# taz.de -- Antisemitismus auf der documenta15: Wir machen weiter wie bisher | |
> Man beschäftigt sich lieber mit Antisemitismusvorwürfen statt mit der | |
> Sache selbst: In Berlin wurde über die Documenta 15 diskutiert. | |
Bild: Musste direkt am Anfang der Documenta 15 abgebaut werden: Großbanner des… | |
„Kunstfreiheit als Ausrede? Salonfähiger Antisemitismus und documenta 15“ | |
lautete der Titel einer Tagung des Tikvah Instituts und der | |
Friedrich-Naumann-Stiftung am Wochenende. „Salonfähig“ ist das richtige | |
Adjektiv, zeigte der Eklat um die documenta doch, dass – wie überall in der | |
Gesellschaft – auch im Milieu deutscher Bildungsbürger*innen | |
antisemitische Denkmuster zirkulieren und dass wenig Bereitschaft gezeigt | |
wird, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Das ist verständlich, es ist eine | |
zutiefst menschliche Regung: Was nicht ins Selbstbild passt, wird unter | |
Mobilisierung eines gerüttelt Maß an aggressiver Energie abgewehrt. | |
Schon im ersten Themenblock, in dem ein Résumé zu den Ereignissen und | |
Debatten vor, während und nach der documenta 15 gezogen werden sollte, | |
wurde deutlich, dass die Analyse der strukturellen und institutionellen | |
Bedingungen für die antisemitischen Manifestationen bei der documenta 15 | |
kaum begonnen hat: Die Liste der Probleme ist lang, die Ursachen liegen | |
tief, Problembewusstsein scheint wenig vorhanden. Das Kuratorenkollektiv | |
Ruangrupa wurde derweil von der Kunstzeitschrift ArtReview zum | |
einflussreichsten Player der Kunstwelt erklärt. | |
Jürgen Kaube von der FAZ wies in seinem von feiner Ironie durchzogenen | |
Vortrag darauf hin, dass eine der Bedingungen für die späteren Ereignisse | |
A. Dirk Moses’ Behauptung war, [1][die Deutschen hätten eine Obsession mit | |
ihrer Nazigeschichte]. Eine weitere Behauptung, die später geäußert wurde, | |
lautete, so Kaubes Zusammenfassung, das Wissen über den Holocaust sei eben | |
regional ungleich verteilt. So erklärt sich auch der Titel von Kaubes | |
Input, „Die Regionalisierung des Antisemitismus: Die documenta 15 als | |
Beispiel“. Das angeblich ungleich verteilte Wissen kommentierte Kaube | |
trocken so: „Vom Holocaust dürfte inzwischen jeder gehört haben.“ | |
Die Behauptung des ungleich verteilten Wissens, die sich etwa in der | |
Wendung manifestierte, Menschen im Globalen Süden hätten nun mal ein | |
anderes Verhältnis zu Israel, war ein durchsichtiges Abwehrmanöver. Den | |
globalen Kunstaktivisten ist der Holocaust bekannt. Er soll sich nun aber | |
in die lange Liste von Genoziden einreihen, damit er dem antizionistischen | |
Kampf nicht mehr im Weg steht. So tauchten folgerichtig auf der documenta | |
Poster auf, auf denen es hieß: „Free Palestine from German Guilt.“ | |
## Verwegene Auffassung von Kunst | |
Den wichtigsten Grund für das documenta-Desaster machte Kaube in einer | |
„verwegenen Auffassung von Kunst“ aus. Die Beobachtung, dass dort ein | |
Kunstverständnis herrschte, das Kunst vor allem als Aussage versteht, | |
trifft zu. Sie erklärt aber nicht die verquere Debatte, die sich entspann, | |
als sich das Antisemitismusproblem der Schau auch unter größten | |
Verrenkungen nicht mehr leugnen ließ. | |
Die Reaktionen der Verantwortlichen seien einer bekannten Routine gefolgt, | |
die man auch sonst nach antisemitischen Vorfällen beobachten könne, meint | |
Marina Chernivsky vom Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment. Erst | |
heiße es: Sorry, haben wir nicht gewusst! Dann: Wir machen weiter wie | |
bisher. Es gebe keine ehrliche Einsicht, was im Fall der documenta auch | |
daran liege, dass der Antizionismus als Teil einer progressiven Bewegung | |
ideologisch verfestigt sei. | |
## Kritik von Juden wird ignoriert | |
Ein weiteres Muster benannte Anna Staroselski von der Jüdischen | |
Studierendenunion Deutschland: Kritik von Jüdinnen und Juden werde erstens | |
häufig ignoriert. Man beschäftige sich zweitens lieber mit | |
Antisemitismusvorwürfen statt mit der Sache selbst. Drittens werde | |
Antisemitismus oft kurzerhand zu einem jüdischen Problem erklärt: Es sei | |
natürlich bedauerlich, wenn Jüdinnen und Juden sich „verletzt“ fühlen, | |
heiße es dann. | |
So hatte auch das indonesische Kollektiv Taring Padi reagiert, auf dessen | |
Agit-Prop-Bild nicht nur antisemitische Bildstereotypen in | |
Stürmer-Tradition zu sehen waren. Die Bildaussage des Banners als solche | |
reproduziere eine ideologische Kernaussage des NS-Antisemitismus, wonach es | |
einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen „raffendem“ und „schaffendem | |
Kapital“ gebe, analysierte Lasse Schauder vom Sara Nussbaum Zentrum in | |
Kassel. Als das Werk endlich abgehängt wurde, demonstrierten unter anderem | |
TeilnehmerInnen der documenta 15 dagegen – „Zensur!“ – und skandierten | |
Slogans wie: „From the river to the sea, Palestine will be free.“ | |
## Begrenzte Empathie | |
Ein stabiles Unterfutter an Ressentiments wirke in Deutschland | |
intergenerationell weiter, glaubt Doron Kiesel vom Zentralrat der Juden. Es | |
zeige sich erstens eine Unfähigkeit der Gesellschaft, mit dem schwierigen | |
Thema umzugehen, und zweitens, wie begrenzt die Empathie mit Jüdinnen und | |
Juden sei. Die Mehrheitsgesellschaft müsse endlich erkennen, dass | |
Antisemitismus ihr Problem ist. | |
Die neue Fokussierung auf koloniale Verbrechen Deutschlands kommentiert | |
Kiesel in Gestalt einer rhetorischen Frage: Ist es für Deutsche vielleicht | |
bequemer, sich in ein gesamteuropäisches Versagen einzuordnen? | |
6 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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