# taz.de -- Erinnerungskulturen im 21. Jahrhundert: Streifzüge durch das Geden… | |
> „Gewalt und Gedächtnis“ heißt das neue Buch der Historikerin Mirjam | |
> Zadoff. Sie sucht nach gemeinsamen Erzählungen in der globalen | |
> Erinnerung. | |
Bild: Ort der Erinnerung an den Holocaust: Anne-Frank-Haus in Amsterdam, Verste… | |
In nicht unerheblichem Maße stehen die Wahrnehmung und Darstellung der | |
Vergangenheit unter dem Eindruck der jeweiligen Gegenwart. Seit einiger | |
Zeit ist zu beobachten, dass sich die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um | |
die Vergangenheit verlagern. Dem Gedächtnis wird gegenüber der Geschichte | |
zunehmende Bedeutung eingeräumt. Während die Ereignisse selbst in den | |
Hintergrund rücken, drängt die Frage, wie sie erinnert werden, in den | |
Vordergrund. | |
Deutlich wurde dies nicht zuletzt in der mit einiger Lautstärke geführten | |
[1][Kontroverse um das Verhältnis zwischen dem von Deutschland ausgehenden | |
Gewaltgeschehen des Zweiten Weltkriegs mit dem Holocaust als seinem | |
negativen Zentrum und anderen, vornehmlich im kolonialen Raum verorteten | |
Gewalterfahrungen]. | |
Mit ihrem soeben im Hanser Verlag erschienenen Buch „Gewalt und Gedächtnis“ | |
knüpft die Historikerin und Leiterin des NS-Dokumentationszentrums in | |
München, Mirjam Zadoff, nun an diese Debatten an. Sie tut dies weniger im | |
expliziten Dialog mit spezifischen Positionen der zurückliegenden | |
Diskussion als vielmehr auf vermittelte Weise. In je eigenständigen, | |
inhaltlich jedoch miteinander verwobenen Essays spürt sie der | |
Vielgestaltigkeit von Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert nach. | |
Ausgangspunkt der Beiträge sind Recherchereisen der Autorin zu | |
Gedächtnisorten, Museen oder Gedenkstätten in verschiedenen Teilen der Welt | |
und ihre dortigen Begegnungen mit Menschen, die sich auf ganz | |
unterschiedliche Weisen, mal künstlerisch, mal wissenschaftlich oder | |
kuratorisch, mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Mitunter in | |
überraschend persönlichem Stil und erklärtermaßen ohne den Anspruch auf | |
Vollständigkeit unternimmt Zadoff von dort aus Streifzüge in die | |
Gewaltgeschichten derjeweiligen Regionen. | |
## Japan oder Korea | |
So führen die Essays etwa nach Japan, wo die Erinnerung an dessen | |
imperialistische Expansionspolitik auf das Gedenken der Atombombenabwürfe | |
in Hiroshima und Nagasaki trifft oder nach Korea zur dortigen Aufarbeitung | |
von Zwangsprostitution während des Zweiten Weltkriegs; in der | |
kambodschanischen Hauptstadt Phnom Pen beobachtet die Autorin das | |
ambivalente Verhältnis der Bevölkerung zu den Gedächtnisorten des | |
Massenmords der Roten Khmer oder widmet sich von Brüssel aus den Anfängen | |
der europäischen Kolonialgeschichte in Afrika. | |
Den Resonanzraum der insgesamt fünfzehn Kapitel bildet hingegen die | |
Erinnerung an den Holocaust. Knapp die Hälfte der Essays widmet sich | |
dezidiert der [2][Erinnerung an die Vernichtung des europäischen | |
Judentums]. Dabei wendet sich Zadoff wiederum unterschiedlichen Formen der | |
Annäherung an die Vergangenheit zu: von den Arbeiten Avrom Sutzkevers zum | |
Wilnaer Ghetto über das niederländische Anne-Frank-Haus zur Gedenkstätte | |
Binario 21 im Mailänder Hauptbahnhof für die deportierten Juden Italiens. | |
Zweifellos liegt das große Potenzial des Bandes in der Vermittlung zwischen | |
überaus heterogenen sowohl europäischen als auch außereuropäischen | |
Gedächtnisinitiativen. Es kommt immer dann zur Entfaltung, wenn es Zadoff | |
gelingt, die ereignisgeschichtliche Verflechtung zunächst disparat | |
erscheinender Gewalterfahrungen nachzuzeichnen. So zeigt sie zum Beispiel | |
in einem Essay zu Kapstadt und dessen Museen die Überlagerung von jüdischer | |
Immigrations- und Verfolgungsgeschichte, der Apartheid in Südafrika und dem | |
schließlich anhebenden Kampf gegen sie auf. | |
Vornehmlich konzentrieren sich die Essays jedoch auf die Beschreibung | |
gedächtnisgeschichtlicher Initiativen und Arbeiten. Die dort erinnerte | |
Gewaltgeschichte selbst erscheint bisweilen nur als durch sie vermittelte. | |
Historische Verbindungslinien werden meist lediglich kursorisch angedeutet. | |
Nicht die zurückliegenden Ereignisse stehen im Zentrum des Bands, sondern | |
ihre Erinnerung und deren wechselseitige Bezugnahme. | |
## Antworten auf multiple Krisen | |
Denn der Autorin geht es nicht zuletzt darum, im globalen Nachdenken über | |
Vergangenheit gemeinsame Narrative zu identifizieren, aus denen sich | |
Antworten auf die „multiplen Krisen“ der Gegenwart, wie Fluchtbewegungen, | |
Pandemie oder Erderwärmung, entwickeln lassen. Dafür eignen sich in der Tat | |
vielgestaltige und doch verbindende Erzählungen besser als jene, die | |
historische Besonderheiten herausarbeiten und damit letztlich auf die | |
Spannungen zwischen Universellem und Partikularem verweisen. | |
So wird am Ende weniger deutlich, inwiefern multiperspektivisches Erinnern | |
zu einem tieferen Verständnis vergangener Gewalterfahrungen und ihrer | |
Spezifik beitragen kann. Denn in manchen der von Zadoff beschriebenen | |
Beispiele klingt vielmehr an, dass in der ästhetischen oder inhaltlichen | |
erinnerungspolitischen Bezugnahme auf den Holocaust dessen Geschehen und | |
vor allem seine Präzedenzlosigkeit kaum mehr eine Rolle spielt. | |
6 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Lukas Böckmann | |
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