recht absprechen,
sich selbst zu organisieren“. Offen wirft er die Frage auf: „Wollen wir als
DIG [5][eine schrittweise Annexion des Westjordanlandes wohlwollend
begleiten]?“
Aus dem Bremer Antrag wurde nichts. Auf der letzten DIG-Hauptversammlung im
vergangenen Sommer wurde er kurz diskutiert, bevor die Diskussion über die
Zweistaatenlösung aus Zeitgründen abgebrochen wurde. Seitdem liegt der
Antrag beim Präsidium und schmort vor sich hin.
„Das war ein Versuch, die ganze Deutsch-Israelische Gesellschaft hinter
einem Vorschlag zu vereinen“, sagt Constantin Ganß, Vorsitzender der
DIG-Jugendorganisation Junges Forum und wie Kuhn Mitglied im Präsidium.
„Meiner Meinung nach war das nicht sinnvoll“, sagt er. Es sei nicht Auftrag
der DIG, sich zu Lösungsansätzen zu positionieren.
Ginge es nach Kuhn, würde die DIG nicht nur an der Zweistaatenlösung
festhalten, sondern sich auch insgesamt klar gegen die Netanjahu-Regierung
positionieren. In Israel ist das Parlament ab dieser Woche in der
Pessach-Pause und die Justizreform liegt – vorerst – auf Eis.
Die Demokratiebewegung macht sich indes bereit, ihren Kampf gegen den
Demokratieabbau noch in diesem Monat wieder aufzunehmen. Am 27. April ist
eine „Millionenkundgebung“ geplant. „Ich sehe es als Pflicht der DIG, die
Bewegung zum Schutz der Demokratie in Israel zu unterstützen, indem wir als
Freunde des Landes unsere Kritik hier in Deutschland öffentlich äußern“,
sagt Kuhn.
Auch Waldman, der israelische Autor, betont: „Für mich sind die
demokratischen Kräfte in Israel, die durch ihre Proteste seit drei Monaten
heldenhaft die inspirierende Kraft der Zivilgesellschaft zeigen, die
einzigen, die eine zukunftsträchtige demokratische Vision für Israel
haben.“ Ob es die Aufgabe von Freund*innen Israels weltweit und in
Deutschland sei, diese Kräfte zu unterstützen? Die Frage, sagt Waldman,
könne man nur mit einem eindeutigen Ja beantworten.
4 Apr 2023
## LINKS
[1] /Proteste-in-Israel/!5922966
[2] https://www.deutsch-israelische-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2023/03/…
[3] /Regierungsbildung-in-Israel/!5897407
[4] https://www.youtube.com/watch?v=_2Lib2MbA_8
[5] https://www.deutsch-israelische-gesellschaft.de/download/dig-magazin-2022-n…
## AUTOREN
Jannis Hagmann
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