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# taz.de -- Feldforschung in New York: Brighton Beach Calling
> „Little Odessa“ lautet der Beiname eines Stadtteils im Süden von Brooklyn
> auf Coney Island. Unsere Kolumnistin begibt sich auf einen Ortsbesuch.
Bild: Nicht russisch wirkt Brighton Beach, sondern multikulti-postsowjetisch
Aus dem Trubel der überwältigenden Hochhäuserlandschaften Manhattans bringt
der Metrozug der Linie B mich und meine Kolleginnen an den Strand von
Brooklyn, an den [1][sagenumwobenen Brighton Beach]. Nach unserer
Slawistik-Tagung zum Thema „Slavic Cultures out of Place“ in Princeton
möchten wir in New York City noch etwas Feldforschung zum Thema betreiben.
Die meisten Menschen, die entlang der Strandpromenade spazieren oder sich
auf den unzähligen Bänken sonnen, sprechen Russisch – betagte Frauen, deren
Frisuren und strassbesetzte, wild gemusterte Kleidung aussehen wie aus der
Zeit, als die Sowjetunion zerfiel. Die Mehrzahl ist in der Tat damals
hierher migriert, als die strikten Ausreisebestimmungen erst gelockert und
dann ganz aufgehoben wurden.
Im Restaurant mit Strandblick namens „Tatiana“ bestellen wir beim Kellner,
natürlich in der hiesigen Verkehrssprache Russisch, Wareniki mit
Kirschfüllung. Am Nachbartisch sitzt ein Herr mit leerem Blick und großem
Bierglas, der mich stark an Jelzin erinnert, weiter hinten ein etwas
lebendiger wirkendes Grüppchen Männer im Rentenalter. Auf ihrem Tisch
stehen zwei mit transparenter Flüssigkeit gefüllte Glaskaraffen. Der
Dresscode: ausgebeulter Jogginganzug und Sonnenbrille.
Alexei Balabanows Film „Brat 2“
Ich muss unweigerlich an den russischen Gangsterfilm „Brat 2“, „Bruder 2�…
von Alexei Balabanow denken. In diesem Kultstreifen aus dem Jahr 2000 reist
der Protagonist Danila, ein junger Veteran des Tschetschenienkriegs, aus
Russland in die USA, um den Mord eines Bekannten zu rächen. Nach der
Landung im Big Apple begibt sich Danila zunächst nach Brighton Beach – bei
den vielen kyrillischen Ladenschildern scheint es fast so, als hätte er
Russland nie verlassen.
Danila besorgt sich eine alte Karre, um damit nach Chicago zu fahren, aber
unterwegs macht der Motor schlapp. Der Deal mit dem Autohändler in Brighton
Beach war ein Reinfall. Die in die USA ausgewanderten Russen sind schon
kontaminiert mit westlicher, kapitalistischer Gier, so die Implikation, und
halten nicht mehr zu ihren russischen Brüdern.
Schließlich doch in Chicago angekommen, legt sich Danila mit der
ukrainischen Mafia an, bevor er in seine geliebte Heimat zurückkehrt. „Brat
2“ ist stark nationalistisch, antiamerikanisch und vor allem antiukrainisch
gefärbt. Ukrainer werden als rohe, kriminelle Bandera-Verehrer porträtiert.
Es überrascht nicht, dass der Film in Russland nach Beginn der Großinvasion
wieder Konjunktur hatte.
Postsowjetische Fusion
Doch zurück ins reale Brighton Beach von heute. Je weiter sich bei
„Tatiana“ die Wodka-Karaffen am hinteren Tisch leeren, desto mehr
Gesprächsfetzen dringen bis zu uns vor – ich höre „Gefängnis“, und „…
in Chişinău“.
Nicht nur ehemalige Bewohner der moldauischen Hauptstadt, sondern auch die
vieler anderer Orte der früheren UdSSR leben in Brighton Beach. Die ersten
Migrant:innen in den siebziger Jahren waren vorwiegend Jüdinnen und
Juden, viele von ihnen kamen aus der Ukrainischen Sozialistischen
Sowjetrepublik. Sie wurden auf internationalen Druck hin schon früher aus
dem realexistierenden Sozialismus entlassen und prägen die Gegend bis heute
– daher ihr Beiname [2][„Little Odessa“].
In „Tashkent“, im nach der usbekischen Hauptstadt benannten Supermarkt,
tummeln sich die Massen. Wir ergötzen uns an den frisch zubereiteten
Köstlichkeiten der (post)sowjetischen Fusion Cuisine, die hier feilgeboten
werden – eingelegte Gurken und Fische, Bonbons wie aus der Kindheit,
diverse Mayonnaise-Salate, Auberginenrollen „armenischer Art“,
zentralasiatisches Beschbarmak, um nur einige wenige zu nennen. Zwischen
den Delikatessen erhärtet sich die Erkenntnis: Brighton Beach ist überhaupt
nicht russisch, sondern multikulti-postsowjetisch.
Sorgen der Neuankömmlinge
Zugleich hat hier der überwiegende Großteil der Wahlberechtigten, also
Alteingesessenen, Trump gewählt. Das versetzt einige Neuankömmlinge in eine
prekäre Lage. So auch offenbar einen jungen Mann unweit von „Tashkent“, der
ein Kartonschild mit der russischen Aufschrift „Suche Frau“ vor sich hält.
Er stellt sich vor als Lkw-Fahrer, der Russland nach der Annexion der Krym
verlassen hat – eine Frau mit amerikanischem Pass müsse es unbedingt sein.
Damit können wir nicht dienen, wünschen ihm viel Erfolg, und flanieren
weiter durch Little Odessa.
27 May 2025
## LINKS
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[2] /Ukrainisches-Viertel-in-den-USA/!5903245
## AUTOREN
Yelizaveta Landenberger
## TAGS
New York
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