| # taz.de -- Jüdische Bibliothek in Tunesien: Die verloren geglaubte Bibliothek | |
| > Vor 80 Jahren strandeten über 3.000 Bücher des jüdischen | |
| > Religionsphilosophen Franz Rosenzweig in Tunesien. Über die Odyssee einer | |
| > Sammlung. | |
| Bild: Die Stadtbibliothek Tunis kaufte im Zweiten Weltkrieg die Sammlung Rosenz… | |
| Wenn die Münchner Historikerin Julia Schneidawind die Bibliothek mit den | |
| ihr wichtigsten Büchern besuchen möchte, dann steigt sie in die Bahn. Doch | |
| ihr Weg führt sie nicht zur Haltestelle Universität mit der nahen | |
| Bayerischen Staatsbibliothek. Sondern zum Flughafen. | |
| Die Büchersammlung, die Schneidawind in akribischer Recherche entdeckt hat, | |
| stand einmal in Frankfurt am Main, untergebracht in einem eigenen | |
| Bibliothekszimmer. Ihr Begründer, der jüdische Religionsphilosoph Franz | |
| Rosenzweig, war 1929 in jungen Jahren verstorben, seine Witwe hütete den | |
| Bücherschatz. Bald darauf sollten die mehr als 3.000 Bücher ins britische | |
| Mandatsgebiet Palästina gehen, dem Zufluchtsort der von den Nazis | |
| verfolgten Jüdinnen und Juden. | |
| Doch dort sind Franz Kafka, Walter Benjamin, Lord Byron und Albrecht Dürer | |
| niemals angekommen. Seit mehr als 80 Jahren liegen sie stattdessen ganz | |
| woanders, von den Launen des Zweiten Weltkriegs entführt, in der Heimat | |
| vergessen und doch gerettet: in Tunesien. Die Reise der Bücher zur heutigen | |
| Nationalbibliothek gleicht einer bibliophilen Kriminalgeschichte. | |
| Die 37-jährige Julia Schneidawind ist in dieser Woche nach Tunis gereist, | |
| um fehlende Puzzleteilchen dieses Krimis an die richtigen Stellen zu | |
| platzieren. Jetzt sitzt sie in dem großen holzgetäfelten Lesesaal der | |
| Nationalbibliothek mit seinen hohen Fenstern, die einen Blick auf die Stadt | |
| erlauben. Diesen Blick erlaubt sich Schneidawind aber nicht. Lieber schaut | |
| sie in die Bücher, die peu à peu aus den Magazinen für sie hervorgeholt | |
| werden: | |
| Martin Buber: „Eine Übersetzung der Bibel“. Einseitig bedruckte Blätter in | |
| der Paginierung von Seite 1115 bis 1119. Der Sonderdruck könnte aus Bubers | |
| Zeitschrift „Der Jude“ stammen. Ein unscheinbarer Papp-Einband der Zeit. | |
| Der schmale Band passt zu Rosenzweigs bekanntester Arbeit. Er und Buber | |
| schufen ab 1926 gemeinsam eine getreuliche deutsche Übersetzung der | |
| hebräischen Bibel, des Tanachs. | |
| „Rembrandt-Bibel“, Neues Testament, der erste von zwei Bänden, erschienen | |
| 1921 bei Hugo Schmidt in München. Zählt zur Reihe „Bildschatz zur | |
| Weltliteratur“. Mehrfach mit „Bibliotheque Publique Tunis“ gestempelt. | |
| Wilhelm Wibbeling: „Martin Luthers Vorreden zum Neuen Testament“. 2. | |
| erweiterte Auflage. Neuwerk-Verlag 1924 in Schlüchtern. Wieder mit Stempeln | |
| im Innenteil. | |
| ## Rosenzweig ließ sich rund 400 Bücher in den Schützengraben senden | |
| „Was kann man über Menschen erzählen, wenn man ihre Bücher anschaut?“ Di… | |
| Fragestellung habe am Beginn ihrer Recherchen gestanden, sagt Schneidawind. | |
| „Ich habe damit angefangen, mich mit Antiquariaten zu beschäftigen. In | |
