| # taz.de -- Das palästinensische Flüchtlingsproblem: Ein zionistischer Master… | |
| > „Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems“ von Benny Morris | |
| > liegt nun auf Deutsch vor. Er zeigt, dass die „Nakba“ viele Ursachen | |
| > hatte. | |
| Bild: Bewohner eines arabischen Dorfs fliehen am 4. November 1948 vor Kämpfe… | |
| Wer sich im vehement ausgefochtenen Stellvertreterkrieg parallel zu jenem, | |
| der zwischen Israel und der Hamas geführt wird, nicht hinter einem Bollwerk | |
| aus Unwissenheit und Ressentiments verstecken will, dem sei „Die Geburt des | |
| palästinensischen Flüchtlingsproblems“ von [1][Benny Morris] zur Lektüre | |
| empfohlen. Die Chancen, dass seine Darstellung in dieser Debatte gebührend | |
| gewürdigt werden wird, dürften allerdings gering sein. So bleibt nichts | |
| anderes übrig, als geduldig darauf hinzuweisen, dass die Kriege in | |
| Palästina eine Genese haben und es meist die arabischen Nachbarstaaten und | |
| die arabischen Führerfiguren im Land selbst waren, die Anlass und Grund für | |
| militärische Auseinandersetzungen waren und selten Kompromissbereitschaft | |
| erkennen ließen. | |
| Seinen Klassiker von 1988, der nun in deutscher Erstübersetzung vorliegt, | |
| hat Morris vor der Übersetzung ins Deutsche einer gründlichen Überarbeitung | |
| unterzogen und neue Informationen aus inzwischen zugänglichen israelischen | |
| Militärarchivakten und nachrichtendienstlichen Unterlagen eingearbeitet, | |
| wenngleich sich nichts Wesentliches an seiner Einschätzung änderte. | |
| Morris verteidigt keine Staatsräson. Er zählt in Israel zu den „Neuen | |
| Historikern“. Diese versuchten Mitte der 1980er Jahre – nach der Freigabe | |
| von Dokumenten in den israelischen Archiven (arabische Archive, so sie denn | |
| überhaupt existieren, sind bis heute unter Verschluss) – zu erforschen, wie | |
| es zur israelischen Staatsgründung 1948 kam und damit zur „Nakba“, der von | |
| den Palästinensern so genannten „Katastrophe“, also zur Flucht von circa | |
| 700.000 Palästinensern. | |
| Denn Benny Morris hält den Begriff „Vertreibung“ für eine „unangemessene | |
| Bezeichnung“. Die Fluchtbewegungen zwischen November 1947 und Juni 1948 | |
| kamen seiner Einschätzung nach zustande, weil ein Großteil der Menschen | |
| „vor dem Krieg und seinen Grausamkeiten“ flüchtete. | |
| ## Besiegelt wurde die Vertreibung per Dekret | |
| Die Motive dieser Fluchtbewegungen sind umstritten. Ab Dezember 1947 | |
| ordneten arabische Offiziere die vollständige Evakuierung einzelner Dörfer | |
| an, um zu verhindern, „dass sich ihre Bewohner ‚verräterisch‘ der | |
| israelischen Herrschaft fügten oder den Einsatz arabischer Militäreinheiten | |
| behinderten“. Diese Evakuierungen hatten eine Demoralisierung zur Folge, | |
| aber dies ist nur eines der zahlreichen Narrative, die sich unvermeidlich | |
| aus der geografischen Vermischung der arabischen und jüdischen Bevölkerung | |
| ergaben. | |
| Eine weitere Rolle spielte die vom Nachrichtendienst der paramilitärischen | |
| zionistischen Untergrundbewegung Hagana so bezeichnete „Fluchtpsychose“, | |
| als die Hagana in einigen Schlachten ihre Überlegenheit demonstrierte. Des | |
| Weiteren hatte es am Vorabend des Kriegs das Massaker in Deir Yassin | |
| gegeben, als die revisionistische jüdische Miliz Irgun, die damals auf | |
| eigene Rechnung kämpfte, in einer Vergeltungsaktion 110 Menschen ermordete. | |
| Schließlich gab es noch den Plan D, der Anfang März 1948 aufgrund der | |
| Aussicht einer panarabischen Invasion eine „vollständige Räumung | |
| lebenswichtiger Gebiete“ vorsah, um die Störfeuer von | |
| „Freischärler-Banden“, die sich in strategisch wichtigen Dörfern verschan… | |
| hatten, zu beenden. | |
| Insofern ist der Anteil der Palästinenser, der vertrieben wurde, schwer zu | |
| beziffern. Morris’ Schätzung beläuft sich auf 10 bis 20 Prozent. Besiegelt | |
| wurde die Vertreibung der Araber per Dekret von der neuen israelischen | |
