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# taz.de -- Proteste in Israel: Ein Land voller Anarchisten
> Der Widerstand gegen die Justizreform der Regierung Netanjahu vereint das
> halbe Land: Die Start-up-Nation ist dagegen, viele Elitesoldaten ebenso.
Bild: Eine Frau liegt aus Protest gegen die Justizreform der Regierung auf der …
Tel Aviv taz | Die Straßen sind noch voller als sonst. Seit Benjamin
Netanjahus Koalition vor einigen Wochen eine Justizreform vorstellte, die
viele Israelis als Angriff auf die Gewaltenteilung betrachten, wird zwar
ständig irgendwo dagegen protestiert. An diesem Samstag, es ist der 25.
März, werden 200.000 Menschen um und auf der Tel Aviver Kaplanstraße
gezählt, die Protestierende in „Democracy Boulevard“ umbenannt haben. Wie
bei jedem Straßenschild in Israel ist der Name auf Hebräisch, Arabisch und
Englisch zu lesen. Die Buchstaben sehen aus wie bei den Originalen. Hier
wurde professionell gearbeitet.
Die Umbenennung der Straße hat Symbolkraft, wichtiger aber ist vielen
Demonstranten einmal mehr, die Stadtautobahn zu besetzen. Wenn der
mehrspurige Ayalon Highway blockiert ist, geht im Großraum Tel Aviv nicht
mehr viel. Das machen sie jeden Donnerstag, wenn nur die Aktivisten auf der
Straße sind, aber auch am Schabbat, wenn die halbe Stadt auf den Beinen
ist.
„Demokratia o vered“ lautet der Slogan, der am häufigsten zu hören ist:
„Demokratie oder Rebellion.“ Gesungen wird er zur bekannten Melodie von
„Seven Nation Army“ der White Stripes, die man auch in Fußballstadien
weltweit hören kann.
## Die Anarchisten verteidigen das Land
Anarchisten seien hier am Werk, sagt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Er hat diesen Begriff von seinem Sohn übernommen, der sich schon länger der
Stichworte der Alt-Right-Bewegung bedient. Die „Anarchisten“ können darüb…
nur lachen. Sind sie es doch, die auf der Integrität der demokratischen
Institutionen beharren und die es mit ihren Steuern ihren religiösen
Mitbürgern ermöglichen, die Torah zu studieren, statt zu arbeiten. Deren
geistliche Führer reden nun in Netanjahus Koalition mit. Für die Liberalen
im Land sind sie es, die den Gesellschaftsvertrag aufgekündigt haben, den
Staatsgründer Ben Gurion einst zwischen Säkularen und Religiösen
ausgehandelt hatte.
Nicht zuletzt verteidigen die von Netanjahu als „Anarchisten“
Verunglimpften das Land. Es sind Reservisten von Eliteeinheiten der Armee,
die im Zuge der Proteste den Hafen von Haifa oder die Autobahn nach
Jerusalem blockieren. Viele von ihnen haben auch begonnen, nicht mehr zum
Training zu erscheinen. Das klingt in europäischen Ohren unbedeutend, aber
die Armee ist auf sie angewiesen: Wenn sie etwa als Piloten von Kampfjets
nicht mehr zu Übungen kommen, sind sie nicht mehr einsetzbar. Das hatte
Verteidigungsminister Joav Gallant nach einigem Zögern dazu gebracht, sich
gegen die Justizreform auszusprechen. Woraufhin er von Netanjahu entlassen
wurde – was an diesem Samstag noch mehr Leute auf die Straße treibt.
## Die Fahne weht über dem Protest
Viele tragen die israelische Flagge zur Demo. Es ist ein Zeichen, das es
verunmöglichen soll, die Bewegung als Versammlung linker Spinner zu
diffamieren, und eine Einladung an Konservative und Rechte,
mitzudemonstrieren. Diese Strategie ist aufgegangen. Der nationalistische
Politiker Avigdor Lieberman etwa trat bei einer Kundgebung gegen die Reform
in Haifa auf.
Die Versuche der Regierung, die Bewegung als links und anarchistisch, also
staatsfeindlich hinzustellen, haben aber unlängst dazu geführt, dass einer
Person der Einlass zur Knesset verwehrt wurde, weil sie die israelische
Fahne bei sich trug. Dass Staatsfeinde daran erkannt werden können, dass
sie stolz die nationalen Embleme tragen, ist neu. Über diese Ironie lacht
ein junger Mann, den ich eine Weile begleite und der seine Fahne schon auf
dem Weg zur Demo wehen lässt. Die Reaktionen darauf sind denkbar
gegensätzlich. Ein Mittzwanziger beschimpft uns als „Pussys“, das
hebräische Wort ist allerdings härter. Wenig später sagt uns dagegen
lächelnd ein alter Mann: „Kol hakavod lachem – Respekt.“
## Viele leiden unter Angststörungen
Einmal mehr stehen sich in dieser Auseinandersetzung nicht nur Religiöse
und Säkulare, sondern auch europäische und arabische Juden gegenüber.