| München gab es ja viele berühmte jüdische Familien, die in diesem Bereich | |
| tätig waren. Ich bin dann zu jüdischen Sammlern gekommen. Da habe ich mich | |
| gefragt, wie diese Sammlungen entstanden sind und was aus ihnen nach 1933 | |
| geworden ist.“ | |
| Franz Rosenzweigs Bibliothek entstand aus vielen Quellen. Einige Bände sind | |
| mit dem Namen der Mutter Adele Rosenzweig gekennzeichnet, der Gattin des | |
| Unternehmers Georg Rosenzweig aus Kassel. Manches trägt die Unterschrift | |
| von Edith Rosenzweig, geborene Hahn, die Franz 1920 geheiratet hat. | |
| Er selbst entwickelte sich schon als Jugendlicher zum Buch um Buch | |
| verschlingenden Leser. „Seit vorgestern habe ich den Goethe in 55 Bänden“, | |
| notierte er im November 1906 als 19-Jähriger. Später schmückte er die | |
| Goethe-Bände mit seinem Exlibris, auf dem ein auf einem Felsen stehender | |
| Mensch zu erkennen ist. | |
| Als Soldat im Ersten Weltkrieg auf dem Balkan ließ sich Franz von den | |
| Eltern rund 400 Bücher in den Schützengraben senden – manche davon vom | |
| Einband gelöst und pfundweise verschickt, weil ein größeres Gewicht der | |
| Sendungen nicht erlaubt war. Das Gelesene sandte er zurück ins heimatliche | |
| Kassel. | |
| „Rosenzweig war nicht der klassische jüdische Büchersammler“, meint | |
| Schneidawind. „Er hat, soweit wir das wissen, keine kostbaren Bücher | |
| gesammelt. Seine Bücher waren wohl eher Arbeitsmittel. Aber er war Mitglied | |
| der Soncino-Gesellschaft, einem Verein jüdischer Bibliophiler.“ | |
| Die Bände in Tunis vermitteln den Eindruck eines Universalgelehrten, der | |
| sich für unterschiedliche Themen interessierte, von der Philosophie über | |
| Religion (nicht nur die jüdische) bis zur Kunst und Literatur. Auch zum | |
| Zionismus, der modernen Hinwendung nach Eretz Israel, finden sich Werke, | |
| obwohl Rosenzweig der Bewegung nur wenig abgewinnen konnte. | |
| „Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts“, 1782 | |
| bei Christian Gottlieb Hertel erschienen und anonym von Johann Christoph | |
| Adelung verfasst. Ausgestattet mit einem Papp-Einband, ein „Tunis“-Stempel | |
| auf dem Titel. Ein enormer Wasserfleck zieht sich vom Titel über fast alle | |
| Seiten. Hat Franz Rosenzweig hier seinen Kaffee umgekippt? Oder stammt der | |
| Fleck vom Vorbesitzer S. Gutmani, dessen Name sich winzig klein hinter dem | |
| Einbanddeckel findet? | |
| Dr. F.E. Laupheimer, Rabbiner in Bad Ems: „Die außerpentateuchischen | |
| Quellen der Sabbatgesetze“, Frankfurt am Main 1932. Als das Buch erschien, | |
| war Franz Rosenzweig schon tot. Eine Widmung klärt auf: „Schalom. | |
| Herzlichen Glückwunsch. Vielen Dank“ steht auf Hebräisch neben dem | |
| Besitzeintrag von Edith Rosenzweig. Es handelt sich also um ein Geschenk | |
| des Autors an die Witwe. Bricht auf Seite 208 ab. | |
| Dürers Kupferstichpassion. Erschienen in Nürnberg bei Soldau. Ohne | |
| Jahresangabe, wohl von 1920. Das Papier ist brüchig. Kein Besitzeintrag, | |
| doch zweifelsfrei Teil der Rosenzweig-Sammlung. | |
| ## Die Bücher sollten ein sicheres Exil finden | |
