# taz.de -- Diskussion über Erinnerungspolitik: Der absolute Genozid | |
> In welchem Verhältnis stehen Shoah und koloniale Verbrechen zueinander? | |
> Eine Tagung an der TU Berlin versuchte sich an Antworten. | |
Bild: Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau | |
Streiten wollte man sich nicht. Dabei hätte es vielleicht ein produktiver | |
Streit werden können über die sogenannte deutsche Erinnerungskultur, über | |
die seit Monaten diskutiert wird. | |
Das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin (ZfA), zuletzt eher | |
durch großen Einsatz im Bereich des Postkolonialismus aufgefallen, und das | |
Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) hatten zu einer | |
Tagung zum Thema Erinnerungskultur und Zusammenhalt in die TU geladen. | |
Unter dem Titel „Zwischen Singularität und Verflechtungsgeschichte. | |
Erinnerungspolitische Kämpfe um Shoah, Kolonialismus und Bedürfnisse der | |
Gegenwart“ trafen am Montagabend [1][der Historiker Dan Diner], Bénédicte | |
[2][Savoy (internationale Expertin für Kunstraub und Restitutionsberaterin | |
von Emmanuel Macron]) und María do Mar Castro Varela | |
(Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Postkolonialismus) aufeinander. | |
Eine interessante Besetzung, die eine kontroverse Diskussion versprach, | |
aber gleich zu Beginn der Veranstaltung stellte die Leiterin des ZfA | |
Stefanie Schüler-Springorum als Moderatorin des Abends klar, keinen | |
erinnerungspolitischen Kampf ausfechten zu wollen. | |
## Schriller Aktivismus | |
Wie aggressiv die Debatte um das Verhältnis von Holocaust und kolonialer | |
Gewalt und damit um Antisemitismus und Rassismus mittlerweile geführt wird, | |
zeigte auch Schüler-Springorums Erklärung, die „üblichen Schützengräben�… | |
vermeiden zu wollen. Statt wohlfeile Twitterzitate zu produzieren, wolle | |
man das inhaltlich fokussierte Gespräch suchen. | |
Ein Seitenhieb der Moderatorin gegen den [3][australischen postkolonialen | |
Historiker Dirk A. Moses], der im erinnerungspolitischen Umgang mit dem | |
Holocaust einen angeblichen „deutschen Katechismus“ erkennen will, über den | |
selbsternannte „Hohepriester“ wachten? Dessen schriller Aktivismus, der | |
auch von rechten Identitären wie Martin Sellner goutiert wurde, dürfte dem | |
postkolonialen Einsatz jedenfalls eher einen Bärendienst erwiesen haben. | |
Der Historiker Norbert Frei kommentierte Moses in der SZ treffend: | |
„Betrachtet man Moses’ Einwände gegen den angeblichen „Katechismus der | |
Deutschen“ genauer, wird allerdings auch klar, dass es um Verbesserungen – | |
etwa der Bildungsarbeit zur Zeitgeschichte in einer postmigrantischen | |
Gesellschaft – gar nicht geht. Ziel ist vielmehr die Etablierung neuer | |
Regeln: Der Holocaust soll „kontextualisiert“, Antisemitismus soll als | |
bloße Unterform eines allgegenwärtigen Rassismus verstanden werden, und | |
keinesfalls darf weiterhin die Einsicht gelten, dass Antisemitismus sich | |
als Antizionismus verkleiden kann.“ | |
Von Moses grenzte sich am Montagabend auch María do Mar Castro Varela ab – | |
Autorin einer gemeinsam mit Nikita Dhawan verfassten Einführung in die | |
postkoloniale Theorie –, die dessen Polemik unangemessen fand. [4][Michael | |
Rothbergs Vorschlag für eine multidirektionale Erinnerung] mochte sie auch | |
nicht zustimmen. Die komme irgendwie einer Exitstrategie gleich, nach dem | |
Motto „Wir denken irgendwie an alle Opfer“, das funktioniere nicht. | |
Demgegenüber wolle sie die globalen Verflechtungen anschauen, auch zwischen | |
dem, was vergessen gemacht worden sei, und dem, was erinnert werde. | |
## Materielle Erinnerungen | |
Auch Bénédicte Savoy erinnerte an „Techniken des Vergessenmachens“. Die | |
aktuelle Restitutionsdebatte sei schon einmal vor 40 Jahren geführt worden. | |
Sie sei überrascht gewesen von der enormen Gewalt, die in den Museen, den | |
Kellern und Archiven zum Vorschein gekommen sei, als sie begann, sich mit | |
der Restitution von afrikanischen Kulturgütern zu beschäftigen. | |
Materielle Kristallisationspunkte der Erinnerung nennt sie die Objekte. Die | |
Museen würden zu Endlagern von materiellen Erinnerungen. Mit der Rückgabe | |
von 2,5 Tonnen Material nach Benin durch Macron am 9. November sei für sie | |
jedoch ein Durchbruch erreicht: „Wir sind jetzt in einer neuen Ära.“ | |
Castro Valera knüpfte hier an. Auch Edward Saids „Orientalism“, für | |
