# taz.de -- Juden in der arabischen Welt: Die Wahrheit steht im Tagebuch | |
> Arabische Länder erlebten im 20. Jahrhundert einen Exodus der jüdischen | |
> Bevölkerung. Die Studie „Die Juden der arabischen Welt“ erklärt die | |
> Hintergründe. | |
Bild: Skeptisch beäugt: Wiedereröffnung der Synagoge in Kairo im Jahr 2005 | |
Bagdad war einst [1][eine muslimisch-jüdische Stadt]. Mindestens ein | |
Drittel der Einwohner waren Juden. 1941 wurde von irakischen Nationalisten, | |
die mit den Nationalsozialisten in Berlin sympathisierten, ein Pogrom in | |
Gang gesetzt, der als „Farhud“ in die Geschichte eingegangen ist. Manche | |
Historiker sprechen von 140, manche von 180 Toten, darunter Frauen und | |
Kinder. 600 Menschen wurden verletzt. Es wären wohl noch mehr Tote und | |
Verletzte gewesen, hätten nicht Muslime ihre jüdischen Nachbarn vor dem Mob | |
geschützt. | |
Der Farhud war der Anfang des vorerst letzten Kapitels jüdischen Lebens im | |
Irak. Pogrome hatte es vorher immer wieder gegeben, und auch der Farhud | |
fand vor der Staatsgründung Israels statt. Danach aber waren nach jedem | |
gescheiterten arabischen Angriffskrieg auf Israel die irakischen Juden | |
immer neuen Verleumdungen, Sanktionen und mehr oder weniger subtilen | |
staatlichen Repressionsmaßnahmen ausgesetzt. Das provozierte mehrere | |
Emigrationswellen, über drei Jahrzehnte zog sich der Auszug der Juden aus | |
dem Irak hin, teils verbunden mit Enteignungen. Am Ende hatten fast alle | |
irakischen Juden das Land verlassen. | |
Auch wenn es nicht überall so massive Pogrome wie den Farhud gab, spielte | |
sich diese Geschichte in allen arabischen Ländern, in denen Juden lebten, | |
ähnlich ab. Im 20. Jahrhundert verließen 900.000 Juden diese Länder, | |
600.000 davon fanden Aufnahme in Israel. Vor der massiven Einwanderung | |
russischer Juden in den Neunzigern waren bis zu 70 Prozent der israelischen | |
Bevölkerung Juden aus arabischen Staaten und ihre Nachkommen. In Israel | |
waren sie zwar als Juden willkommen, sahen sich aber als „schwarze“ | |
Misrachim, also orientalische Juden, rassistischen Vorurteilen gegenüber. | |
Dieser Geschichte widmet sich nun Georges Bensoussans Buch „Die Juden der | |
arabischen Welt“. Sein Untertitel lautet „Die verbotene Frage“, weil, wie | |
der Autor gleich im ersten Satz betont, diese Geschichte „bislang | |
Gegenstand einer massiven Verleugnung“ gewesen sei. | |
## „Heftigkeit einer antijüdischen Stimmung“ | |
Dabei formuliert der Historiker, der 1952 in Marokko geboren wurde, | |
zurückhaltend. Nur in Bezug auf Ägypten spricht er ausdrücklich von | |
Vertreibung. Meist habe es sich um „einen schleichenden Ausschluss“ der | |
Juden gehandelt, eine Atmosphäre „heimtückischer Trennung“, wie Bensoussan | |
den Tunesier Albert Memmi zitiert, der diese Einschätzung bereits in den | |
1950ern formuliert hatte. Das Ergebnis dieses Ausschlusses: Die Juden, die | |
seit 2.000 Jahren an diesen Orten gelebt hatten, verließen sie. Bensoussan | |
nutzt ein biblisches Wort, um den Vorgang zu beschreiben: Exodus. | |
Der Autor wendet sich gegen die Verklärung der arabisch-jüdischen | |
Beziehungen vor dem Zweiten Weltkrieg und gegen die Vorstellung, erst die | |
Staatsgründung Israels sei Auslöser für die judenfeindliche Politik der | |
arabischen Staaten, für die Verachtung in den muslimischen Gesellschaften | |
gewesen. In Syrien etwa herrschte bereits vor und direkt nach Ende des | |
Zweiten Weltkriegs Terror gegen die Juden des Landes in Gestalt von | |
Bombenanschlägen und Morden. Die Vorläuferorganisation des Mossad half | |
zwischen 1943 und 1948 ungefähr 5.000 Menschen dabei, das Land zu | |
verlassen. | |
Aber schon in den vorausgegangenen fünfzig Jahren, also seit Ende des 19. | |
Jahrhunderts, berichteten viele westliche Beobachter, Kolonialbeamte, | |
Journalisten, Reisende von der „Heftigkeit einer antijüdischen Stimmung“ in | |
den arabischen Ländern. | |
## Stätten der „Dhimma“ | |
So zeichnet sich für Bensoussan „das wahre Bild einer Lage der Unterwerfung | |
ab, das weder die goldene Legende der einen noch die schwarze Legende der | |
anderen ist“. Heißt, die Erzählung der „arabischen Toleranz“ sei ebenso | |
legendär, wie die Beschreibung der Lage der Juden auf arabischem Boden als | |
eine „Hölle des Alltags“. Bensoussan fasst zusammen, es handle sich um | |
„eine menschliche Geschichte der Beherrschung, der Wertschätzung, manchmal | |
sogar der Bewunderung, aber immer die Geschichte einer unterworfenen | |
Minderheit, die ständig verachtet wird“. | |
Die arabische Welt sei für die Juden stets eine Stätte der „Dhimma“ | |
gewesen. Wörtlich bedeutet das Wort „Obhut“, das aber heiße „in der Spr… | |
und der Wirklichkeit der Zeit, eine Stätte der Unterwerfung“. Denn der | |
