# taz.de -- Siedlungen im Westjordanland: Immer wieder kommen die Bulldozer | |
> Die israelische Regierung will ein palästinensisches Dorf räumen, weil es | |
> sich im militärischen Sperrgebiet befindet. Doch der Widerstand ist groß. | |
Bild: Zerstörungen in Massafer Yatta | |
Sie kriegen mich hier nicht weg, auch wenn sie mich umbringen“, sagt Safa | |
An Jar mit rauer Stimme und klettert in Gummisandalen einige Felsen | |
herunter. Ihr braungebranntes Gesicht und ihre Hände sind faltig von der | |
Sonne, die in den Sommermonaten unerbittlich über der steinigen Wüste | |
südlich von Hebron steht. Den Rest ihres Körpers schützt die | |
Mittsechzigerin mit einem langen Kleid und einem weißen Tuch, das sie sich | |
um den Kopf gewickelten hat. Sie schiebt ein paar schwere Vorhänge zur | |
Seite und gibt den Eingang zu ihrer Höhle frei. | |
An Jars Höhle befindet sich in Masafer Yatta, genauer in Al Markas, einem | |
Weiler mit Höhlen, Zelten und einfachen Steinbauten am südlichen Rand des | |
Westjordanlandes. Das Besondere an diesem Ort: Al Markas wurde Anfang der | |
1980er Jahre mit zwölf weiteren Weilern zur „Feuerzone 918“ erklärt, | |
militärisches Sperrgebiet, in dem auch geschossen werden kann. | |
Die Dörfer in Masafer Yatta sind Gegenstand gerichtlicher | |
Auseinandersetzungen, die sich über Jahrzehnte hingezogen haben und Anfang | |
Mai zu einem Ergebnis kamen, das für internationalen Aufruhr gesorgt hat. | |
Das Oberste Gericht in Israel wies eine Klage der israelischen | |
Menschenrechtsorganisation Association for Civil Rights in Israel (Acri) | |
und Bewohner:innen der Feuerzone als unzulässig zurück. Es kam nicht | |
zur Gerichtsverhandlung. | |
## Die Feuerzone 918 darf bestehen bleiben | |
Die Begründung des Gerichts lautete unter anderem, dass keine ausreichenden | |
Beweise vorgelegt wurden, dass die Bewohner:innen schon in Masafer | |
Yatta gelebt hatten, bevor die Gegend zu militärischem Sperrgebiet erklärt | |
wurde. Shira Livne von Acri hält diese Begründung für absurd. Die Anwälte | |
hatten in der Klage unter anderem Luftaufnahmen von den 1940er Jahren bis | |
heute eingereicht, auf denen Weiler, Viehställe und Anbauflächen an | |
denselben Standorten zu erkennen sind. | |
Doch die Feuerzone 918 darf bestehen bleiben. Die rund 1.300 dort lebenden | |
Palästinenser:innen, die bislang unter dem Schutz einer einstweiligen | |
Verfügung standen, können so jederzeit vom israelischen Militär evakuiert | |
werden. | |
In An Jars Höhle ist es im Sommer angenehm kühl. Fließendes Wasser gibt es | |
nicht. Eine natürlich geformte Mauer in der Mitte teilt die Feuerstelle auf | |
der einen Seite von dem Schlafplatz auf der anderen. Im hinteren Teil sind | |
ein Dutzend Matratzen gestapelt, in der Nacht holt An Jar sie für ihre | |
Familie hervor und verteilt sie auf dem Steinboden. An Jar hat 15 Kinder. | |
„Meine Enkel zähle ich nicht“, sagt sie und lacht. Zehn von ihnen leben mit | |
ihr in der Höhle, die anderen verteilen sich auf die anderen Weiler der | |
Gegend oder wohnen in der wenige Kilometer entfernten Stadt Yatta. | |
Im vergangenen Jahr hatte sie mit ihrer Familie angebaut – ein kleines Haus | |
