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# taz.de -- Palästinenser*innen in Jordanien: Die ewig Heimatlosen
> Mohamed und Alaa sind in Jordanien geboren und aufgewachsen, fühlen sich
> aber als Palästinenser. Der eine kann nicht zurück, der andere will
> nicht.
Bild: Salhi hat zwei Pässe – eine wirkliche Perspektive bitet keiner von bei…
Amman taz | Wenn Mohamed Salhi über sein Leben nachdenkt, schaut er sich
manchmal eine Bleistiftzeichnung an, die er angefertigt hat. Sie zeigt
einen nackten Mann in einer Glasflasche, seine Hand ragt aus der Enge des
Flaschenhalses. „Das ist mein Leben“, sagt er. „Der stetige Versuch, aus
einem sehr engen Ort hinauszudrängen“.
Ein Leben, das vor 30 Jahren begann: in einem Krankenhaus in Westamman,
Jordanien, „mit einem blauen Pass in der Hand“, wie er erzählt. Salhi hält
vor die Kamera seines Laptops ein Büchlein mit blauem Umschlag, darauf
steht auf Arabisch und Englisch: Syrische Arabische Republik; Reiseausweis
für palästinensische Geflüchtete. Das Dokument weist ihn als Nachkommen
eines palästinensischen Geflüchteten aus Syrien aus. Es verleiht ihm eine
Identität, macht ihn aber nicht zum Staatsbürger.
Salhis Mutter ist eine palästinensische Geflüchtete aus Gaza, sein Vater
ein palästinensischer Geflüchteter aus Syrien. Wie auch in anderen
arabischen Ländern dürfen Mütter in Jordanien ihre Staatsangehörigkeit
nicht vererben. Nicht, dass es ihm viel geholfen hätte: So wie die meisten
Geflüchteten aus Gaza, besitzt Salhis Mutter ebenfalls keine jordanische
Staatsangehörigkeit, sondern lediglich einen Ausweis, den sie regelmäßig
erneuern muss. Die Verlängerung kostet bis zu 200 Dinar, umgerechnet etwa
267 Euro.
Salhi ist in Jordanien geboren, die Staatsbürgerschaft des Königreichs
bleibt ihm jedoch bis heute verwehrt. 2017 hat er ein zweites Dokument
bekommen: den schwarzen Pass der Palästinensischen Autonomiebehörde. Nun
hat Salhi zwei Ausweise – und doch keine richtige Staatsangehörigkeit,
keinen Staat, den er seinen eigenen nennen kann.
## Das Leben als Palästinenser*in ist in Jordanien teurer
„Wenn ich ins Krankenhaus gehe, muss ich in Jordanien so viel bezahlen wie
Ausländer*innen. Das ist für uns sehr teuer“, sagt der 30-Jährige. Dasselbe
gelte etwa für Studiengebühren. Zudem seien manche Berufe
Jordanier*innen vorbehalten, eine Arbeitserlaubnis ist teuer – je nach
Bereich könnten bis zu 2.200 Dinar, etwa 3.000 Euro, fällig werden. Viele
Arbeitgeber wollten sich die Extrakosten nicht leisten, einen legalen Job
zu finden sei schwer.
Auch die Reisefreiheit sei eingeschränkt. Als Kind, als Salhi noch keine
jordanische Aufenthaltserlaubnis hatte, musste er regelmäßig mit Vater und
Schwester nach Syrien ausreisen, dann wieder einreisen, um sein Visum zu
verlängern, erzählt er. Die Familie war immer wieder getrennt. So verpasste
er mehrere Wochen Schule pro Jahr. Doch die ebenfalls
palästinensischstämmigen Lehrer*innen – damals ging er auf eine Schule
im Geflüchtetencamp Marka – hatten Verständnis.
Das [1][Marka-Camp] liegt etwa zehn Kilometer außerhalb Ammans. Gut 56.000
Geflüchtete, etwa ein Viertel von ihnen aus dem Gazastreifen, wohnen hier
auf einem knappen Quadratkilometer. 1968, als das Camp entstand, lebten die
ersten noch in Zelten. Heute sieht es wie ein normales, wenn auch armes,
Stadtviertel aus: enge Gassen zwischen den Wohnhäusern, an manchen bröckelt
der Putz, manche sind von Staub und Smog geschwärzt. In den Gassen spielen
Kinder laut Fangen oder Fußball.
Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen
Osten (UNRWA) betreibt hier zehn Schulen und zwei Gesundheitszentren. Viele
aus dem Gazastreifen haben wie Salhi keine jordanische Staatsangehörigkeit,
sondern nur einen Geflüchteten-Pass und teilen seine Probleme. Erst seit
wenigen Jahren dürfen sie ein Haus oder ein Stück Land besitzen.
## 2,3 Millionen Palästinenser*innen sind in Jordanien registriert
Die UNRWA geht davon aus, dass von den etwa 2,3 Millionen registrierten
palästinensischen Geflüchteten in Jordanien circa 167.000 keine jordanische
Staatsbürgerschaft besitzen, meist stammen sie aus Gaza, 19.000 kommen aus
Syrien. Diese Gruppen seien besonders „vulnerabel, weil sie keinen Zugang
zu vielen staatlichen Dienstleistungen haben“ und auf die Hilfe von UNRWA,
und anderen Organisationen angewiesen seien, erläutert UNRWA-Sprecher Amjad
Obaid.
Die Gründe für diesen Unterschied reichen bis zur Gründung des israelischen
Staates zurück: Als die jordanischen Truppen 1948 im damaligen Palästina
einmarschierten, annektierten sie das Westjordanland.
„Mit dem Staatsbürgerschaftsgesetz von 1954 wurden alle Menschen auf
jordanischem Boden zu jordanischen Staatsbürgern“, erklärt Jawad al-Anani,
ehemaliger jordanischer Außenminister. Das schloss die
Westjordanländer*innen mit ein, ließ jedoch die in Gaza Lebenden außen
vor, da der Küstenstreifen damals unter ägyptischer Kontrolle stand.
Dann kam der Sechstagekrieg, bei dem Israel das Westjordanland eroberte,
und damit neue Flüchtlingswellen. Die von dort Stammenden bekamen später
unterschiedliche Ausweise, je nachdem, ob sie in Jordanien oder dem
Westjordanland ihren Wohnsitz hatten.
## Jordanien soll keine „alternative Heimat“ werden
Nachdem Jordanien jeglichen Anspruch auf die Westbank aufgab und 1994 ein
Friedensabkommen mit Israel abschloss, begannen die jordanischen Behörden,
einigen Palästinenser*innen aus dem Gebiet die jordanische
Staatsangehörigkeit zu entziehen. „Eine Praxis, die aber inzwischen beendet
ist“, hält al-Anani fest.
In der Diskussion um die Staatsangehörigkeit spielt immer wieder die Angst
eine große Rolle: die Angst, dass Jordanien zur „alternativen Heimat“ für
die Palästinenser*innen wird – und man damit auch die
Zwei-Staaten-Lösung aufgibt.
„Weil israelische Politiker, vor allem der rechten Parteien, immer wieder
sagen, Jordanien sei ein alternatives Zuhause für Palästinenser“, sagt
al-Anani. Dafür nutzen sie die Zahlen: Inzwischen hat nach Schätzungen
mindestens die Hälfte der Jordanier*innen palästinensische Vorfahren.
Palästinenser*innen, die in Nachbarstaaten wie Syrien geflohen waren,
blieben ebenfalls oft staatenlos. Als sie später nach Jordanien kamen,
waren sie Geflüchtete, mit wenigen Ausnahmen. [2][Vor allem der Bürgerkrieg
in Syrien hat viele gezwungen, ein weiteres Mal zu fliehen]. Eine doppelte
Vertreibung.
## Salhis Mutter stammt aus Jaffa, sein Vater aus Lydda
Salhi erzählt: Lydda, heute Lod – die Stadt, aus der die Familie seines
Großvaters vor über 70 Jahren vor den israelischen Soldat*innen nach
Damaskus floh – hat er nie gesehen.
