# taz.de -- Forschung zu Anne Franks Tagebuch: Welterfolg, anfangs unverkäufli… | |
> Lektor Thomas Sparr untersucht, wie das Tagebuch von Anne Frank zum | |
> Bestseller wurde. Deutsche Verlage wollten es erst nicht veröffentlichen. | |
Bild: Replik des Tagesbuchs von Anne Frank im Center Ana Frank in Buenos Aires | |
Der Schutzumschlag zeigt deutliche Risse, aber das ist kein Wunder für ein | |
76 Jahre altes Buch. „Het Achterhuis“ lautet der holländische Titel, ins | |
Deutsche übersetzt: das Hinterhaus. Es handelt sich um die Erstausgabe von | |
Anne Franks berühmtem Tagebuch. 12.500 US-Dollar verlangt derzeit ein | |
Antiquar in den Vereinigten Staaten für das Buch, das einmal in immerhin | |
5.000 Exemplaren gedruckt worden ist. Ob dieser Preis obszön ist, mag jeder | |
selbst beurteilen. In jedem Fall spiegelt er die Bedeutung dieses Buches | |
wider. Es ist wohl eines der meistgelesenen Druckwerke der Welt. | |
Das Tagebuch der Anne Frank hat Millionenauflagen erreicht und wurde in | |
Dutzende Sprachen übersetzt. Anne Frank, das jüdische Mädchen, das sich mit | |
seiner Familie vor den Nazis versteckte und 1944 entdeckt wurde, [1][ist in | |
allen fünf Kontinenten populär.] Das Leben des im KZ Bergen-Belsen | |
ermordeten Mädchens und seiner aus Frankfurt am Main stammenden Familie ist | |
minutiös erforscht worden, die [2][Sekundärliteratur über sie dürfte | |
mehrere Regalmeter] umfassen. | |
Jetzt endlich ist ein Buch über Anne Frank erschienen, in dem es nicht um | |
die Person Anne Frank geht. Es ist auch kein Werk über das berühmte | |
Hinterhaus, keines über die Freundinnen von Anne, über ihren Vater Otto, | |
die Familie oder den mutmaßlichen Verräter. | |
## Buch über Tagebuch | |
Dieses Buch widmet sich dem Tagebuch selbst, genauer der vom Vater | |
initiierten Druckausgabe. Geschrieben hat es Thomas Sparr, ehemaliger | |
Cheflektor des Siedler- wie des Suhrkamp-Verlags. Der Schutzumschlag des | |
Buchs ist dem Poesiealbum nachempfunden, das Anne Frank am 12. Juni 1942 zu | |
ihrem 13. Geburtstag geschenkt bekam und in das sie ihre Eintragungen | |
notierte. | |
Sparr kommt zu dem Schluss, dass Anne Franks gedrucktes Tagebuch mit einer | |
„Kette von Misserfolgen, Missverständnissen, Anfechtungen“ begann, hinzu | |
kam die „Niedertracht“ von Ex-Nazis. Nachdem der Vater vom Tod Annes in der | |
KZ-Haft erfahren und das gerettete Tagebuch von Freunden erhalten hatte, | |
entschloss er sich noch 1945 zur Veröffentlichung. | |
Allerdings gab es da schon zwei unterschiedliche Ur-Texte, nämlich das | |
eigentliche Tagebuch (a) und eine von Anne redigierte Fassung (b), letztere | |
war aber unvollständig geblieben. Daraus entstand durch die Redaktion des | |
Vaters und eines Lektors eine der Version (b) ähnelnde dritte Fassung (c). | |
Erst nach längerer Suche fand sich ein eher kleines niederländisches | |
Verlagshaus, das bereit war, das Buch zu drucken – dies wiederum in zwei | |
unterschiedlichen Ausstattungen. Es erschien im Juni 1947 und verkaufte | |
sich von Beginn an gut. Erst 1986 kam im Deutschen eine Version (d) hinzu, | |
bei der die Übersetzerin Mirjam Pressler vor allem auf die Fassung (c) | |
zurückgriff. | |
## Authentizität des Tagebuchs in Zweifel gezogen | |
Ob diese Entstehungsgeschichte dazu beitrug, dass Alt-Nazis die | |
Authentizität des Buchs in Zweifel zogen, mag dahingestellt bleiben. | |
Tatsächlich gab es immer wieder Fälschungsvorwürfe, obwohl Papier, Leim und | |
Schrift akribisch untersucht und für echt befunden wurden. 1959 verklagte | |
Otto Frank einen Lübecker Aktivisten der rechtsradikalen Deutschen | |
Reichspartei wegen übler Nachrede und Verleumdung. 1961, kurz vor dem | |
geplanten Prozessbeginn, einigten sich die Parteien außergerichtlich. | |
Seitdem haben die Lügengeschichten nicht mehr aufgehört. | |
In Deutschland war die Veröffentlichung anfangs auf große Schwierigkeiten | |
gestoßen. Große Hamburger Verlage wie Rowohlt hätten abgelehnt, schreibt | |
Sparr. Kiepenheuer in Weimar erklärte es gar für „ungeeignet“. Das Tagebu… | |
konnte schließlich erst 1950 im kleinen Verlag von Lambert Schneider in | |
Berlin erscheinen, später übernahm es S. Fischer. Erst 1957 folgte eine | |
Lizenz-Ausgabe für die DDR beim Verlag der Ost-CDU. Doch schon im November | |
desselben Jahres waren eine halbe Million deutschsprachige Exemplare | |
verkauft. | |
## Erfolg in den USA ab 1955 | |
Nicht viel anders reagierten die Leser anderswo. In den USA wurde das | |
Tagebuch ab 1955 zum großen Erfolg, In Frankreich erschien es schon 1950, | |
in Großbritannien 1952, in Israel 1953. Selbst in Osteuropa konnte Anne | |
Franks Text mit einer gewissen Verzögerung gedruckt werden. Der Erfolg in | |
Japan war grandios. In Südafrika las Nelson Mandela das Buch in der Haft. | |
Sparrs Buch ist aber keine ermüdende Aufzählung von Auflagenziffern. Er | |
sucht die Geschichten, die sich hinter der Veröffentlichung, oft im | |
Verborgenen abspielen – die Debatte um Vorworte und Rechteinhaber, | |
Bühnenstücke und Verfilmungen. Schließlich geht das Buch auf die Frage ein, | |
wieso dem Tagebuch weltweit ein derartig nachhaltiger Erfolg beschieden | |
ist. Ein Resultat hierbei ist: Die Familie Frank erscheint im Tagebuch gar | |
nicht als jüdisch. Und dass sie verfolgt und größtenteils ermordet werden | |
sollte, übersah die Nachwelt allzu gerne. | |
4 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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