aus grauen Steinen und einem Blechdach, direkt neben dem Eingang zur Höhle. | |
Es sei angenehm gewesen, sich zum Schlafen auf zwei Räume verteilen zu | |
können, erzählt sie. Doch das israelische Militär habe das Haus im | |
vergangenen Dezember abgerissen. An Jars Familie baute es wieder auf, doch | |
dann kamen die Bulldozer Mitte Mai wieder, wenige Tage nach der Verkündung | |
des Urteils des Obersten Gerichts. Evakuiert wurde bisher niemand. Seitdem | |
schläft An Jars Familie wieder zu elft in der Höhle. | |
Am schlimmsten findet An Jar, dass auch ihr Schafstall zerstört wurde. Sie | |
hatte ihn gerade fertiggestellt, um die Tiere vor Wölfen zu schützen. Die | |
An Jars sind wie fast alle in Masafer Yatta Schäfer:innen. In zwei | |
Blechtöpfen gärt neben der Kochstelle Joghurt vor sich hin, den sie in der | |
Stadt verkaufen wollen, in Yatta oder Hebron. Verlieren sie ihre Schafe, | |
verlieren sie ihre Existenzgrundlage. | |
## Hausabrisse gehören zum Alltag | |
Safa An Jar zog nach ihrer Heirat zu ihrem Mann. Fragt man sie, seit wann | |
der hier lebt, zuckt sie mit den Achseln und winkt mit ihrer Hand ein | |
paarmal über die Schulter. Laut der Kläger:innen liegen Zeugnisse von | |
Schäfer:innen in Masafer Yatta aus den Anfangsjahren des 19. | |
Jahrhunderts vor. Zunächst seien sie saisonal gekommen, doch bald hätten | |
sie sich mit ihren Schafherden dauerhaft niedergelassen. | |
Ob sie Angst vor einer Evakuierung habe? Bei An Jar kommen die Erinnerungen | |
an 1999 hoch. Damals wurden die Bewohner:innen Masafer Yattas schon | |
einmal evakuiert. An Jar kochte gerade die Schafmilch, erinnert sie sich, | |
als das israelische Militär sie und ihre Familie in einen Lastwagen setzte | |
und auf einem Feld außerhalb der Feuerzone absetzte. Die Begründung: Sie | |
lebten illegalerweise in militärischem Sperrgebiet. | |
Sie schlug mit den anderen Evakuierten Zelte in der Nähe des Sperrgebiets | |
auf, kurz danach reichten einige Bewohner:innen gemeinsam mit der NGO | |
Acri ihre erste Petition ein. Eine einstweilige Verfügung erlaubte ihnen, | |
vorerst zurückzukehren und ihr Land zu bewirtschaften – nicht jedoch, | |
Veränderungen an Gebäuden und Häusern vorzunehmen. | |
Seitdem gehören Hausabrisse zum Alltag, und die Anwohner:innen sind zu | |
Meister:innen des Wiederaufbaus geworden. An Jars Familie hat nach der | |
Zerstörung des Schafstalls vor einigen Wochen ein Provisorium aus | |
Maschendrahtzaun, Eisenstangen und Zeltplanen für die Schafe gebaut. Auch | |
der Treffpunkt des Dorfs, der ebenfalls kurz nach dem Gerichtsurteil | |
zerstört wurde, steht fast schon wieder: eine niedrige Mauer, an den Ecken | |
Eisenstangen, eine Zeltplane als Dach. | |
Hier bieten sie den Diplomat:innen, Politiker:innen und | |
Journalist:innen, die derzeit zahlreich in die Wüste zu ihnen kommen, | |
Kaffee an und beantworten ihre Fragen. Begleitet werden viele dieser | |
Delegationen von den israelischen Nichtregierungsorganisationen Breaking | |
the Silence und B’Tselem. Oft ist auch Basel Adra dabei, ein 25-jähriger | |
palästinensischer Aktivist aus Tuwani, einem Dorf in Masafer Yatta | |
außerhalb der Feuerzone. Er hilft bei Übersetzungen – und dabei, den Weg zu | |
