| # taz.de -- Eastsplaining: Sowjetische Heimat | |
| > Dreißig Jahre lang erschien die jiddische Zeitschrift Sovetish heymland. | |
| > Dann zerfiel die Sowjetunion, die meisten Jiddisch-sprachigen | |
| > emigirierten. | |
| Bild: Kolumnistin Yelizaveta Landenberger | |
| Damals, in den 1930er Jahren, begann ein warmes, rötlich-braunes Rinnsal | |
| rasch durch die Schlucht zu fließen, von den neuen Fabriken bis zum Ufer | |
| des Flusses. Wie die blutige Spur eines verwundeten Tieres durchquerte das | |
| Rinnsal die halbe Stadt und schleuderte manch halbtoten Fisch zurück in den | |
| Fluss, der sich dummerweise in das verführerische, warme Paradies verirrt | |
| hatte“. | |
| Diese deprimierende Szenerie stammt aus einer im Original auf Jiddisch | |
| verfassten Kurzgeschichte des Autors Gennady Estraikh aus dem Jahr 1988 – | |
| „Di royte balke“, zu Deutsch „Der rote Graben“, benannt nach besagtem | |
| Bächlein aus Fabrikabfällen. Mein Kumpel Jo Forbord Stavdal und ich zogen | |
| diese und weitere Erzählungen Estraikhs während der Coronapandemie aus der | |
| Versenkung und verbrachten das vergangene Wochenende endlich mit dem | |
| Feinschliff unserer englischen Übersetzung. | |
| Die teils düster, teils humorvoll geschilderte Handlung spielt während der | |
| Post-Stalin-Ära in einer Industriestadt, die an den Geburtsort des Autors | |
| erinnert – Saporischschja in der Südostukraine. Es geht um die alltäglichen | |
| Abenteuer von Kindern unterschiedlicher Herkunft, die gemeinsam aufwachsen, | |
| aber keine Zukunft in der sowjetischen Peripherie sehen – ihr Sehnsuchtsort | |
| ist [1][das Zentrum Moskau], wohin sie gleich nach der Schule aufbrechen | |
| wollen. | |
| Marat, der Sohn eines Generals ist und als Einziger in seiner Klasse über | |
| Luxusgegenstände wie Fahrrad, Telefon und Kühlschrank verfügt, hat hierfür | |
| die besten Voraussetzungen – anders als Aleksey, dessen Vater immer nur an | |
| der Flasche hängt. | |
| ## Moskau, Schmoskau | |
| Oksana möchte Marat in die Metropole folgen, aber erst muss sie ihren | |
| altmodischen jüdischen Großvater Yerukhem überzeugen, der wenig von diesen | |
| Plänen hält – „Moskau, Schmoskau!“ | |
| Auch der 1952 geborene Schöpfer der Geschichte Estraikh, ursprünglich | |
| Ingenieur von Beruf, zog ins Zentrum des Sowjetreichs und arbeitete seit | |
| Ende der Achtziger als Redakteur der Zeitschrift Sovetish heymland, in der | |
| seine Kurzgeschichten in Form eines Beilagenhefts erschienen. 1961 während | |
| der Tauwetterperiode nach den stalinistischen Repressionen gegründet, denen | |
| auch viele jüdische Intellektuelle zum Opfer gefallen waren, wurde sie zu | |
| einer Plattform für diejenigen jiddischen Autor:innen, die den Holocaust | |
| und [2][Stalin] überlebt hatten. | |
| Sie war aber auch wichtiges Einflussinstrument. Durch Sovetish heymland | |
| sollten kommunistische jüdische Sympathisant:innen im Ausland davon | |
| überzeugt werden, dass die jüdische Kultur in der UdSSR lebendig sei – | |
| freilich mehr Schein als Sein –, und durch das Vehikel der jiddischen | |
| Literatur mit sowjetischer Propaganda indoktriniert werden. | |
| Entsprechend dogmatisch lesen sich viele der Texte. Mit der Perestroika ab | |
| 1985 änderte sich vieles. Kritik war plötzlich zulässig, ebenso wie | |
| Abweichungen vom strengen Stildiktat des sozialistischen Realismus. Ehemals | |
| unterdrückte Autor:innen durften veröffentlicht, Tabuthemen wie Religion | |
| nach über einem halben Jahrhundert wieder angesprochen werden. | |
| Und so beleuchtet auch Estraikhs „roter Graben“ die zuvor vertuschten | |
| Abgründe des Lebens in der Peripherie des autoritären Staats. Der frühere | |
| Held der Arbeit ist in seiner Erzählung zu einem Alkoholiker geworden, der | |
| Glaube an den Kommunismus längst erloschen. | |
| ## 1991 erschien die letzte Ausgabe | |
| Die letzte Ausgabe von Sovetish heymland erschien 1991. Das war nur | |
| konsequent, denn in jenem Jahr zerfiel die Sowjetunion endgültig, und die | |
| meisten Jiddisch-Leser:innen – und das waren nicht mehr viele – | |
| emigrierten. Auch Estraikh ging zunächst nach Oxford und später nach New | |
| York, wo er Jiddistik-Professor an der NYU wurde. Saporischschja ist | |
| [3][heute eine Frontstadt, ständig werden Zivilist:innen durch | |
| russische Luftangriffe verletzt und getötet]. | |
| Die Ukrainer:innen schlugen mit der Orangenen und der Maidan-Revolution | |
| den Weg der Demokratie ein, mein Geburtsland Russland hingegen verwandelte | |
| sich schrittweise in eine Diktatur, die mit Gewalt das wiederherstellen | |
| will, was längst vergangen ist – die „sowjetische Heimat“. | |
| 13 Apr 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Yelizaveta Landenberger | |
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