postkoloniale Theoretiker eine Art Bibel, sei erst 20 Jahre später in | |
Deutschland angekommen. Said möchte darin zeigen, wie ein | |
eurozentristischer Blick auf die arabische Welt und eine tiefe | |
Islamfeindschaft herrschaftskonstituierend wurden. Ein Werk, dessen | |
Wissenschaftlichkeit oft angezweifelt worden ist. | |
## Die Tat ist entscheidend | |
Präziser wurde Dan Diner und brachte das Strafrecht ins Spiel. Die | |
Restitutionsfrage sei eine sehr interessante Frage, weil sie die materielle | |
Seite der Vergangenheit betreffe, aber auch Gedächtnisse hätten einen | |
materialistischen Charakter. Nicht das Gerede über Gedächtnis und | |
Erinnerung sei entscheidend, sondern die Tat selbst. | |
Es gebe keine Richterskala des Leidens, Leiden sei immer absolut, aber es | |
gebe eine Unterscheidung von Tod und Tod, was zwar ethisch schwer | |
verdaulich sei, aber um Gedächtnisdebatten zu verstehen, müsse man in den | |
Abgrund schauen: Was ist das für ein Tod, der erlitten wurde? | |
„Nach innen“ unterscheiden und qualifizieren wir ständig, so Diner, nämli… | |
zwischen Totschlag, Mord etc., aber zwischen unterschiedlichen kollektiven | |
Formen von Tötung zu unterscheiden falle schwer und stoße auf moralische | |
Abwehr. Es beginnen dann die kollektiven Zuordnungen, es kommen die Bilder | |
über die Anderen dazu, die Narrative setzen ein, das Bewusstsein erblindet, | |
so Diner. | |
Die Unterschiede zwischen kollektiv begangenen Gewaltverbrechen sind für | |
Diner evident. Während Savoy sich berührt zeigte von Diners Ausführungen, | |
mahnte Castro Valera, dass in einer zunehmend pluralen Gesellschaft auch | |
Erinnerung sich verändere. Auch Migrant:innen wollten sich ihrer Toten | |
erinnern, auch ihre Traumata vererbten sich über Generationen. | |
## Überall und alle an jedem Ort | |
Wie verbindet man also den universalistischen Anspruch der Gleichheit und | |
Würde aller Menschen mit dem historischen Blick auf unterschiedliche | |
Gewalt, wollte die Moderatorin wissen. | |
Diner wiederholte, das Leiden sei nicht qualifizierbar. Aber auch verbunden | |
mit der Restitutionsfrage trete die eigentliche Tat klar hervor: Nach 1945 | |
stellte man fest, so Diner, dass es Eigentum, aber keine Erben gab: Der | |
absolute Genozid habe erbenloses Eigentum hinterlassen. Da müsse doch etwas | |
in einem rebellieren, fragte er zurück. Alle waren ausgerottet, „also gibt | |
es wohl so etwas wie den absoluten Genozid“. | |
Beinah verzweifelt wirkte sein Rückgriff auf das Wort Endlösung, um | |
verständlich zu machen, worum es in der Shoah doch ging: „überall und alle | |
an jedem Ort!“ Unser Streben nach kollektiver Gleichheit sollte uns nicht | |
daran hindern, die Unterschiede zwischen Massaker, ethnischer Säuberung und | |
absolutem Genozid festzustellen, appellierte er völlig richtig. | |
Statt über Gedächtnis und Erinnerung zu schwafeln, müsse man analog zum | |
innerstaatlichen Strafrecht Begriffe entwickeln, um die Taten zu | |
qualifizieren. Hier stehe man noch immer am Anfang. | |
## Postkoloniale Glaubenssätze | |
Einem jungen Mann im Publikum fehlte in Diners Analyse die Kritik der | |
westlichen Episteme, ihm fiel dazu ein, das Strafrecht als Referenzpunkt | |
für die Unterscheidung der unterschiedlichen Tode sei eine westliche | |
Persepktive, weil in nichtwestlichen Gesellschaften der westliche | |
Täterbegriff nicht unbedingt existiere. | |
Castro Valera wiederholte ermutigt die Grundsätze der postkolonialen | |
Theorie über die desaströsen Folgen einer europäischen Vormachtstellung | |
sowie die Provinzialität, Normen und Zusammenleben nur auf eine bestimmte | |
Weise zu denken. In Anlehnung an die postkoloniale Theoretikerin Gayatri | |
Chakravorty Spivak schlug sie affirmative Sabotage vor – auf | |
epistemologischer Ebene die Mittel des Westens zu nutzen, um sie gegen ihn | |
zu wenden. | |
Dan Diner hingegen begrüßte, dass die unterschiedlichen Gedächtnisse in | |
universeller Absicht beginnen, sich gegenseitig abzugleichen, und | |
insistierte, man müsse bitte stets konkret historisch bleiben, letztlich | |
gehe es um Herrschaft und darum, wie sie sich konstituiert. Man kann nur | |
hoffen, dass wenigstens hinter diesen Punkt niemand zurückwill. | |
Der Abend jedenfalls zeigte: Kein Streit ist auch keine Lösung. | |
25 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Tania Martini | |
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