# taz.de -- Gleichberechtigung in Jordanien: Der Kampf um Worte und Rechte | |
> Ein Wort reicht, um eine Massenschlägerei in Jordaniens Parlament | |
> auszulösen: „urduniat“ – Jordanierinnen. Wie Frauen um | |
> Gleichberechtigung kämpfen. | |
Bild: Reem Al-Shammary hat gelernt, sich durchzuboxen. Nun hilft sie anderen Fr… | |
Es sollte eine ganz gewöhnliche Debatte sein, Ende Dezember, im Parlament | |
der jordanischen Hauptstadt Amman. Doch dann genügte ein Wort, und die | |
Sitzung geriet außer Kontrolle: Das Parlament, die „Kuppel“ wie es genannt | |
wird, verwandelte sich in einen Boxring, in dem einige Abgeordnete lieber | |
die Fäuste als ihre Kollegen sprechen ließen. Schreie, Schläge, Gebrüll – | |
eine Szene, die im Fernsehen live übertragen wurde und über die | |
Landesgrenzen hinaus für Spott und Bestürzung sorgte. Das Wort, das den | |
Streit entfachte, war „urduniat“ – Jordanierinnen. | |
Eigentlich ging es dabei um eine Verfassungsänderung, die das Gendern in | |
das zweite Kapitel des Gesetzbuchs einbringen sollte. Eine kleine Änderung, | |
für manche nur eine formeale Angelegenheit. Doch die Rangelei feuerte die | |
Debatte an, um die Rechte der Frauen im haschemitischen Königreich. | |
Hinter der Gesetzesänderung steckt der Wille, die Beteiligung der | |
Jordanierinnen am öffentlichen Leben zu fördern. Denn sie fehlen an | |
mehreren Orten: an den Urnen, auf den Wahlzetteln, aber auch an den | |
Arbeitsplätzen. Lediglich 16 Prozent der Jordanierinnen sind erwerbstätig. | |
Dabei sind jordanische Frauen genauso gut oder gar besser gebildet als | |
Männer, der Anteil der Studentinnen liegt bei über 50 Prozent. | |
Für Journalistin und Aktivistin Rana Husseini gibt mehrere Gründe: fehlende | |
Kitas, die Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt von Frauen, die schwanger | |
sind oder werden könnten, der Gender Pay Gap, aber auch Fälle von sexueller | |
Belästigung am Arbeitsplatz, die laut der Aktivistin noch nicht stark genug | |
bestraft wird. | |
## „Sie warfen ihr vor, ihren Bruder verführt zu haben“ | |
Und doch: Auch die jordanische Gesellschaft hat sich in den vergangenen | |
Jahren gewandelt. Ein Wandel, den Husseini in ihrem jüngsten Buch | |
[1][„Years of Struggle: The Women’s Movement in Jordan“] über die | |
Frauenbewegung im Lande detailliert beschreibt. „Viele Gesetze wurden | |
geändert, neue Denkansätze formuliert“, schreibt sie, „unter anderem auch | |
über die Art, wie die Justiz mit Verbrechen gegen Frauen umgeht“. | |
Das Buch wurde von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegeben, | |
die so wie viele andere internationale Organisationen in Jordanien die | |
Gleichberechtigung fördert. | |
Gewalt gegen Frauen, das ist ein Thema, das Husseini am Herzen liegt. Es | |
war 1994, die heute 53-Jährige war eine junge Reporterin, da stieß sie auf | |
eine Geschichte, die sie nicht mehr losließ: ein 16-jähriges Mädchen, das | |
von einem ihrer Brüder vergewaltigt und vom anderen ermordet wurde. | |
„Sie warfen ihr vor, ihren Bruder verführt zu haben. Für mich war das ein | |
Schock“, sagt Husseini. Damals habe die arabische Presse kaum über solche | |
sogenannten Ehrenmorde berichtet. „Ich wollte die Stimme dieser Frauen | |
sein.“ Und so fing sie an, über jeden Fall zu schreiben, von dem sie | |
erfuhr. Einer nach dem anderen, eine Geschichte trauriger als die nächste. | |
Bis sich etwas zu ändern begann. | |
## Ein Viertel der Ehefrauen erlebt partnerschaftliche Gewalt | |
Husseini lächelt wenig und spricht entschlossen: „Es hat ungefähr zwanzig | |
Jahre gedauert, aber endlich hat sich die Lage gewandelt“. 2016 erließ die | |
jordanische Abteilung für islamisches Recht eine Fatwa – eine | |
Rechtsprechung –, die sogenannte Ehrenmorde verbietet. 2017 änderte das | |
