# taz.de -- Vertreibung der Palästinenser: Kleinlaute Ratlosigkeit | |
> Beim Kirchentag darf die Nakba-Ausstellung nicht gezeigt werden. Aber | |
> nicht jeder Zweifel an der israelischen Besatzungspolitik ist | |
> antisemitisch. | |
Bild: „Nakba“-Tag in Gaza-Stadt am 15. Mai 2016 | |
Eine Zensur findet nicht statt – dieser Satz steht im Grundgesetz, der die | |
Meinungsfreiheit aller Bürger garantiert. Zensur als staatliche Maßnahme, | |
mit der Inhalt, politische Tendenz, gesellschaftliche Konformität geprüft | |
und dann genehmigt oder verboten werden, gibt es tatsächlich nicht. | |
Ein anderer Brauch bürgert sich jedoch stattdessen ein: Zu charakterisieren | |
wäre er als stillschweigende Behinderung oder Unterbindung unerwünschter | |
Debatten aus Konfliktscheu, aus kleinlauter Ratlosigkeit, aus | |
Realitätsverweigerung oder Feigheit. Die Probleme existieren weiter, die | |
Weigerung, sie zu erkennen und zu benennen, schafft sie nicht aus der Welt, | |
sondern verstetigt sie, statt sie zu lösen oder auch nur zu verstehen. | |
Nun wurde die sogenannte Nakba-Ausstellung vom Bannstrahl der | |
Verantwortungsträger des derzeit laufenden Evangelischen Kirchentags in | |
Nürnberg als Maßnahme vorauseilenden Missionseifers getroffen. Die | |
Organisatoren der Ausstellung dürfen zwar wie bisher ihren Stand auf dem | |
„Markt der Möglichkeiten“ errichten, aber mit der ausdrücklichen Auflage, | |
die Ausstellung nicht zu zeigen. | |
Die Nakba-Ausstellung, konzipiert vom Verein „Flüchtlingskinder im Libanon | |
e. V.“, kuratiert und organisiert von Ingrid Rumpf, gefördert vom | |
Evangelischen Entwicklungsdienst e. V. und der Stiftung | |
Entwicklungszusammenarbeit Baden-Württemberg, wurde begrüßt und gelobt von | |
Wissenschaftlern und Sachkundigen. | |
## Flucht und Vertreibung auch deutsches Thema | |
In Deutschland geriet die Ausstellung ins Visier obrigkeitlichen Argwohns, | |
nachdem sie eineinhalb Jahrzehnte lang gefördert worden war. [1][Denunziert | |
wurde sie schon lange zuvor von jenen, die mit viel Emotion unterwegs | |
sind], um vermeintliches Unheil durch Zensur – nein: durch Unterbinden der | |
Diskussion über das Problem – zu verhindern. | |
Das Wort [2][Nakba (Zerstörung, Unglück, Katastrophe)] umschreibt die | |
Erfahrung des Heimatverlustes palästinensischer Familien anlässlich der | |
Staatsgründung Israels 1948. Flucht und Vertreibung waren am Ende des | |
Zweiten Weltkriegs auch ein deutsches Thema. Integration war von den | |
Besatzungsmächten geboten und in beiden deutschen Staaten in erstaunlich | |
kurzer Zeit erreicht. | |
Den Flüchtlingen und Vertriebenen aus Palästina war ein ärgeres Schicksal | |
beschieden: Der Unterschied besteht darin, dass ein großer Teil der mehr | |
als 700.000 Palästinenser, die in der Nakba ihre Heimat verloren, zum | |
Generationen dauernden Lagerleben verurteilt war. Sie werden als Faustpfand | |
und Drohpotenzial gegen Israel missbraucht, wo ihre Forderung nach Rückkehr | |
zu Recht Furcht und Schrecken verbreitet. Den Palästinensern, die durch die | |
Gründung Israels ihre Heimat verloren, wird 75 Jahre später immer noch das | |
Minimum, die trauernde Erinnerung daran, verweigert. | |
## Ausstellung ist notwendig als Denkanstoß | |
Aus unterschiedlichen Gründen ist sie in Israel nicht Bestandteil der | |
