# taz.de -- Historikerstreit 2.0: Konjunkturen der Erinnerung | |
> Ein Sammelband beleuchtet die blinden Flecken der postkolonialen Theorie. | |
> Er zeigt, warum die Präzedenzlosigkeit der Shoah gut begründet ist. | |
Bild: Schalechet-Installation (Gefallenes Laub) von Menashe Kadishman im Jüdis… | |
Während kürzlich, am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des | |
Holocaust, wieder bekräftigt wurde, die Erinnerung an den Holocaust | |
wachzuhalten und Antisemitismus entgegenzutreten, belegte eine neue Studie | |
des Jüdischen Weltkongresses: Der Antisemitismus ist auf einem Allzeithoch | |
– jeder dritte Mensch unter 25 Jahren in Deutschland denkt antisemitisch. | |
Das legt die Frage nahe, ob all das Erinnern, Gedenken und Mahnen also | |
möglicherweise gar keinen Einfluss auf die Bearbeitung des Antisemitismus | |
hat. In Yasmina Rezas neuem tragikomischen Roman „Serge“ heißt es gar ganz | |
lapidar, von der Erinnerung sei nichts zu erwarten. Im Roman tritt eine | |
französische Familie von Nachfahren ungarischer Holocaust-Opfer eine Reise | |
nach Auschwitz an; zwischen Alltagsgeplänkel und dem mahnenden „Vergesst | |
nicht“ lässt Reza den Ich-Erzähler Jean sagen: „Dieser Fetischismus der | |
Erinnerung ist bloßer Schein.“ | |
Der Politologe Eike Geisel sprach bereits in den 1990ern von der Erinnerung | |
„als höchste[r] Form des Vergessens“. Die deutsche Erinnerungskultur ziele | |
vor allem auf die kollektive Wiedergutwerdung in einem Land, in dem es zwar | |
den Nationalsozialismus, aber keine Nazis gegeben hatte. | |
Wenn also trotz der vielgerühmten deutschen Erinnerungskultur der | |
Antisemitismus sich immer wieder aufs Neue auch unter den Jüngeren | |
einnistet, dient Erinnerung dann lediglich dem nationalen | |
Selbstfindungsprozess? Dann könnte man den Postkolonialist:innen, zugegeben | |
polemisch, getrost empfehlen, sich [1][im Streit um die | |
Aufmerksamkeitsökonomie im Verhältnis zwischen Shoah und kolonialen | |
Verbrechen], den sie losgetreten haben, doch ein wenig zu entspannen. Denn | |
ein Stück vom Erinnerungskuchen macht noch längst keinen Antirassismus. | |
## Es geht um Israel | |
Es geht jedoch nicht allein um Antirassismus. Sosehr notwendig und in jeder | |
Hinsicht unterstützenswert die Aufarbeitung der mörderischen und | |
genozidalen kolonialen Verbrechen ist, um rassistische Kontinuitäten | |
offenzulegen und Machtverhältnisse zu bearbeiten, so wenig braucht es dafür | |
die Relativierung der Shoah zu einer kolonialen Tat. | |
Man muss jedoch nicht erst die Ideologiekritik bemühen, keinen Subtext | |
entschlüsseln, um eine solche Relativierung in der postkolonialen Theorie | |
zu sehen und eine Überdeterminierung zu erkennen, die da lautet: Israel. | |
Zum Beispiel bei Dirk A. Moses, dem australischen Historiker, der im | |
Shoah-Postkolonialismus-Streit mit der These auf sich aufmerksam machte, | |
den Deutschen sei ein nationaler „Katechismus“ verordnet worden, der von | |
selbsternannten „Hohepriestern“ (eine jüdische Figur wohlgemerkt) bewacht | |
werde. Deutsche Eliten instrumentalisieren ihm zufolge den Holocaust, um | |
andere historische Verbrechen auszublenden. | |
## Das Geschrei vom Vergleichsverbot | |
Die Historiker:innen Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille | |
Steinbacher und Dan Diner widersprachen ihm und anderen | |
Postkolonialist:innen in der Debatte und rückten gegen „das Geschrei | |
vom Vergleichsgebot, vom angeblichen ‚Fetisch‘ Einzigartigkeit“ einiges | |
zurecht. | |
Ihre klugen Beiträge, die im letzten Jahr, in der Hochphase der | |
Auseinandersetzung, im sogenannten Historikerstreit 2.0, in verschiedenen | |
Zeitungen erschienen sind, liegen nun gesammelt und teilweise erweitert in | |
einem kleinen Bändchen vor. Es hat den Titel „Ein Verbrechen ohne Namen“, | |
angelehnt an Winston Churchills Aussage angesichts des Ausmaßes der | |
NS-Verbrechen: „A crime without a name“. Ergänzt wurden die Texte durch | |
einen Originalbeitrag von der Leiterin des Fritz-Bauer-Instituts, Sybille | |
Steinbacher. | |
Vorangestellt ist den Texten ein sehr kurzer Beitrag von Jürgen Habermas, | |
in dem er noch einmal erläutert, was die Shoah so präzedenzlos macht: die | |
grundlose und ausnahmslose Auslöschung eines inneren Feindes, der als | |