| Bei der Machtübernahme der Nazis 1933 stand die Rosenzweig-Bibliothek in | |
| Frankfurt am Main. Sie sollte einmal dem 1922 geborenen Sohn Rafael | |
| gehören. „Mein Sohn wird viel von mir erfahren, was er anders nicht | |
| erfahren kann“, heißt es dazu in Franz Rosenzweigs Tagebuch vom 13. | |
| September 1922. Edith Rosenzweig hatte zunächst nicht die Absicht, sich von | |
| den Nazis aus Deutschland vertreiben zu lassen. Doch Jahr um Jahr zog sich | |
| die Schlinge enger zusammen. | |
| Jüdinnen und Juden wurden entrechtet, diskriminiert und ausgeplündert. 1938 | |
| durfte Rafael nicht mehr das jüdische Gymnasium besuchen. Edith schickte | |
| ihn nach Palästina. [1][Auch sie selbst wollte nach der Pogromnacht | |
| Deutschland in Richtung Palästina verlassen]. Auch die Bücher sollten ein | |
| sicheres Exil finden, das war ihr wichtig. | |
| Um herauszufinden, was dann geschah, ist Julia Schneidawind um den halben | |
| Erdball gereist, um in Archiven nach den Details dieser versuchten | |
| Rettungsaktion zu forschen. | |
| Wer 1939 als deutscher Jude sein Eigentum ins Ausland transferieren wollte, | |
| unterlag rigiden Bestimmungen. Edith Rosenzweig musste bei der Frankfurter | |
| „Devisenstelle S“ ihr gesamtes Vermögen offenlegen. Jeder Gegenstand und | |
| damit jedes einzelne Buch der Bibliothek musste aufgeführt werden, aber | |
| auch der Bechstein-Fügel, das Radio, der Schmuck. | |
| Eine Geige und zwei Briefmarkensammlungen schnappte sich der Staat, dazu | |
| Gold- und Silberwaren im Wert von über 10.000 Mark. Die Bücher ließen die | |
| Nazis durchgehen. Fast 5.000 Mark musste Edith Rosenzweig für die Erlaubnis | |
| zum Export bezahlen. Die für den NS-Staat verfasste Liste der Werke | |
| informierte 80 Jahre später Schneidawind über den damaligen Bestand. | |
| Endlich, am 24. August 1939 und damit nur sieben Tage vor Beginn des | |
| Zweiten Weltkriegs, wurden die Bücherkisten im Hamburger Hafen auf den | |
| Dampfer Duburg verladen. Sie sollten zunächst zu Ediths Schwester Ilse | |
| Strauss in Jerusalem gehen. Edith Rosenzweig selbst bestieg in Triest ein | |
| Schiff nach Palästina. | |
| Die Duburg aber steuerte das belgische Antwerpen an, wo die Bücherkisten | |
| ausgeladen wurden. Dort lagerten sie aus unbekannten Gründen Monat um | |
| Monat. Erst am 11. Mai 1940, so fand Schneidawind im belgischen | |
| Staatsarchiv heraus, erbarmte sich das Schiff Egypte der Ladung und legte | |
| gen Mittelmeer ab. Es war die letzte Minute. | |
| ## Die Stadtbibliothek von Tunis kaufte die Bücher Rosenzweigs | |
| Einen Tag zuvor hatte der Einmarsch der Wehrmacht in Belgien begonnen, nur | |
| Tage später wurden Kisten mit dem Umzugsgut jüdischer Auswanderer im Hafen | |
| geplündert. „Ich bin in Brüssel Akten um Akten durchgegangen“, erzählt | |
| Schneidawind. „Es war wirklich so, dass ich auf der allerletzten Seite eine | |
| Liste fand, auf der das Eigentum Edith Rosenzweigs verzeichnet war.“ | |
| Mit der deutschen Besatzung wurde Belgien für Frankreich zum Feindstaat. | |
| Noch war Paris nicht gefallen. Das war wohl der Grund dafür, dass der | |