Parlament ein Gesetz, das mildernde Umstände bei Gewalttaten vorsah. 2018 | |
öffnete die Regierung das erste staatliche Frauenhaus in der Hauptstadt. | |
Doch jedes Jahr werden laut Schätzungen von NGOs in Jordanien noch immer 15 | |
bis 20 Frauen von Familienmitgliedern getötet. Laut Daten des jordanischen | |
statistischen Amtes erlebt ein Viertel aller Ehegattinnen Gewalt in der | |
Partnerschaft, Frauen können zudem ihre Staatsangehörigkeit nicht vererben | |
und hängen in vielen Entscheidungen oft von einem männlichen Vormund ab, | |
meistens dem Vater oder Ehemann. | |
Husseini sagt: Es gebe viel zu tun. Ein Satz, dem die | |
Mitarbeiter*innen der Jordanian Women’s Union, eines „führenden | |
arabischen feministischen Vereins“, sicher zustimmen würden. In einem | |
ruhigen Viertel Ammans, umgeben von unscheinbaren Wohnhäusern, betreiben | |
sie das älteste Frauenhaus Jordaniens. Bis zu 30 Frauen können hier Schutz | |
finden. 1999 wurde es gegründet; fünf Jahre nach dem Verbrechen, das | |
Husseini so tief beeinflusste – und fast 20 Jahre bevor das erste | |
staatliche Frauenschutzhaus entstand. | |
Auch hier setzte eine schreckliche Gewalttat alles in Bewegung: eine | |
geschiedene Frau, von ihrer Familie wochenlang im Badezimmer eingesperrt | |
und vom Vater 21-mal angeschossen. „Damals gab es kein Schutzhaus. Man | |
brachte sie zu einer Sozialarbeiterin, nach Hause. Da kam die Idee eines | |
Frauenhauses“, erzählt die heutige Direktorin, Myassar Ismael. | |
## Gefängnis als Schutzmaßnahme | |
Seitdem hat sich einiges geändert, doch die Arbeit des Vereins geht weiter. | |
Nicht ohne Herausforderungen: die Finanzierung, die Pandemie, die eine | |
Zunahme an häuslicher Gewalt herbeiführte. Aber auch Unverständnis, | |
Drohungen und die Arbeit an sich – mit Opfern, die teilweise noch nicht | |
bereit sind, das Gewicht der Freiheit zu schultern. Manchmal kämen die | |
Opfer direkt aus dem Gefängnis, sagt Programmleiterin Najiah al-Zoubi. Denn | |
das Gesetz erlaube, Frauen zu inhaftieren, wenn sie zu Hause in Gefahr | |
sind, um sie zu beschützen. Ein grausames Paradox. | |
Eine Erfahrung, die auch Nour* machte. Die 29-Jährige sitzt in Jeans und | |
Wollpullover auf einem Sofa in einem Raum des Frauenhauses, die Hände auf | |
den Beinen ineinander verschränkt. „Ich hatte ein Problem mit meiner | |
Familie. Sie schlugen mich, sehr viel, seitdem ich sehr jung war“, sagt | |
sie. Dabei wird eine Zahnlücke sichtbar. | |
„Und dann war ich für drei Jahre im Gefängnis.“ Als sie aus ihrem Haus | |
floh, brachte die Polizei sie zurück nach Hause. Nach dem zweiten | |
Fluchtversuch schlief sie im Park, dort missbrauchte man sie. Danach wollte | |
sie nicht mehr nach Hause. Zu stark sei die Scham gewesen. So landete sie | |
in einer Justizvollzugsanstalt, aus der sie erst drei Jahre später | |
herauskommen konnte. | |
Nour hat ein scheues, sanftes Lächeln und leuchtende Augen. „Jetzt bin ich | |
glücklich“, sagt sie. Noch muss sie einige medizinische und psychologische | |
Untersuchungen durchlaufen, doch ein Ziel hat sie bereits: „Ich will Ärztin | |
werden“. | |
## Mit Boxhandschuhen gegen Vorurteile | |
Viele Frauen kämpfen um ihre Rechte, Tag für Tag, Schlag für Schlag. Für | |
einige ist der Kampf mehr als reine Symbolik: Sie steigen direkt in den | |
Ring. So wie Reem al-Shammary, Beduinin und Boxmeisterin, die in ihrer | |
Karriere auch Vorurteile aus dem Weg schlägt. | |
Draußen strömen Menschen in Scharen aus einer Moschee, plaudern und lachen | |
in der lauwarmen Abendluft. Drinnen, im Olympischen Vorbereitungszentrum | |
Ammans, stehen sich zwei Frauen in Hidschab und Trainingsanzug auf einer | |
blauen Matte gegenüber, die Fäuste auf Gesichtshöhe hochgezogen. | |
Al-Shammary, schwarzes Kopftuch und schwarz-weiße Trainingsjacke, hebt die | |