Genauso wenig wie [3][Jaffa, die Stadt an der israelischen Küste], die die
Familie seiner Mutter zur selben Zeit auf einem winzigen Boot, überladen
mit Menschen und Möbelstücken, in Richtung Ägypten verließ, bevor sie nach
Gaza umsiedelte. „Palästina ist in meinem Herzen, aber ich darf es nicht
betreten.“ Das sei mit seinem palästinensischen Ausweis nicht erlaubt, sagt
er.
Gerade versucht der Filmemacher und Informatiker, einen Weg ins Ausland zu
finden: „Eigentlich liebe ich Jordanien sehr – wallah – aber ich habe das
Gefühl, dass die Politik nicht will, dass ich dort bleibe. Es ist wie eine
verschmähte Liebe.“
Junge Palästinenser*innen mit jordanischem Pass sind zwar
privilegierter, aber auch sie sind mit den Geschichten einer verlorenen
Heimat aufgewachsen, sind Teil eines Konfliktes, der lange vor ihnen
begann.
## Alaa dürfte ins Westjordanland reisen, will aber nicht
Für Alaa, der hier anders heißen will, ist die Verbindung zum Land seiner
Ahn*innen ein Zehn-Liter-Kanister Olivenöl. Alaa ist in Jordanien
geboren, Sohn eines Palästinensers mit jordanischem Pass und einer
palästinensischen Geflüchteten aus Jenin im Westjordanland. In Jordanien
ist er integriert, arbeitet in der Filmindustrie, hat eine WG, Familie und
Freunde. Doch fragt man ihn nach seiner Identität, antwortet er:
„Palästinenser, Araber, Mensch dieser Welt“.
Er sei im Glauben an sein Recht auf Rückkehr aufgewachsen, mit den Bildern
des Konfliktes, den Toten und den Geschichten über das kleine Dorf seiner
Großväter im Bezirk Tulkarem, Westjordanland, in dem alle einander kannten,
zusammenhielten „in guten und schlechten Zeiten“ und auf den Feldern und
Hügeln Gemüse und Obst anbauten. Eine kleine Idylle.
Diese Idylle, die sich heute in ein 8.000-Einwohner-Dorf verwandelt hat,
hat Alaa nie gesehen. Er könnte es, 150 Kilometer sind es von Amman, knapp
drei Stunden Fahrt, wenn der Verkehr mitspielt.
Dafür braucht er aber ein Visum von Israel. „Damit würden wir die
israelische Besatzung akzeptieren. Damit würde ich als Besucher
zurückgehen. Ich würde bestätigen, dass es ein Land namens Israel gibt und
es das Recht hat, mir eine Erlaubnis zu erteilen, um mein Land zu
besuchen“, sagt er und nimmt einen Zug aus seiner E-Zigarette. Seine
einzige Verbindung zum Land seines Vaters: die Verwandten, die jedes Jahr
nach Jordanien zu Besuch kommen und hausgemachtes Olivenöl aus ihren Hainen
mitbringen.
## „Wir sind ein Volk, nicht zwei“
Hinter der Terrasse, auf der Alaa sitzt, erstreckt sich die Silhouette von
Ostamman, dem historischen, aber ärmeren Stadtteil. Als im April die Lage
auf dem Tempelberg in Jerusalem eskalierte, marschierten Hunderte durch
dessen Straßen, skandierten „Wir sind ein Volk, nicht zwei“, schwenkten
jordanische und palästinensische Flaggen – die sich nur durch einen
zusätzlichen weißen Stern auf der jordanischen unterscheiden.
Unter ihnen befand sich auch Alaa. Er sei wütend, weil die Menschen in
Palästina kaum Rechte hätten, sie könnten nicht Nein sagen, [4][wenn man
ihnen ihre Häuser oder ihr Land nehmen wolle], sagt er. Ob und wann Alaa je
in die alte Heimat seiner Familie fahren wird, weiß er noch nicht. Es wird
noch Zeit brauchen, sagt er. Viel Zeit.
31 May 2022
## LINKS
[1] https://www.unrwa.org/where-we-work/jordan/marka-camp
[2] https://www.statelessness.eu/updates/blog/syrias-palestinians-new-nakba
[3] https://www.972mag.com/wiping-palestinian-history-off-the-map-in-jaffa/
[4] /Konflikt-um-Land-in-Israel-und-Palaestina/!5841653
## AUTOREN
Serena Bilanceri
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