solcher erst kenntlich gemacht werden musste. Im ersten Historikerstreit | |
1986/87 ging es um Entlastung, heute um eine Verschiebung der Gewichte, so | |
Habermas. | |
Sofort nach Erscheinen meckerte ein FAZ-Redakteur im Duktus von Dirk A. | |
Moses, das Buch liefere nur die Gegenargumente: „Die Argumente muss man | |
erschließen, wie die verschollenen Schriften heidnischer Philosophen aus | |
ihrer Widerlegung durch die Kirchenväter“. Dies muss also nach Meinung des | |
FAZ-Redakteurs der erste Sammelband überhaupt sein, mit dem in eine | |
Diskussion interveniert wird, ohne dass gleich alle Gegenmeinungen | |
abgedruckt werden. | |
## Eine angebliche Provinzialität | |
Dass Israel gemeint ist, wenn Provinzialität der Holocaustforschung gesagt | |
wird, darin sind die Autor:innen des Buches sich einig. Sybille | |
Steinbacher wird in dieser Hinsicht am deutlichsten: „Israel wird in der | |
postkolonialen Forschung nicht selten als koloniales Siedlerprojekt | |
verstanden, seine jüdischen Bewohner als weiße Kolonialherren. Der | |
Holocaust darf also auch deshalb nichts Besonderes sein, weil sich dann – | |
und erst dann – die Legitimität des jüdischen Staates in Frage stellen | |
lässt.“ | |
Verstörend, dass es für all das nicht einmal Israel braucht. Auch in den | |
USA nimmt dieser Diskurs Fahrt auf und Juden gelten in postkolonial | |
inspirierten Kreisen als „white supremacists“. Und das, obwohl sie | |
lediglich zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen, eine Minorität also sind, | |
die bereits von mehr als der Hälfte der religiösen Hassverbrechen betroffen | |
ist. | |
Auch Saul Friedländer weist in seinem Beitrag auf die relativ neuen | |
gewaltsamen Massenausbrüche von Judenhass in den USA hin. Dass in der | |
postkolonialen Theorie die Gründung Israels als koloniale Landnahme | |
beschrieben werde, mache vergessen, dass die meisten jüdischen Einwanderer | |
im Osmanischen Reich Flüchtlinge waren, die vor Antisemitismus flohen. | |
Man könnte an dieser Stelle einen Bogen schlagen zur jüngsten Labelung | |
Israels als Apartheidstaat durch Amnesty International, wollte man die | |
Auswüchse eines postkolonialen Zeitgeistes beschreiben. Das Buch eignet | |
sich nicht nur hervorragend, um sich einen Überblick über die Kernpunkte | |
der Postkolonialismus-Shoah-Diskussion zu verschaffen, sondern hilft auch | |
zu verstehen, wie falsch, geschichtsvergessen und tatsächlich oft auch | |
antisemitisch viele postkolonial inspirierte Schmähungen Israels sind. | |
## Gewaltverbrechen unterscheiden | |
Der Historiker Dan Diner gibt in seinem Beitrag einen kaum zu | |
überschätzenden Impuls und plädiert noch einmal für [2][die notwendige | |
Unterscheidung von Gewaltverbrechen – für die Unterscheidung zwischen | |
Massaker, ethnischer Säuberung und Genozid –] und beobachtet „eine | |
Verschiebung weg vom spezifischen Charakter des Verbrechens“ im juridischen | |
Sinne „hinein in Vorstellungswelten von den zu Opfern gemachten | |
Kollektiven: Eine Verschiebung von der Tat in die Zugehörigkeit“. | |
Dass die Erinnerungskultur niemals abgeschlossen ist, darüber sind sich | |
alle Autor:innen des Buches im Klaren. Den Kolonialverbrechen muss ein | |
größerer Platz im Gedächtnis eingeräumt werden, das ist hier völlig | |
unumstritten. | |
Um keiner Ideologie aufzusitzen, bedarf es jedoch weiterhin der Empirie und | |
der quellennahen Forschung – „um der historischen Aufklärung und der | |
intellektuellen Offenheit willen“, so Steinbacher. | |
Dass jede Gegenwart ihre blinden Flecken hat und erinnerungspolitisch | |
ohnehin einiges in Bewegung ist, es also schwerfalle, den postkolonialen | |
Provinzialitätsvorwurf anzuerkennen, darauf weist Norbert Frei hin und | |
schließt seinen Text mit der sehr klugen Bemerkung: „Und wer die | |
perspektivische Gebundenheit aller historischen Einsicht kennt, der wird | |
nicht glauben, dass die gegenwärtige Konjunktur der postkolonialen | |
Erinnerung einen Endpunkt markiert.“ | |
Kein Endpunkt. Aber ziemlich sicher ein Punkt, an dem mehr Differenzierung | |
eingefordert werden muss. | |
28 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tania Martini | |
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