Erinnerungspolitik und in Deutschland wenn nicht völlig unbekannt, dann als | |
vermutete Parteinahme für Palästina und Affront gegen Israel stigmatisiert. | |
Das erfahren auch die wenigen, die über den historischen Sachverhalt | |
informieren wollen, auf Schritt und Tritt. | |
Die Ausstellung ist notwendig als Denkanstoß, und sie ist entgegen | |
kleinmütiger Anfeindung seit 2008 mit Erfolg unterwegs. [3][Bald erreicht | |
sie die 200. Station]. Auf dem Ökumenischen Kirchentag in München (2010), | |
den Evangelischen Kirchentagen in Hamburg (2013), Stuttgart (2015), Berlin | |
(2017), Dortmund (2019) wurde sie gezeigt. Sie stand in Straßburg im | |
Europaparlament und in Genf im Haus der Vereinten Nationen. | |
Nicht jeder Zweifel am Ziel Jahrzehnte währender Besatzungspolitik, nicht | |
jeder Hinweis auf das Völkerrecht, nicht jede Kritik an politischen | |
Aktivitäten des Staates Israel ist Ausdruck judenfeindlicher Gesinnung oder | |
eines rabiaten Antisemitismus. | |
Angriffe aus dem besetzten Gebiet gegen israelische Bürger finden bei | |
keinem vernünftigen Menschen Beifall, und judenfeindliche Hassparolen auf | |
Palästinenserdemonstrationen in Deutschland sind abscheulich und | |
unerträglich. Aber Mitleid mit dem Schicksal palästinensischer Kinder ist | |
nicht gleichbedeutend mit Liebesentzug für den Staat, in dem Juden eine | |
sichere Heimat haben sollen. Solidarität mit Israel ist schon aus Scham | |
über die deutsche Schuld selbstverständliche deutsche Staatsräson. | |
## Kirchentag sollte Diskussionsraum sein | |
Ignorieren und verhindern, dass auch über anderes Leid als das der Juden | |
gesprochen wird, so der Publizist Micha Brumlik, birgt die Gefahr, dass | |
israelbezogener Antisemitismus, der Aufklärung entzogen, „erst recht | |
verstärkt wird: indem man dem Kirchentag und seinen auch jüdischen | |
Teilnehmern nun leicht vorwerfen kann, die Wahrheit zu verschweigen.“ | |
In der unfreien Gesellschaft der DDR war die evangelische Kirche für viele | |
der einzige Ort freier Diskussion und offener Auseinandersetzung. Von solch | |
stolzer Tradition ist in der Freiheit bundesrepublikanischer Gegenwart | |
nicht viel zu spüren. Wesentliches Element protestantischer Ethik ist | |
allerdings die Überzeugung, dass christlicher Glaube nur lebendig ist, wenn | |
er in die Gesellschaft wirkt. | |
Wege dorthin soll vor allem der Kirchentag erschließen, als | |
Diskussionsforum, auf dem Christen und Nichtchristen, Politiker und | |
Intellektuelle, Fromme und Zweifler sich treffen zur Verständigung oder zum | |
Streit über bewegende Fragen der Gegenwart. Die Einladung zur öffentlichen | |
Debatte ist in einer Zeit, in der sich Bürger von den Kirchen abwenden, | |
wichtiger denn je. Umso beklagenswerter die Verweigerung, die das Präsidium | |
des Kirchentags nun verfügte. | |
In der Stellungnahme des Vereins, dem die Präsentation der Ausstellung | |
entzogen wurde, heißt es, das Präsidium schließe Diskussionsräume, anstatt | |
sie zu öffnen. Das widerspreche dem Anliegen des Kirchentags: „Wir | |
verbinden Hoffen und Machen und knicken bei Krisen nicht ein.“ Oder doch? | |
10 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Wolfgang Benz | |
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