| französische Gouverneur Tunesiens am 29. Mai 1940 die Egypte bei der | |
| Vorbeifahrt stoppen ließ. Schiff und Ladung wurden beschlagnahmt. Was aus | |
| dem Bauch der Egypte entladen wurde, ging auf einer Versteigerung an den | |
| Meistbietenden. | |
| Hier hätte die Geschichte der Rosenzweig-Sammlung zu Ende gehen können, mit | |
| dem Verstreuen der Bücher in viele verschiedene Hände. Doch es kam anders: | |
| Den Zuschlag für sämtliche Werke erhielt die Bibliotheque Publique – die | |
| Stadtbibliothek von Tunis, deren Stempel sich heute noch verstreut in den | |
| Büchern finden. | |
| Im Souq El Attarine sind die engen Gassen mit einem Gewölbe überdacht. | |
| Händler bieten aus ihren offenen Läden Dutzende Gewürze in bunten Farben | |
| an. Die Gerüche sind umwerfend. Dies ist der Gewürzbasar der Altstadt, doch | |
| längst haben sich hier auch Verkäufer von Plastik-Kamelen und anderem Tand | |
| einquartiert, die bevorzugt Touristen bedienen. Neben einem | |
| Bekleidungsladen steht eine Tür offen. Ja, hier sei früher einmal die | |
| Stadtbibliothek gewesen, bestätigt ein Verkäufer. | |
| Hinter der Tür öffnet sich ein schmaler Innenhof, darum herum ein älteres, | |
| von Säulen gefasstes zweigeschossiges Gebäude. Hier hat man um 1942 die | |
| Kisten mit den Rosenzweig-Büchern ausgepackt und in die Regale gestellt, | |
| nachdem sie offenbar lange in einem Container im Hafen gestanden hatten. | |
| Manche Werke erhielten einen Stempel in französischer Sprache „Bibliothek | |
| Fr Rosenzweig August 1942“. | |
| Den Bibliothekaren war also durchaus klar, was sie da ersteigert hatten. | |
| Die Stempelei musste vermutlich abgebrochen werden. Denn nur einige Monate | |
| später, im November des gleichen Jahres, marschierte die deutsche Wehrmacht | |
| in Tunis ein. Juden mussten fortan Zwangsarbeit leisten. Sie waren mit | |
| einem Stern gekennzeichnet, ihre Vertretung saß in Haft. Zum Massenmord kam | |
| es nur deshalb nicht, weil die Alliierten Tunesien nach einem halben Jahr | |
| befreiten. | |
| Jakob Wassermann: „Hoffmannsthal der Freund“, erschienen 1930 bei Fischer | |
| in Berlin. 1.-4. Auflage. Besitzvermerk Adele Rosenzweig. Die Mutter von | |
| Franz starb 1933. | |
| „Auto-Emanzipation“, von einem russischen Juden, Jüdischer Verlag Berlin | |
| 1917. Mit einer Vorbemerkung von Achad Haam. Aus der Serie „Die jüdische | |
| Gemeinschaft“. [2][Autor des Aufrufs war Leo Pinsker.] Vor und auf dem | |
| Titel ein Zensurstempel in Form eines Dreiecks, wohl aus dem Ersten | |
| Weltkrieg stammend. Möglicherweise gehört die Broschüre zu den Werken, die | |
| sich Rosenzweig in den Schützengraben schicken ließ. „Helft Euch selbst und | |
| Gott wird Euch helfen!“ schreibt Pinsker in seinem Text. | |
| Emanuel Deutsch: „Der Talmud“, Berlin 1880. Aus dem Englischen. Eine im | |
| Zerfall begriffene Broschüre, Besitz von Rosenzweig nicht nachweisbar. | |
| ## Eingelegte Zettel und Postkarten, Visitenkarten und Fotos | |
| Schneidawind liest die Texte in Rosenzweigs Büchern nur selten. Das kann | |
| sie auch in München anhand anderer Exemplare machen. Es geht ihr in Tunis | |