Status der Dhimmi („der Beschützten“), der die Buchreligionen betrifft, | |
schütze Christen und Juden vor Gewalt. „Aber dieser Schutz hat auch seine | |
Kehrseite, einen Status der Erniedrigung, wie es der Koran (Sure IX, Vers | |
29) mit Bezug auf die gizya (die eine der beiden Sondersteuern, die von den | |
Dhimmi entrichtet werden) deutlich macht: ‚Bekämpft sie, bis sie die gizya | |
bezahlen und gefügig sind.‘“ | |
„Die Juden der arabischen Welt“ ist knapp 200 Seiten lang und mit einer | |
Einleitung [2][von Stephan Grigat] versehen, die den politischen und | |
historischen Rahmen umreißt, in dem sich Bensoussan elliptisch bewegt. | |
Georges Bensoussan selbst konzentriert sich in seiner Studie vor allem auf | |
die Länder des Maghreb. Er zeigt mittels einer Fülle von Quellen, vor allem | |
aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, unter welch elenden Bedingungen | |
viele Juden in den unhygienischen, von Epidemien heimgesuchten Ghettos, im | |
Arabischen Mellah genannt, leben mussten. | |
Er beruft sich dabei auch auf Albert Memmi, der als erster den | |
nostalgischen Mythos des schönen Lebens der orientalischen Juden kritisiert | |
hat: „In unseren Erinnerungen, unserer Phantasie war es ein völlig | |
wunderbares Leben, wohingegen unsere eigenen Tagebücher der damaligen Zeit | |
das Gegenteil bezeugen.“ | |
## Bespuckt oder mit Steinen beworfen | |
Die meisten Juden waren arm und ungebildet, und selbst kräftige junge | |
jüdische Männer mussten es erdulden, auf der Straße von muslimischen | |
Kindern beleidigt, bespuckt oder mit Steinen beworfen zu werden. Sie | |
durften die Hand nicht gegen einen Gläubigen erheben, was sie in den Augen | |
der Mehrheit nur noch schändlicher erscheinen ließ: „Je mehr sich der | |
jüdische Untertan demütigt“, schreibt Bensoussan, „umso mehr stellt er | |
seine Unwürdigkeit unter Beweis. Je mehr er sich auslöscht, umso mehr wird | |
er ausgelöscht. Je mehr er beherrscht wird, umso mehr rechtfertigt er | |
seinen Herrn in seiner Herrscherstellung, umso mehr scheint er deren | |
Natürlichkeit zu legitimieren.“ | |
Bensoussan zitiert Berichte jüdischer Reisender aus Europa, die von leise | |
sprechenden und verschlagen dreinblickenden Juden erzählen und dies als | |
psychische Deformationen der Unterdrückten interpretieren, die sich als | |
Ausdruck ständiger Angst in ihren Gesten und ihrer Mimik niederschlägt. | |
Erst als sie Schulbildung erhalten, seit 1860 häufig auf Initiative der in | |
Frankreich gegründeten Alliance Israélite Universelle, und von den | |
aufklärerischen Ideen aus Europa erfahren, gehen die arabischen Juden | |
daran, sich aus ihrer geistigen Unmündigkeit zu befreien, was sie nun aber | |
erneut zum Gegenstand der Verachtung macht. Werden sie erst als Juden wegen | |
ihrer Religion verachtet, erscheinen sie nun als unheimliche, wenn nicht | |
gefährliche Exponenten der Moderne, die mit dem Kolonialismus auch in den | |
arabischen Ländern wirksam wird. Der antisemitische algerische Theoretiker | |
Malek Bennabi etwa hasste die Juden genauso wie die Frauen und den Dollar, | |
die er als „Trilogie des 20. Jahrhunderts“ begriff. | |
## Das postkoloniale „Wir“ | |
Für Bensoussan stellt der Exodus der Juden daher zum einen die universelle | |
Frage nach der Emanzipation des Subjekts, zum anderen die Frage, wie es die | |
arabisch-muslimische Welt mit Aufklärung und Moderne hält. Denn in den | |
arabischen Gesellschaften machte sich ein emanzipierter Jude des „Hochmuts“ | |
schuldig, einen Begriff, den Bensoussan immer wieder in Bezug auf die Juden | |
in den Chroniken findet. | |
Arabische Intellektuelle stellen die Erzählung eines Mangels an Aufklärung | |
und Emanzipation in den arabischen Ländern als ausschließliche Folge des | |
Kolonialismus inzwischen in Frage. Bensoussan zitiert unter anderem den | |
ägyptischen Schriftsteller Sayyid al-Qimni, der 2015 beklagte, dass „der | |
Gebrauch des eigenen Geistes zu einem Verbrechen geworden ist. Man sagt | |
uns, dass der Kolonialismus der Grund für unseren Rückstand ist. Das stimmt | |
nicht. Leider gründet unsere Kultur auf Lügen und unsere Geschichte ist | |
eine Erfindung. Das hat unser Gedächtnis zugrunde gerichtet.“ | |
Dieser radikale Befund lässt Bensoussan aber nicht hoffen. Er ist | |
pessimistisch, vor allem, was seine eigene, französische Gegenwart | |
betrifft. In ihr ist der Wunsch, ein postkoloniales „Wir“ zu formulieren, | |
so stark, legt er nahe, dass der wahrhaftigen Auseinandersetzung mit der | |
Geschichte der Juden in der arabischen Welt mit Abwehr begegnet wird. | |
11 Aug 2019 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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