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# taz.de -- Erinnerungskultur: Nakba und deutsche (Un-)Schuld
> Die Erinnerungskultur muss sich für palästinensische Erzählungen öffnen.
> Was 1948 im Nahen Osten geschah, verlangt mehr als einseitige Empathie.
Bild: Frankfurt am Main, am 15. Mai 2021: Demonstration und Gegendemonstration …
Es ist ein Erfordernis deutscher Geschichte, im Land der Schoah über den
israelisch-palästinensischen Konflikt im Nahen Osten mit Bedacht und
Achtsamkeit zu sprechen. Was wären Kriterien dafür? Zum Beispiel
Genauigkeit, historische Redlichkeit und selbstkritische Betrachtung des
Eigenen. Die Realität sieht allerdings anders aus.
Mittlerweile zieht ein beachtlicher Teil [1][des etablierten Deutschland
einen Bannkreis um alles, worin der Begriff „Palästina“ vorkommt: Vorsicht,
Antisemitismus, besser nicht nähern!] So wird die Erinnerung an das
Großverbrechen unserer Vorfahren zu einer Waffe, die sich ausgerechnet
gegen jene richtet, die von Mitschuld daran anders, als viele deutschen
Familien, völlig frei sind: Mal trifft es Juden/Jüdinnen mit missliebigen
Ansichten zu Israel, vor allem aber trifft es die Palästinenser und
Palästinenserinnen.
200.000 von ihnen leben in Deutschland, mehr als irgendwo sonst in Europa.
Sie haben ein Recht darauf, ihre Sicht der Geschichte zu erzählen, und zwar
als Teil einer neu verstandenen Erinnerungskultur, die Konflikte nicht
scheut und gerade dadurch dichotome, einander ausschließende Narrative
überwinden könnte.
Beginnen wir mit dem Jahr 1948. Für Israel die siegreiche Gründung des
neuen Staates, für Palästinenser der traumatische Verlust von Heimat,
Kultur, Existenz – die Nakba, arabisch für Katastrophe. Ohne Vertreibungen
wäre ein mehrheitlich jüdischer Staat nicht möglich gewesen, und
Vertreibung verlangte Gewalt; dazu zählten auch Massaker an Zivilisten. Das
verübte Unrecht wurde rasch aus dem Bewusstsein verdrängt: Israel sah sich
als Nation der Opfer; jeder Dritte im neuen Staat war
Holocaust-Überlebender.
## Nakba als Tabu
Ohne jeden Zweifel ist der Völkermord an den Juden von einer völlig anderen
Dimension und einem anderen Charakter als die Nakba. Aber die Nakba hält
als Entrechtung an, und viele Palästinenser sehen sich nun seit über
siebzig Jahren gezwungen, den Preis für ein europäisches Verbrechen zu
zahlen.
Lange hatten die zwei diametralen Sichtweisen des Jahres 1948 nur
gemeinsam, den Schmerz der jeweils anderen Seite geringzuschätzen oder zu
leugnen. In Israel war der Begriff Nakba ein Tabu; das beginnt zu bröckeln.
Bücher behandeln neue Sichtweisen von israelischen wie arabischen
Intellektuellen; vorsichtshalber werden sie nicht ins Deutsche übersetzt.
Erzählt eure Geschichte! Zu dieser Einladung an die hiesigen Palästinenser
konnte sich die Erinnerungskultur bisher nicht durchringen. Lieber wird für
die israelische Staatsgründung ein Passepartout benutzt, in dem allein die
Schoah Platz hat. Die Nakba gilt als historischer Kollateralschaden,
außerhalb unserer Zuständigkeit, jenseits unserer Empathie. Logisch ist das
nicht: Gerade wenn der Holocaust als eine alle anderen Faktoren
überschattende Ursache der Staatsgründung betrachtet wird, wäre die Nakba
auch Teil unserer Geschichte, Teil einer gemeinsamen Geschichte.
## Palästinensiche Stummheit
Stattdessen wird von hiesigen Palästinensern verlangt, sich in das deutsche
Passepartout einzufügen und ihr eigenes Leid als unvermeidbare Folge des
größeren Leids anderer zu betrachten. Das kann nicht gelingen. Es führt nur
dazu, dass sich die einen schreiend, auch mit unappetitlichen Schreien,
artikulieren, während viele andere, die Etablierten der Community, lieber
schweigen, um den eigenen Ruf oder die berufliche Zukunft nicht zu
gefährden.
Es gebe eine palästinensische Stummheit, schreibt der Philosoph Raef Zreik,
die daraus resultiere, dass „es unmöglich ist, eine Version der Ereignisse
zu entwickeln, die der herrschenden Grammatik entspricht“. Vielleicht
sollten wir dann die Grammatik überprüfen?
Als Nachfahren der Täter im Holocaust tragen wir keine direkte Schuld
daran, dass mehr als [2][500 palästinensische Dörfer unbewohnbar gemacht]
wurden. Aber wir sind durch die Last des europäischen Antisemitismus in
diesen Vorgang verstrickt. Diese Verstrickung verneinen kann eigentlich
nur, wer der Ansicht ist, die Schoah habe mit dem Bedürfnis nach einem
ethnonationalen jüdischen Staat nichts zu tun gehabt; das wäre eine
unhistorische Position. Durch den Völkermord bekam das Projekt Israel für
viele Juden und Jüdinnen im Hinblick auf Schutz und Identifikation eine
Bedeutung, die der Zionismus zuvor nicht hatte generieren können.
## Nakba als Teil deutscher Geschichte
Ich plädiere deshalb dafür, dass wir die Nakba in einem erweiterten Sinne
als Teil deutscher Geschichte begreifen und ihrer Erzählung Raum in der
Erinnerungskultur geben. Dafür muss man sich keineswegs darüber einig sein,
inwiefern die Staatsgründung Israels auch ein Akt von Siedlerkolonialismus
war. Man muss sich gleichfalls nicht einig sein über Begrifflichkeiten für
heutiges Besatzungsunrecht.
Sondern es geht in einem ersten Schritt zunächst darum, sich einer krassen
Asymmetrie bewusst zu werden: Trotz Jahrzehnten des Täterschutzes lebt das
Post-NS-Deutschland heute auf der Sonnenseite der Geschichte; die
Frontstellung des Kalten Kriegs schützte die Bundesrepublik vor
Reparationen und Rache, vor allen tiefgreifenden Konsequenzen eines
Menschheitsverbrechens. Unterdessen stehen die Palästinenser als Opfer der
Geschichte weiter mit leeren Händen da.
Privilegierung verpflichtet ebenso wie Verstrickung. Umso beschämender,
dass j[3][üngst in Berlin sämtliche Veranstaltungen zum Jahrestag der Nakba
vorab verboten wurden] – es gelte Antisemitismus vorzubeugen. Obwohl
rechtsstaatlich dubios, regte sich daran kaum Kritik.
Die linke Palästina-Solidarität früherer Zeiten hat ihrerseits eine
Geschichte von Empathiespaltung, von mangelnder Sensibilität für jüdische
Befürchtungen und Traumata. Heute ist die Zeit, andere Arten von Allianzen
zu bilden und herauszufinden, was eine multiperspektivische Betrachtung in
diesem Fall tatsächlich sein könnte. Dass dies leicht ist, hat niemand
behauptet.
13 Jul 2022
## LINKS
[1] /Pro-Palaestina-Demos-weltweit/!5772473
[2] https://www.dw.com/de/nakba-katastrophe-pal%C3%A4stinenser-israel-pal%C3%A4…
[3] /Palaestina-Demos-in-Berlin/!5766329
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
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