| Regierung, die im Juni 1948 den Geflüchteten die Rückkehr verwehrte. Ein | |
| zionistischer Masterplan, wie etwa Omri Boehm behauptet, steckte jedoch | |
| nachweislich nicht dahinter. Die Fluchtbewegungen hatten nichts mit den | |
| Bevölkerungstransfers gemein, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg | |
| zugetragen und der späteren Bundesrepublik die Schlesier und die | |
| Sudetendeutschen beschert haben. | |
| ## Die meisten Araber waren keine Anhänger des Nationalchauvinismus | |
| Dass es zur „Nakba“ überhaupt kommen konnte, liegt auch an einem Mann, der | |
| entscheidend zum Erwachen der palästinensischen Nationalbewegung | |
| beigetragen hat. [2][Amin al-Husseini, den die Briten zum Repräsentanten | |
| der Araber im Land gemacht hatten, führte schon 1936 bis 1939 den | |
| Arabischen Aufstand gegen die Briten an, mit dem Ziel, die zionistische | |
| Bewegung zu zerstören]. Die meisten auf dem kargen Land eine | |
| Subsistenzwirtschaft betreibenden und in einem Clan oder einer Großfamilie | |
| lebenden Araber hatten ursprünglich keine Lust, für eine | |
| nationalchauvinistische Idee den Kopf hinzuhalten. Ihr Lebenszentrum war | |
| das Dorf, alles, was darüber hinausging, interessierte sie nicht | |
| sonderlich, was ein sympathischer Zug ist, weil ihnen das große | |
| nationalistische Ganze offensichtlich fremd war. Diese Haltung wirkte sich | |
| auch noch während des Krieges 1948 aus, denn der Antrieb, bei Gefahr einem | |
| Nachbardorf zu Hilfe zu kommen, war eher gering. | |
| Amin al-Husseini versuchte das zu ändern, indem er krude | |
| Verschwörungstheorien und islamistischen Antisemitismus verbreitete. Nach | |
| der Niederschlagung des Aufstands lebte er von 1941 bis zum Ende des Kriegs | |
| in Deutschland, organisierte die NS-Propaganda im arabischen Raum und | |
| muslimische Verbände der Waffen-SS auf dem Balkan. Nach seiner Rückkehr ins | |
| Mandatsgebiet Palästina/Eretz Israel setzten ihn die Briten zunächst fest, | |
| ließen ihn aber wieder laufen, weil er dem Arabischen Hohen Komitee | |
| angehörte und die Mandatsmacht sich keinen Ärger einhandeln wollte. Er | |
| erhielt in Ägypten Asyl und schürte weiterhin den religiös motivierten Hass | |
| auf Israel. Damit hatte er Erfolg, wenngleich sich damit auch kein Krieg | |
| gewinnen ließ. | |
| Ein Bevölkerungsaustausch war schon seit 1936 ein Thema, als die im Auftrag | |
| der Krone handelnde Peel-Kommission zur Beilegung des Streits diejenigen | |
| Araber, die auf dem für den jüdischen Staat vorgesehenen Gebiet lebten, | |
| umsiedeln wollte, und umgekehrt. Das sollte auf freiwilliger Basis | |
| erfolgen, die Betroffenen sollten eine finanzielle Kompensation erhalten, | |
| bevor als Ultima Ratio Zwang angewendet werden würde. Damit hoffte man, auf | |
| friedlichem Weg den jüdischen Staat zu etablieren. | |
| ## Der Peel-Plan sah 18 Prozent für den jüdischen Staat vor | |
| Von dem circa 10.000 Quadratmeilen großen Gebiet sollten laut Peel-Plan 18 | |
| Prozent dem jüdischen Staat zur Verfügung stehen, die zionistischen Führer | |
| David Ben-Gurion und Chaim Weizmann sprachen sich dafür aus. Die Araber | |
| lehnten den Plan wie alle späteren Schlichtungsversuche „entschieden ab“. | |
| Im Nachhinein muss man konzedieren, dass dieser Plan eine gute Idee war, um | |
| das absehbare Konfliktpotenzial zu mindern. | |
| Die britische Position änderte sich jedoch aufgrund des Zweiten | |
| Weltkrieges, weil man die Araber nicht provozieren wollte. Der Konflikt | |
| schwelte weiter, und schon vor dem Unabhängigkeitskrieg 1948 fingen die | |
| arabischen Gesellschaften an, missbilligend auf ihre jüdischen Gemeinden zu | |
| blicken. 75.000 Juden lebten in Syrien, [3][130.000 im Irak], über 50.000 | |
| in Ägypten, mehrere Hunderttausend im Maghreb. Sie waren in die jeweiligen | |
| Gesellschaften integriert und standen der zionistischen Sache eher | |
| indifferent gegenüber, wenngleich sie mit einer Heimstätte für Juden | |
| sympathisierten. Zum Teil noch während des Zweiten Weltkriegs, vor allem | |
