# taz.de -- Der letzte Jude von Kabul: Er trägt die Synagoge im Herzen | |
> Zebulon Simentov hielt als letzter Jude in einer Kabuler Synagoge aus. | |
> Auch unser Autor floh aus Afghanistan und schrieb Simentovs Geschichte | |
> auf. | |
Bild: Als Zebulon Simentov noch in Kabul lebte, konnte er sich auf die Solidari… | |
Afghanistan war einst ein Land, in dem verschiedene Religionen und Kulturen | |
miteinander lebten – ein Ort, an dem Juden, Muslime, Hindus und Sikhs ihre | |
Wurzeln hatten. In den letzten fünfzig Jahren hat sich diese Vielfalt immer | |
mehr in eine Bedrohung verwandelt. Inmitten dieser dramatischen Veränderung | |
spielt die Geschichte Zebulon Simentovs, des letzten Juden Afghanistans. | |
Simentov wurde 1959 in der Provinz Herat geboren und ließ sich als | |
Teppichhändler in Kabul nieder. 1998 zog er in die von Isaak Levi geleitete | |
Synagoge; nach Levis Tod hielt er dort bis September 2021 aus, als die | |
Taliban längst die Macht übernommen hatten. | |
Was bedeutet es, gezwungen zu werden, sich zu verabschieden, nicht nur von | |
einem Ort, sondern auch von Tradition und Erinnerungen, den eigenen | |
Wurzeln? Diese Fragen prägen Zebulon Simentovs Geschichte. Während er darum | |
kämpfte, die letzten Reste seiner alten Welt zu bewahren, erkannte er, dass | |
sein Überleben von unerwarteten Quellen abhängt – von Menschen, die ihm zur | |
Seite stehen, von Verbindungen, die er nie für möglich gehalten hätte, von | |
einer inneren Stärke, die aus der Erinnerung erwächst. | |
## Juden lebten seit 2.500 Jahren in Afghanistan | |
[1][Die jüdische Geschichte Afghanistans] reicht mehr als 2.500 Jahre | |
zurück, beginnend [2][mit dem babylonischen Exil] 598 vor Christus. Während | |
der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert wurden Juden gezwungen, zum | |
Islam zu konvertieren. Im 12. Jahrhundert berichteten Reisende von einer | |
bedeutenden jüdischen Gemeinde. Trotz wiederholter Verfolgung wuchs die | |
Zahl im 19. Jahrhundert durch eine Flüchtlingswelle aus dem Iran auf etwa | |
40.000 an. | |
Als ich Zebulon 2021 in Kabul traf, war ich von seiner Geschichte tief | |
berührt. Als jemand, der selbst zwischen zwei Welten lebt, fühlte ich mich | |
ihm verbunden. Ich hatte vor, meine Bachelorarbeit über ihn zu schreiben, | |
doch die Gelegenheit, ihn persönlich zu treffen, ergab sich erst später, | |
als ich erfuhr, dass er in der Nähe meiner Eltern lebte. | |
Bei meiner Flucht aus Afghanistan nach Deutschland im Jahr 2010 ließ ich | |
nicht nur ein Land, sondern auch ein Stück meiner Identität hinter mir. Die | |
Unsicherheit, ob ich jemals wieder einen Ort finden würde, den ich Heimat | |
nennen könnte, war allgegenwärtig. Doch die Begegnungen mit Menschen, die | |
mir halfen, gaben mir die Kraft, mich neu zu verorten – zwischen den | |
Kulturen, aber mit einem festen Gefühl für meine eigenen Wurzeln. | |
Wie Zebulon Simentov in Afghanistan, der von der Mehrheit in seinem Viertel | |
unterstützt wurde, aber auch verfolgt wurde von einer radikalen Minderheit, | |
erlebte ich in Deutschland eine ähnliche Zweiteilung: Die Mehrheit der | |
Menschen nahm Flüchtlinge mit offenen Armen auf, während eine kleinere | |
Gruppe feindselig gegenüber den „Fremden“ war. Ich sah mich mit einer | |
Gesellschaft konfrontiert, in der ich nicht nur als Flüchtling, sondern | |
auch als Teil einer politischen Diskussion wahrgenommen wurde, die mir oft | |
fremd war und ist. | |
## Die doppelte Identität vieler Minderheiten | |
[3][Zebulon Simentov trifft in Kabul auf Menschen], die bereit sind, ihm zu | |
helfen – ein alter Freund, der ihn vor seinen Feinden schützt, ein | |
Amerikaner, der ihn verstecken will –, seine Frau und Töchter leben da | |
längst in Israel. Aber genau wie ich zögerte, mein Land zu verlassen, weil | |