| eher um die vermeintlichen Kleinigkeiten. Eingelegte Zettel und Postkarten, | |
| Visitenkarten und Fotos, das Exlibris von Franz Rosenzweig, | |
| Unterstreichungen, Randbemerkungen, Stempel, aber auch vereinzelte Hinweise | |
| auf tunesische Leser, haben sich wie in einer Zeitkapsel in den Büchern | |
| erhalten. | |
| Diese Annotationen machen aus der Sammlung einen einmaligen | |
| zeithistorischen Wissensspeicher, hochinteressant für Forscher, die sich | |
| etwa in der Internationalen Rosenzweig-Gesellschaft organisiert haben. | |
| Schon lange ist die tunesische Nationalbibliothek, gegründet nach der | |
| Unabhängigkeit des Landes 1956, aus der Altstadt in ein modernes Gebäude | |
| mit großem Magazin umgezogen. Dennoch sind die Tage in Tunis für | |
| Schneidawind ein mühsames Geschäft. Beim letzten Mal konnte sie sich einen | |
| Gutteil der Sammlung auf Bücherwagen kommen lassen. | |
| Doch 2025 darf sie wie jeder Nutzer immer nur fünf Bücher auf einmal | |
| bestellen, und am Nachmittag nochmals fünf. Der taz-Reporter bestellt bald | |
| für sie mit, macht zehn Bücher. Schließlich stoßen zwei einheimische | |
| Helferinnen hinzu, macht zwanzig Bücher – aber wie um alles in der Welt | |
| soll man ein Gebirge von mehr als 3.000 Büchern so erfassen und überprüfen? | |
| Dazu kommt, dass viele der bestellten Werke nicht vorgelegt werden, aus | |
| Gründen, die unklar bleiben. Es heißt zunächst, man habe die Bücher im | |
| Magazin nicht gefunden. Dann wird erklärt, seien diese gerade in der | |
| Reparatur, schließlich sollen sie von einem Bakterium befallen sein. | |
| Bertha Pappenheim: „Allerlei Geschichten. Maasse-Buch. Buch der Sagen und | |
| Legenden aus Talmud und Midrasch“. Erschienen 1929 in Frankfurt am Main, | |
| dem Todesjahr Rosenzweigs. Er hat das Buch wohl nicht mehr lesen können. | |
| Sehr guter Zustand, die üblichen Stempel aus der Stadtbibliothek von Tunis. | |
| W.H. Riehl: „Sechs Novellen“. Schulausgabe. Stuttgart/Berlin 1902. | |
| Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger. Im Innendeckel eine Buchhandelsmarke | |
| „Hof-Buch-Kunsthandlung Kassel“. Wohl aus der Schulzeit Rosenzweigs, der | |
| 1902 seinen 16. Geburtstag feierte. | |
| A. Cohen: Le Talmud. Das Buch verrät seinen Jahrgang nicht, denn das | |
| Titelblatt fehlt. Es erlebte viele Auflagen, diese dürfte vom Ende des 19. | |
| Jahrhunderts stammen. Die geprägte Rückenaufschrift „Publique Tunis“ | |
| verweist darauf, dass das Werk aus tunesischen Beständen und nicht von | |
| Rosenzweig stammt. Mehrfach sind tunesisch-jüdische Werke in die Sammlung | |
| von Rosenzweig gemischt worden. | |
| ## Was soll mit den Büchern geschehen? | |
| Nach ihrer Auswanderung lebte Edith Rosenzweig in Tel Aviv in prekären | |
| Verhältnissen. Sie wusste nicht, was aus der Bibliothek geworden war, | |
| vermutlich hatte sie auch Wichtigeres zu tun: den Alltag in einem fremden | |
| Land organisieren. Zwar vermeldete die Palestine Post im Juli 1940 die | |
| Beschlagnahme des Schiffs Egypte in Tunis, aber ohne einen Hinweis darauf, | |
| was der Dampfer geladen hatte. Erst im Februar 1944 erfuhr Edith Rosenzweig | |
