| # taz.de -- Brics-Vorgänger Bündnisfreie Staaten: Die Welt neu sortiert | |
| > Die Bündnisfreien Staaten riefen in den 1970er Jahren nach einer „Neuen | |
| > Weltwirtschaftsordnung“. Sie waren die Vorgänger der Brics. | |
| Bild: Konferenz der Blockfreien Länder, 5.9.1973, Algier, mit Kurt Waldheim un… | |
| Nur wenige Tage ist es her, [1][dass die Staatschefs der Brics-Länder | |
| während ihres Gipfels in Südafrika erklärten], dass sie auf eine neue, | |
| [2][nicht mehr westlich dominierte Weltordnung] hinarbeiten wollen. Vor | |
| exakt 50 Jahren hatte die Gruppe der Bündnisfreien Staaten, die von | |
| Kommentator:innen heute gerne mit den Brics verglichen wird, schon | |
| einmal zur Schaffung einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ aufgerufen und | |
| damit eine der zentralen globalen Debatten der 1970er Jahre in Gang | |
| gesetzt. | |
| In den Folgejahren verabschiedeten die Vereinten Nationen nicht nur ein | |
| Aktionsprogramm zur Einführung dieser neuen Ordnung. Auch schienen sich die | |
| ökonomischen Machtverhältnisse als Folge der Ölkrise zugunsten des Globalen | |
| Südens zu verschieben. Worum ging es in dieser heute weitgehend in | |
| Vergessenheit geratenen Auseinandersetzung? Warum scheiterte die Initiative | |
| schließlich? Und was bedeutet das für die Brics-Staaten? | |
| Die Bündnisfreien waren ein Produkt des Kalten Krieges. Initiiert durch | |
| Jugoslawien, Ägypten und Indien hatten sich 1961 die Staats- und | |
| Regierungschefs von zunächst 25 Staaten in Belgrad zu ihrem ersten Gipfel | |
| getroffen. Sie wollten weder [3][zum „Westen“] noch zum Sowjetblock | |
| gehören. | |
| Die Blockfreien waren aber auch ein Resultat der Dekolonisierung nach dem | |
| Zweiten Weltkrieg. Denn ihre Mitglieder rekrutierten sich ganz überwiegend | |
| aus den jüngst unabhängig gewordenen Staaten Asiens und Afrikas, und der | |
| Kampf für die Unabhängigkeit der noch kolonial beherrschten Regionen der | |
| Welt war eins ihrer zentralen Themen. | |
| ## Eine „neokoloniale“ Welt | |
| Dieses Ziel war Anfang der 1970er Jahre weitgehend erreicht. Doch zeichnete | |
| sich nun immer deutlicher ab, dass mit der politischen Unabhängigkeit nicht | |
| automatisch wirtschaftliche Entwicklung einhergehen würde. Hatte Ghanas | |
| erster Präsident, Kwame Nkrumah, 1957, im Jahr der Unabhängigkeit seines | |
| Landes, noch prophezeit, dass der ökonomische Aufschwung der politischen | |
| Dekolonisierung automatisch folgen werde, gab er sich einige Jahre später | |
| desillusioniert. | |
| Nun argumentierte er, man lebe in einer „neokolonialen“ Welt, in der die | |
| ehemaligen Kolonien wirtschaftlich noch immer von den westlichen | |
| Industriestaaten abhängig seien. Andere ergänzten, dass die Spielregeln der | |
| globalen Wirtschaft im Westen geschrieben würden und der Globale Süden bei | |
| wichtigen Entscheidungen kaum mitreden könne. | |
| Auch zahlten die Industriestaaten viel zu geringe Preise für die Rohstoffe, | |
| die sie aus den ehemaligen Kolonien importierten. So sei Entwicklung in | |
| Ländern wie Ghana, das vor allem Kakao exportierte, nicht möglich. Der | |
| politischen müsse daher eine ökonomische Dekolonisierung folgen. | |
| ## Radikale Veränderungen gefordert | |
| Um diese ökonomische Dekolonisierung ging es den Bündnisfreien, als sie | |
| sich vor genau 50 Jahren, im September 1973, zu ihrem vierten Gipfel in | |
| Algiers zusammenfanden. Delegationen aus 76 Ländern nahmen an der | |
| gigantischen Konferenz teil, die der algerische Präsident Houari | |
| Boumedienne im Club de Pines vor den Toren der Hauptstadt eröffnete. | |
| In seiner Rede geißelte der Präsident die „Plünderung der nationalen | |
| Ressourcen der afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Länder“, | |
| die dafür sorge, dass der Abstand zwischen armen und reichen Staaten stetig | |
| weiter anwachse. Es gelte nun, radikale Veränderungen durchzusetzen. | |
| Dazu zählten neben den üblichen Forderungen wie der Aufstockung von | |
| Hilfszahlungen, der Vereinfachung von Technologietransfers und der Öffnung | |
| westlicher Märkte für Exporte aus dem Süden auch konfrontative Maßnahmen: | |
| vorneweg die Enteignung von westlichen Unternehmen und die Gründung von | |
| Rohstoffkartellen nach dem Vorbild der Opec. Diese Schritte sollten dazu | |
| dienen, eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“ zu schaffen, womit ein neues | |
| Schlagwort in die Welt gesetzt war, das die Debatten in den kommenden | |
| Jahren prägen sollte. | |
| ## Produktion von Erdöl reduzieren | |
| Dass diese Forderungen in den USA, Japan und Westeuropa nicht einfach | |
| ignoriert wurden, wie es in den Jahren zuvor die Regel war, hing | |
| entscheidend mit der Opec zusammen. Gut einen Monat nach dem Algiersgipfel, | |