den Weilern zu finden. Ohne Ortskenntnis ist es mitunter schwer, die Straße | |
zu identifizieren. Denn der Weg, der durch das militärische Sperrgebiet | |
führt, ist nicht befestigt. Die Erschütterungen auf dem steinigen Boden | |
gehen ins Mark. Nicht zum ersten Mal sieht Adra auf dem Weg nach Al Markas | |
die Fahrer eines Autos in Windeseile einen platten Reifen wechseln. Kurz | |
darauf wirbeln sie Steine und Staub auf und manövrieren sich mit ständig | |
ins Leere drehenden Reifen den Berg hinauf. | |
## Israelische Außenposten werden nicht zerstört | |
„Wir versuchen immer wieder neu, die Straße einzuebnen und befahrbar zu | |
machen“, erzählt Adra. „Doch das israelische Militär kommt in der Regel | |
noch am nächsten Tag und zerstört die Arbeiten.“ | |
Das Leben in Masafer Yatta scheint weit entfernt vom pulsierenden Alltag in | |
Ramallah und Bethlehem, von Nablus und Jenin. Doch für Ori Givati von der | |
Organisation Breaking the Silence ist es wichtig, den großen Zusammenhang | |
zu sehen, der das Leben aller Palästinenser:innen im Westjordanland | |
verbindet. | |
„Mal richtet Israel eine Schießzone ein, mal ist es eine archäologische | |
Stätte oder eine Sicherheitszone“, erklärt Givati. „Und wieder ein anderes | |
Mal greifen Siedler:innen Palästinenser:innen an und die Armee tut | |
nichts.“ In den Augen des ehemaligen Soldaten, der nun Aktivist im Kampf | |
gegen die Besatzung ist, sind das alles Mechanismen mit dem gleichen Ziel: | |
die Palästinenser:innen von ihrem Land zu vertreiben. | |
Givati manövriert den Jeep einen Berg hinunter und zeigt auf die Berge, auf | |
denen kleine Flecken sichtbar sind – sogenannte Außenposten, also | |
israelische Siedlungen, die auch nach israelischem Recht nicht legal sind, | |
häufig aber nach einer Weile legalisiert werden. „Wieso ist die gesamte | |
Feuerzone von Außenposten umgeben, die ebenfalls nach israelischem Recht | |
nicht legal sind, aber die mit fließendem Wasser und Strom versorgt werden? | |
Wieso werden die nicht zerstört?“ | |
## Gefährlicher Präzedenzfall? | |
2012, erklärt Givati weiter, sei die Feuerzone 918 verkleinert worden. Er | |
vermutet, dass der Schritt durchgeführt wurde, weil Siedler einige | |
Außenposten innerhalb der Feuerzone errichtet hatten – mit der | |
Neueinteilung der Feuerzone lagen die Außenposten wieder außerhalb. | |
Das Urteil anfechten können Acri und die Anwohner:innen in der | |
Feuerzone nicht. Doch sie versuchen, ein breiteres Gremium von | |
Richter:innen den Fall diskutieren zu lassen. Denn Acri sieht in dem | |
Urteil einen gefährlichen Präzedenzfall, der das lokale Recht über das | |
internationale stellt – dabei besagt die Genfer Konvention, in dem das | |
humanitäre Völkerrecht geregelt wird, dass in besetzten Gebieten das | |
internationale Recht Vorrang vor dem militärischen Befehlshaber hat. | |
„Mir ist nur eins wichtig: dass wir nicht evakuiert werden“, sagt Safa An | |
Jar. Sie atmet einmal tief durch: „Inshallah.“ Dann läuft sie in ihren | |
Gummisandalen zurück in ihre Höhle. | |
5 Jun 2022 | |
## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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