Letztere waren jahrzehntelang als ungebildet verachtet und nach ihrer
Ankunft in Israel in schlechte Wohngegenden verteilt worden – bis Menachem
Begin mit ihren Stimmen die erste rechte Regierung in dem damals noch
beinahe sozialistischen Land bildete.
Netanjahu tat es ihm nach. Der Premier präsentiere sich als Prinz, der den
marokkanischen Israelis, der größten Gruppe unter den [1][orientalischen
Juden], das entgegenbringe, was ihnen am wichtigsten sei, Anerkennung und
Respekt. So interpretiert Moshe das nationale Unbewusste. Der Künstler
erzählt am Rand der Demo auch vom letzten Arztbesuch. Sein Arzt berichtete
ihm, dass rund achtzig Prozent der Patienten, die zuletzt zu ihm kamen,
unter Angststörungen litten.
Die politische Lage führt auch dazu, dass sich die Start-up-Nation aus
Israel auszuloggen droht. In der Hightechbranche, von der eine Insiderin
sagt, sie generiere inzwischen 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts,
reagiert man empfindlich auf die Reformpläne der Regierung. Manche Leute
hätten nun auch Angst um das Geld, das sie in lokalen IT-Unternehmen
angelegt haben.
## Der wahre Anarchist
Mitten in der Masse der blauweißen Fahnen demonstriert Hagusch neged
hakibusch, der „Block gegen die Besatzung“, ein Konglomerat aus linken
Gruppen, mit dem Slogan: „Es gibt keine Demokratie mit Besatzung.“ [2][Hier
weht auch die palästinensische Flagge.] Eine Frau trägt ein Schild, mit dem
sie sich für eine baldige Zwei-Staaten-Lösung einsetzt. Ein junger
Radikaler ruft ihr zu: „Leider zu spät, wir sind schon ein Land!“ In der
Mitte der Gesellschaft gelten beide Szenarien als utopisch – angesichts
einer palästinensischen Autonomiebehörde, die zuletzt 2006 Wahlen
abgehalten und kaum Kontrolle über bewaffnete Gruppen hat.
Eine Straßenecke weiter verteilen ein paar junge Mädchen kleine Zettel, die
zur nationalen Einheit aufrufen. Dasselbe tut der Schriftzug auf einer
blinkenden Werbetafel: „Wir sind ein Volk.“ Eine Demonstrantin zeigt
derweil auf einem Plakat, wen sie für den wahren Anarchisten hält. Es zeigt
unter dem roten Schriftzug „Anarchist“ den Minister für Nationale
Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, der im Jahr 2007 von einem israelischen
Gericht wegen rassistischer Aufhetzung und Unterstützung einer
terroristischen Vereinigung verurteilt wurde.
## Geheimdienst gegen Nationalgarde
Ben-Gvir hat Netanjahu mit der Ankündigung unter Druck gesetzt, seine
Partei Otzma Yehudit werde die Koalition verlassen, wenn der
Ministerpräsident wegen der Proteste bei der Justizreform klein bei gebe.
Inzwischen hat Netanjahu die Justizreform vorerst gestoppt und führt
Gespräche mit der Opposition. Zugleich aber kündigte er die von Ben-Gvir
ebenfalls verlangte Gründung einer Nationalgarde an, die weder von der
Polizeiführung in Israel, noch vom Chef des Inlandsgeheimdiensts Schin Bet
für sinnvoll gehalten wird.
Netanjahu, der einst brillante Politiker der Mitte, ist von ultrarechten
Kräften umzingelt – sie sitzen an seinem Küchentisch und in seinem
Kabinett. Währenddessen wenden sich laut Umfragen immer mehr Wählerinnen
und Wähler des Likud von ihm ab. Es gibt derzeit wohl kein anderes Land auf
der Welt, in dem es so viele Anarchisten gibt.
3 Apr 2023
## LINKS
[1] /Juden-in-der-arabischen-Welt/!5614160
[2] /Proteste-gegen-Justizreform-in-Israel/!5908944
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
## TAGS
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