| im Oktober 1973, setzte [4][die erste Ölkrise] ein. Im Zuge des | |
| Jom-Kippur-Kriegs, der mit einem Angriff Ägyptens und Syriens auf Israel | |
| begann, entschieden sich die arabischen Ölminister, ein Embargo gegen die | |
| Vereinigten Staaten und die Niederlande zu verhängen und die Produktion von | |
| Erdöl insgesamt zu reduzieren. | |
| Parallel beschloss die Opec, die 1960 gegründete Vereinigung der großen | |
| Ölproduzenten des Globalen Südens, den Ölpreis in zwei Schritten von etwa 3 | |
| Dollar auf 12 Dollar pro Fass anzuheben. Diese Entscheidungen sandten | |
| Schockwellen durch die westlichen Industriestaaten, die sich schlagartig | |
| ihrer ökonomischen Verwundbarkeit bewusst wurden. | |
| Diesen historischen Moment nutzte Boumedienne aus: Er schrieb | |
| UN-Generalsekretär Kurt Waldheim und forderte ihn auf, eine Sondersitzung | |
| der Vereinten Nationen einzuberufen, um über die „internationalen | |
| Wirtschaftsbeziehungen“ zu beraten und ein neues System einzuführen, das | |
| auf der Gleichheit und den gemeinsamen Interessen aller Staaten basiere. | |
| Im April 1974 fand die Sondergeneralversammlung statt, die nach drei Wochen | |
| mit der Verabschiedung einer Deklaration zur Errichtung einer Neuen | |
| Weltwirtschaftsordnung und einem zugehörigen Aktionsprogramm abschloss. | |
| Diese waren ohne Gegenstimmen angenommen worden – und das, obwohl die | |
| Dokumente aus westlicher Sicht zum Teil inakzeptable Forderungen | |
| enthielten, weil sie die Substanz der marktwirtschaftlichen | |
| Weltwirtschaftsordnung angriffen. Es war die Angst vor dem erneuten Einsatz | |
| der „Ölwaffe“, die die westlichen Delegationen vor einer offenen Ablehnung | |
| zurückschrecken ließ. | |
| ## Preiserhöhungen der Opec begrüßt | |
| Auch stellten sich die Staaten der Dritten Welt, wie es damals hieß, | |
| geschlossen hinter die Initiative und verhielten sich damit ganz anders, | |
| als es westliche Diplomaten im Vorfeld erwartet hatten. | |
| In Washington, Paris, London und auch in Bonn war man davon ausgegangen, | |
| dass die vervierfachten Ölpreise, die die Wirtschaft von Indien, Sambia | |
| oder Brasilien stark belasteten, einen Keil zwischen die Opec-Staaten und | |
| die übrigen Öl-armen [5][postkolonialen] Nationen treiben würde. Doch | |
| während der Sondersitzung in New York forderten diese gemeinsam die | |
| Einführung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung, wobei sie die | |
| Preiserhöhungen der Opec als ersten Schritt in die richtige Richtung | |
| begrüßten. | |
| ## Schwund der Solidarität | |
| In den folgenden Jahren sollte die Neue Weltwirtschaftsordnung eines der | |
| zentralen Themen auf der internationalen Agenda sein, über das in | |
| zahlreichen UN-Foren, auf Spezialkonferenzen, aber auch im Rahmen der 1975 | |
| neu geschaffenen G7 diskutiert wurde. Durchgreifende Reformen aber blieben | |
| aus. Das lag auch daran, dass die Beschlüsse der | |
| UN-Sondergeneralversammlung nicht bindend waren. | |
| Als dann Anfang der 1980er Jahre immer deutlicher wurde, wie sehr die | |
| Ölpreissprünge die Ökonomien vieler Staaten im Globalen Süden belastet | |
| hatten, schwand die Solidarität innerhalb der sogenannten Dritten Welt. | |
| Gleichzeitig löste sich die Ölmacht der Opec in Luft auf, weil die | |
| Nachfrage nach ihrem Exportgut einbrach. | |
| Damit fehlten die Grundvoraussetzungen, um den Westen weiterhin an den | |
| Verhandlungstisch zu zwingen, und die Neue Weltwirtschaftsordnung geriet | |
| bald in Vergessenheit. Stattdessen setzte sich durch, was der Historiker | |
| Mark Mazower als „echte Neue Weltwirtschaftsordnung“ bezeichnet – die Ära | |
| der neoliberalen Globalisierung. | |
| Es war in diesem Umfeld, in dem der Aufstieg von [6][Indien] und vor allem | |
| China begann, der die Grundlage für die erneute Herausforderung der | |
| westlich dominierten globalen Ordnung durch die Brics-Staaten ist. Mit der | |
| Betonung der Solidarität des Globalen Südens knüpft die Gruppe, die sich | |
| 2024 unter anderem um Saudi-Arabien, Äthiopien und Argentinien erweitern | |
| wird, an die Rhetorik der 1970er Jahre an. | |
| Was die politische und ökonomische Machtbasis angeht, verfügt Brics aber – | |
| trotz der weit geringeren Mitgliederzahl – über ganz andere Ressourcen als | |
| die damaligen Bündnisfreien, deren Durchsetzungsfähigkeit am Öl hing. Ihre | |
| Herausforderung wird sich, sofern die wachsende Gruppe sich auf gemeinsame | |
| Ziele einigen kann, daher als weit größer erweisen. Denn allein Chinas | |
| Anteil an der globalen Wirtschaft ist heute größer als der aller | |
| Bündnisfreien im Jahr 1973. | |
| 22 Sep 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jonas Kreienbaum | |
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