| schließlich vom belgischen Konsul in Tunis, wo sich die Bibliothek befand. | |
| Bar von Raum und finanziellen Mitteln bat sie den jüdischen Unternehmer, | |
| Verleger und Bücherfreund Salman Schocken um Hilfe. „Es wäre das Schönste, | |
| wenn die Bibliothek geschlossen erhalten bliebe“, schrieb sie 1945 an ihn. | |
| Schocken schickte ihr einerseits eine Absage – in seinen Beständen gebe es | |
| keinen freien Raum mehr für die Rosenzweig-Sammlung. Andererseits schaltete | |
| er den in Tunis ansässigen Anwalt Paul Ghez ein, der sich um eine | |
| Rückübertragung bemühen sollte. | |
| Ghez traf sich daraufhin mit dem damaligen Bibliotheksdirektor. Dessen | |
| Antwort war eindeutig: „Herr Barbeau erklärte mir, dass er jegliche | |
| Rückgabe strikt ablehne, da die Bücher bezahlt und in seiner Einrichtung | |
| verteilt seien“, schrieb Gherz 1946. So blieben die Bücher in Tunis. | |
| Seitdem stehen sie dort, unbeachtet von der deutschsprachigen Wissenschaft | |
| und Öffentlichkeit. Einige wenige Experten wussten zwar, dass Rosenzweigs | |
| Bücher irgendwo in Tunis zu finden sein müssten. Aber über Jahrzehnte ließ | |
| sich niemand aus der Bundesrepublik in der Nationalbibliothek blicken, um | |
| die Rosenzweig-Sammlung in Augenschein zu nehmen – bis Julia Schneidawind | |
| aus München kam und die Bücher unter die Lupe nahm. | |
| Was soll nun mit den Büchern geschehen? Sollte man sie zurück nach | |
| Deutschland bringen, dem Wirkungszentrum Rosenzweigs? Oder nach dem | |
| jüdischen Staat Israel senden? In Tunesien belassen? | |
| Julia Schneidawind gibt zu bedenken, dass die Sammlung wohl kaum noch | |
| vorhanden wäre, hätte sie die Zeit nicht in Tunis überdauert. Im Israel der | |
| Anfangsjahre haben viele verarmte Einwanderer ihre Bücher früh verkaufen | |
| müssen. In Deutschland hätten die Nazis die Bibliothek zerrissen. „Man muss | |
| der Bibliothek in Tunis schon dankbar sein, dass dort die Sammlung so | |
| geschlossen erhalten wurde“, sagt Schneidawind. | |
| In Zeiten des Internets ist es nicht mehr so entscheidend, wo ein Kulturgut | |
| steht. Schneidawinds Ziel ist deshalb, Rosenzweigs Bibliothek komplett zu | |
| digitalisieren. Dann hätten Forscher und Interessierte überall auf der Welt | |
| Zugang zu diesem historischen Bücherschatz in Tunis. | |
| In Deutschland wäre es wohl möglich, eine Institution zu finden, die ein | |
| solches Projekt finanzieren würde. Der Haken liegt in Tunis. Dort wechselte | |
| vor einiger Zeit die Bibliotheksleitung. „Ich habe immer wieder versucht, | |
| mit der Bibliothek Kontakt aufzunehmen, aber leider nie eine Antwort | |
| erhalten“, sagt Schneidawind. | |
| Auch in der Woche in Tunis Anfang 2025 gelingt es ihr nicht, mit der | |
| Leitung des Hauses zu sprechen. „Unklar ist, ob sich ein Teil der Bücher | |
| nicht mehr in der geschlossenen Sammlung befinden und in anderen Teilen der | |
| Bibliothek untergebracht sind. Aber es kann natürlich auch sein, dass die | |
| Bücher einfach nicht mehr da sind.“ | |
| Die Sammlung Rosenzweig ist noch lange nicht enträtselt. | |
| 9 Apr 2025 | |
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