rechte Pratze neben das Gesicht und wartet auf den Schlag ihrer | |
Kontrahentin. | |
Ein Haken, noch mal, noch ein Haken, ausweichen, dann kann al-Shammary die | |
Deckung ihrer Gegnerin durchbrechen, verpasst ihr ein paar seitliche | |
Schläge. Wieder von vorne. Angreifen, wegducken. Hinter den Frauen, | |
verteilt in der Halle, trainieren weitere zwölf Menschen, fast alles | |
Männer. Motivationsschreie hallen nach, es riecht nach Schweiß. | |
In der Sporthalle, in der sich al-Shammary vor zwei Jahren auf die | |
olympischen Qualifikationswettkämpfe vorbereitete, trainiert sie jetzt | |
junge Sportler*innen. „Ich will anderen Frauen dabei helfen, Boxerinnen zu | |
werden“. Al-Shammary geriet vor zwei Jahren in die Schlagzeilen, weil sie | |
als einzige jordanische Boxerin an den olympischen Qualifikationsrunden | |
teilnahm. | |
## Mitglieder des Königshauses unterstützen die Boxerinnen | |
Zwar gibt es in Jordanien seit mehr als fünfzehn Jahren weibliche Boxteams, | |
doch es hat einige Jahre gedauert, bis sie sich auf internationaler Bühne | |
behaupten konnten. Al-Shammary, die nach eigenen Angaben als erste Boxerin | |
Mitglied des Olympischen Vorbereitungszentrums wurde, wollte selbst vor | |
sieben Jahren aufgeben, doch dann, habe Königshausmitglied Prinzessin | |
Zeina sie ermuntert, weiterzumachen. Unter dem hochgekrempelten Ärmel | |
blitzt ein Tattoo durch: „Princess“, eine Hommage an die Frau, die sie | |
damals angespornt hatte. | |
Dabei muss man wissen, dass Frauenrechtler*innen und Sportler*innen | |
im Lande prominente Unterstützende haben. Das erste Boxerinnenteam entstand | |
laut Medienberichten mit dem Segen von Prinz Rashid. [2][Königin Rania | |
selbst setzt sich] seit Jahren für die Teilnahme von Frauen und Mädchen am | |
öffentlichen Leben ein. | |
Doch nicht jeder in Jordanien blickt wohlwollend auf sie. In der | |
beduinischen Gesellschaft, aus der al-Shammary kommt, sind Frauen | |
traditionell Hausfrauen, sie arbeiten in der Viehzucht, werden aber keine | |
Sportlerinnen. „Niemand mochte die Idee“, erinnert sie sich. Menschen | |
schikanierten sie, auch ihre Familie sei anfangs nicht überzeugt gewesen, | |
gab aber nach. Dass sie es geschafft habe, schulde sie ihnen. | |
Dabei trat das Boxen fast beiläufig in al-Shammarys Leben; an der | |
Universität, weil sie ein zusätzliches Fach benötigte und der Boxunterricht | |
rechtzeitig zu Ende war, damit sie um zwei zu Hause sein konnte. Früher | |
wohnte die Familie in der Wüste, [3][im Beduinenzelt]. „Das erste Mal, als | |
ich in den Ring stieg, sagte man mir, ich sei sehr mutig. Aber ich war ein | |
hartes Leben gewohnt“, sagt sie. | |
## Vom Ring in die Politik | |
Inzwischen duelliert sich al-Shammary nicht nur im Ring, sondern auch in | |
der politischen Arena. Ihr Mandat als Mitglied des Rathauses von Jizah nahe | |
Amman ist zwar beendet, doch jetzt bereitet sie sich auf die nächste Wahl | |
vor, diesmal auf nationaler Ebene. Ihr schweben viele Projekte vor, vor | |
allem Frauen wolle sie unterstützen. | |
Ob es Parallelen zwischen den Wettkämpfen und den Ratssitzungen gäbe? „Wenn | |
die Menschen gegen Frauenrechte sind, hätte ich schon Lust zu boxen“, sagt | |
sie mit einem Schmunzeln. Erwähnt man den Schlagabtausch im Parlament, | |
lacht sie. Ja, manchmal fühle man sich in der Politik so, als wäre man | |
immer noch auf dem Ring. | |
6 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://library.fes.de/pdf-files/bueros/amman/18192-20211124.pdf | |
[2] https://www.harpersbazaararabia.com/culture/culture-featured-news/queen-ran… | |
[3] https://www.deutschlandfunk.de/geschichtstraechtige-landschaft-mit-den-bedu… | |
## AUTOREN | |
Serena Bilanceri | |
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