ich nicht alle Bindungen zu meinem alten Leben aufgeben wollte, bleibt auch | |
er zunächst zurück, bei seinen Nachbarn, die ihm stets beigestanden haben. | |
Zebulon Simentov war lange der Hüter eines Ortes, dessen Bedeutung weit | |
über die religiöse hinausgeht, bis er das Land verließ. Die Synagoge, die | |
er in Kabul bewachte, ist nicht nur Gotteshaus, sondern auch ein | |
Zeitzeugnis, lebenswichtige Säule einer Gemeinschaft, die auch in den | |
dunkelsten Zeiten Hoffnung und Zusammenhalt bietet. Aber was passiert, wenn | |
dieser Ort plötzlich bedroht wird? Wenn die, die ihn beschützen, selbst ins | |
Visier geraten? Die innere Zerrissenheit zwischen dem Drang, zu überleben | |
und dem Wunsch, die eigene Identität zu wahren, prägt sein Handeln. „Dieser | |
Ort ist ein Teil von mir“, sagt er immer wieder. | |
Die Geschichte des letzten Juden in Afghanistan ist auch eine Reflexion | |
über die doppelte Identität vieler Minderheiten. Als Jude in einem | |
islamisch geprägten Land hat er stets zwischen zwei Welten gelebt. Seine | |
jüdische Herkunft ist tief in ihm verwurzelt, die afghanische Kultur hat | |
ihn geprägt. Er teilte Mahlzeiten mit seinen Nachbarn, feierte Festtage | |
gemeinsam, schuf eine Gemeinschaft über religiöse Grenzen hinweg. | |
Die Migrationsdebatte wird häufig in Zahlen und Statistiken gefasst. Aber | |
Zebulon Simentovs Schicksal erinnert uns daran, dass hinter jeder Zahl ein | |
individueller Mensch steht – jemand, der liebt, hofft und kämpft. Simentovs | |
Entscheidungen spiegeln diese universelle Erfahrung wider: den Zwiespalt | |
zwischen Tradition und Moderne, individueller Freiheit und kollektiver | |
Verantwortung. Und die Frage, wie es gelingt, in einem fremden Land neu | |
anzufangen, ohne sich selbst zu verlieren. | |
## Der Wille, füreinander da zu sein | |
Faszinierend ist, wie Zebulon in Kabul von seinen Nachbarn unterstützt | |
wird: Kaka Rahman, der Älteste des Viertels, bringt ihm Essen, Reza, der | |
Metzger, beschützt seine Familie, Farid, der Lehrer, riskiert sein Leben, | |
um ihm Informationen zukommen zu lassen. Während der IS dem Juden mit | |
brutaler Gewalt nachstellt, findet er bei seinen Nachbarn Unterstützung. | |
Diese Solidarität erinnert uns daran, dass Menschlichkeit nicht durch | |
Religion oder Herkunft bestimmt wird, sondern durch den Willen, füreinander | |
da zu sein. In einer Welt, in der Gewalt oft das Sagen hat, zeigt Zebulon | |
Simentovs Geschichte, dass wahre Stärke in der Verbundenheit zwischen den | |
Menschen zu finden ist. | |
Am Ende geht es um die Frage nach Heimat. Wo liegt sie? Ist sie ein Ort, | |
eine Zeit oder etwas Tieferes? Zebulon Simentov muss erkennen, dass sein | |
Überleben möglicherweise von seiner Fähigkeit abhängt, loszulassen. | |
Allerdings stellt sich die Frage, ob man alles hinter sich lassen kann, | |
wenn es bedeutet, diejenigen zurückzulassen, die einen definiert haben. | |
Israel, das Land seiner Vorfahren, bietet Simentov seit Oktober 2024 | |
Sicherheit, aber die Frage bleibt: Wird dieses Land sein Zuhause? Zebulon | |
Simentov trägt die Synagoge in seinem Herzen, selbst wenn er sie verlassen | |
musste. | |
[4][Die Geschichte des letzten Juden in Afghanistan] ist nicht nur ein | |
Rückblick auf die Vergangenheit, sondern ein Spiegel der Gegenwart. Überall | |
auf der Welt kämpfen Minderheiten darum, ihre Identität zu bewahren, | |
während ihre Kulturgüter zerstört werden. Am Ende bleibt die Frage: Hätten | |
wir den Mut, Entscheidungen zu treffen, die unser Leben für immer | |
verändern? Wofür wären wir bereit zu kämpfen, wann ist der Preis zu hoch? | |
11 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
B. Sadr | |
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