| aber nach 1948 fanden unter anderem im Irak, Syrien und Marokko Pogrome | |
| statt, Häuser wurden niedergebrannt, die Juden enteignet. [4][Ungefähr | |
| 700.000 wurden in den 1950er und 1960er Jahren gezwungen, ihre arabischen | |
| Länder zu verlassen, häufig ohne Hab und Gut, das sie zurücklassen | |
| mussten.] Wohlhabendere Juden wanderten meist nach Frankreich und England | |
| aus, der mittellose Rest wurde mit offenen Armen in Israel empfangen, weil | |
| das Land dringend Arbeitskräfte benötigte. | |
| Von dieser jüdischen Fluchtbewegung ist heute seltener die Rede, vermutlich | |
| aufgrund der gelungenen Integration der Geflüchteten, während die | |
| Solidarität der arabischen Staaten mit den palästinensischen Flüchtlingen | |
| immer nur rhetorischer, nie praktischer Natur war. Zudem fand eine | |
| wundersame Vermehrung statt, denn heute sind aus den ehemals circa 700.000 | |
| Flüchtlingen von 1948 (die meisten davon Binnenflüchtlinge) durch die | |
| Vererbung des Flüchtlingsstatus nach Schätzung der Vereinten Nationen vier | |
| Millionen geworden. | |
| Dem Problem der Flüchtlingsbewegungen wurde trotz seiner Bedeutung für den | |
| Konflikt lange Zeit kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Benny Morris’ Studie ist | |
| ein großer Wurf und sollte an den Schulen als Lehrstoff verwendet werden. | |
| Sein Buch ist ideologiefrei und auf historische Gründlichkeit bedacht. Wie | |
| sein im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienenes Buch „1948“ über den | |
| ersten arabisch-israelischen Krieg unterscheidet sich auch dieses Werk von | |
| Morris wohltuend von Rashid Khalidis „Der hundertjährige Krieg um | |
| Palästina“. Khalidi lehrt an der Columbia University, kümmert sich aber in | |
| seinem Buch wenig um wissenschaftliche Standards. Er verklärt die | |
| Ereignisse nationalromantisch und schreibt eine „selektive | |
| Ereignisgeschichte“, in der sich ein „überkommenes historisches Selbstbild | |
| fortschreibt, in dem die palästinensische Politik seit Jahrzehnten gefangen | |
| ist“, wie die Süddeutsche Zeitung kritisierte. | |
| Morris’ Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen, auch wenn zu | |
| befürchten ist, dass die rege Aufmerksamkeit, die viele dem Krieg in Gaza | |
| widmen, für das 800-seitige Buch dann doch nicht ausreichen wird. Wer sich | |
| jedoch für den Konflikt interessiert und nicht für die Propaganda der | |
| Kriegsparteien, sollte diese großartige Erzählung nicht an sich | |
| vorüberziehen lassen. | |
| 4 Aug 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Morris-ueber-israelische-Staatsgruendung/!5997388 | |
| [2] /Arabischer-Aufstand-1936/!6075032 | |
| [3] /Dokumentarfilm-ueber-die-Juden-Iraks/!5512587 | |
| [4] /Juden-in-der-arabischen-Welt/!5614160 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Bittermann | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Palästina | |
| Israel | |
| Nakba | |
| Gaza | |
| Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025 | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Juden | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Vorschlag zum Nahostkonflikt: Für ein freies Palästina | |
| Viele Staaten haben bereits einen palästinensischen Staat anerkannt. Auch | |
| Israel sollte auf einen friedlichen Nachbarstaat hinarbeiten. | |
| Arabischer Aufstand 1936: Boykott und Brutalität | |
| Oren Kessler hat ein Buch über den Aufstand in Palästina im Jahr 1936 | |
| geschrieben. Er entdeckt darin eine übersehene Wurzel des Nahostkonflikts. | |
| Morris über israelische Staatsgründung: „Der Terrorismus verhärtet“ | |
| Der israelische Historiker Benny Morris hat ein unparteiisches Buch über | |
| den ersten arabisch-israelischen Krieg geschrieben. Ein Standardwerk. | |
| Juden in der arabischen Welt: Die Wahrheit steht im Tagebuch | |
| Arabische Länder erlebten im 20. Jahrhundert einen Exodus der jüdischen | |
| Bevölkerung. Die Studie „Die Juden der arabischen Welt“ erklärt die | |
| Hintergründe. |